Rezension zu Freud lesen

gruppenanalyse. Zeitschrift für gruppenanalytische Psychotherapie, Beratung und Supervision. 22. Jahrgang (2012) Heft 2

Rezension von Angela Schmidt-Bernhardt

Jean-Michel Quinodoz: Freud lesen. Eine chronologische Entdeckungsreise durch sein Werk.

Jean-Michel Quinodoz ist Psychoanalytiker in freier Praxis in Genf und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft fü̈r Psychoanalyse sowie Ehrenmitglied der Britischen Psychoanalytischen Vereinigung. Sein im Jahr 2011 auf Deutsch erschienenes Überblickswerk von nahezu 500 Seiten ist hervorgegangen aus einem Seminar, das der Autor seit 1988 am »Centre de psychanalyse Raymond de Saussure« regelmäßig in Genf leitete. Das besondere Setting des Seminars diente Quinodoz als Grundlage für das vorliegende Werk. In seinem methodischen Ansatz im Seminar verband er die chronologische Perspektive der Einführung in Freuds Werk mit der strukturellen Perspektive.

Um diese Verbindung zwischen Chronologie und Struktur im geschriebenen Text aufrecht zu erhalten, ist jedes Kapitel nach dem folgenden Schema aufgebaut:
Einleitender Text: Jedes Kapitel wird mit einer knappen Einführung als Überblick über den Kapitelinhalt eingeführt.
Biographien und Geschichte: Biographische Aspekte aus dem Leben Freuds, die mit der Entstehung des jeweiligen Werks in Zusammenhang stehen, werden hier erwähnt. Ebenso geht der Autor auf wesentliche historische Ereignisse, die für Leben und Werk Freuds eine Rolle spielten, ein.
Erkundung des Werks: Hier handelt es sich um eine pointierte Zusammenfassung der jeweiligen Hauptaussagen des Textes.
Chronologie der Freudschen Begriffe: Am Ende jedes Kapitels sind die wesentlichen Begriffe der Freudschen Terminologie hintereinander genannt. So ermöglicht der Autor einen Blick auf die Entwicklungsphasen der Freudschen Theoriebildung anhand der Terminologie.
Diachrone Entwicklung der Freudschen Begriffe: Grundlegende Begriffe wie »Ödipuskomplex« oder »Übertragung« werden gesondert in ihrer Veränderung und Entwicklung innerhalb des Freudschen Denkgebäudes dargelegt.
Postfreudianer: Unter dieser Rubrik umreißt Quinodoz jeweils die wesentlichen Weiterentwicklungen der Freudschen Theorien, die in diesem Kapitel erörtert wurden. Er berücksichtigt hier sowohl unmittelbare Schüler als auch Psychoanalytiker der folgenden Jahrzehnte bis in die Gegenwart hinein.
»Die postfreudianischen Entwicklungen zeigen, wie bestimmte, von Freud skizzierte psychoanalytische Termini von der einen oder anderen Denkströmung aufgegriffen und um eigenständige Beiträge bereichert wurden. In diesem Sinne habe ich hier eine internationale Perspektive bevorzugt, mit dem Ziel, so die Vielfalt der gegenwärtigen Strömungen unter Psychoanalytikern, die zu der von Freud gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gehören, zur Geltung zu bringen.« (S. 19).

Von den ersten Schriften über die »Hysterie« im Jahr 1895 bis zu dem Spätwerk über Moses und die monotheistische Religion kurz vor Freuds Tod im Londoner Exil im Jahr 1939 reicht dieses gewichtige Überblickswerk. Unterteilt ist es in drei große Teile:
– Die Entdeckung der Psychoanalyse (1895–1910),
– Die Jahre der Reife (1911–1920),
– Neue Perspektiven (1920–1939).

Eine umfassende Vorstellung der Arbeit von Quinodoz scheint mir kaum möglich. Ich möchte, um Leser und Leserin neugierig auf die Lektüre zu machen, exemplarisch einige Aspekte herausgreifen. Aus dem ersten Teil »Die Entdeckung der Psychoanalyse (1895–1910)« nehme ich den Abschnitt über die Traumdeutung heraus, um Leser und Leserin Quinodoz’ Darstellungsweise zu verdeutlichen. Anhand der beiden Werke »Die Traumdeutung« von 1900 und »Über den Traum« von 1901 erläutert Quinodoz die zu der Zeit völlig neue Sichtweise Freuds, dass der Traum ein eigenständiges Erzeugnis des Träumers ist und der Königsweg zur Erforschung des Unbewussten. Präzise arbeitet er die grundlegenden Aspekte der Traumtheorie heraus: von der Unterscheidung zwischen manifestem und latentem Trauminhalt, über die Mechanismen der Traumarbeit (Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit, Rücksicht auf Verständlichkeit, Dramatisierung) hin zur Rolle der Zensur und der der Symbole. Anschaulich verdeutlicht der Autor, inwiefern die Freudsche Auffassung vom Traumleben bis heute der entscheidende Bezugspunkt für die Psychoanalyse geblieben ist (S. 74).

In der anschließenden diachronen Betrachtung weist er darauf hin, dass Freud seiner Traumtheorie im Laufe seines Lebens im Wesentlichen treu geblieben ist. Allerdings ersetzt Freud im Jahr 1923 den Begriff »Zensor« durch den des »Über-Ichs« und begreift von da an den Traum als Versöhnungsarbeit zwischen den Anforderungen des Es und denen des Über-Ichs (S. 84).

Informativ ist auch der folgende Abschnitt unter dem Stichwort »Postfreudianer« über die Traumdeutung in der heutigen klinischen Praxis: »Während die Psychoanalytiker in den 20er und 30er Jahren dazu neigten, die Traumanalyse in den Vordergrund zu rücken, verschob sich der Schwerpunkt seit den 50er Jahren zunehmend auf die Analyse der Übertragung. [. . .] Mag auch die Zahl der Publikationen, die sich theoretisch mit Träumen auseinandersetzen, zurückgegangen sein, so hat doch die Traumanalyse in der psychoanalytischen Praxis erfreulicherweise nichts von ihrem Wert eingebüßt« (S. 85f.).
Im zweiten Teil »Die Jahre der Reife (1911–1920)« zieht der Autor mit beeindruckender Klarheit immer wieder Bezüge zwischen der Entwicklung der Freudschen Theorie, seinen persönlichen und beruflichen Begegnungen und seinen intensiven Briefwechseln. Plastisch wird so beispielsweise Freuds Entdeckung der Psychose anhand des Falls Daniel Paul Schrebers, seine Entwicklung der analytischen Technik, seine Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Religionen in »Totem und Tabu« in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der psychoanalytischen Anthropologie und seine Aussagen zum Narzissmus. In allen genannten Fällen greift der Autor die von Freud gelegte Spur auf und führt sie kenntnisreich durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Wegbegleitern und Wissenschaftlern wie C.G. Jung oder Ferenczi weiter hin zu den sich verzweigenden postfreudianischen Entwicklungen bis in die Gegenwart hinein.

Im dritten Teil »Neue Perspektiven (1929–1939)« schildert Quinodoz die Wende der 20er Jahre im Denken Freuds (die Theorie des grundlegenden Konflikts zwischen einem Lebens- und einem Todestrieb), geht auf den Triebdualismus in der kleinianischen Technik ein und auf die Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte in der heutigen Psychoanalyse zum Todestrieb. In der Folge von »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) fehlt auch nicht der Bezugspunkt der Gruppenanalyse und der Hinweis auf Foulkes und Bion (S. 336f.).
»Das Ich und das Es« aus dem Jahr 1923 bezeichnet Quinodoz als besonders wichtiges Werk (S. 339), legt Freud doch hierin eine Synthese der Hypothesen vor, die er seit der Wende der 20er Jahre aufgestellt hat. Ab 1923 stellt er das »Ich« als »Regulationsinstanz« der psychischen Phänomene dar, die zwischen den Forderungen des »Es« und des »Über-Ichs« unablässig ein Gleichgewicht finden muss. Quinodoz zeichnet die Entwicklung des »Ich«-Begriffs von Freud über Anna Freud, hin zu Heinz Hartmann und der »Ich-Psychologie« sowie Heinz Kohut und der »Selbstpsychologie«.

Das Werk schließt mit Freuds Spätwerk »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, das Freud im Londoner Exil 1939 kurz vor seinem Tod fertigstellte.
Der umfangreiche Band besticht in vielerlei Hinsicht: Er ist trotz der inhaltlichen Dichte anschaulich und lesbar geschrieben. Der Bezug zwischen Freuds Werk und historischem Kontext ist ebenso interessant wie derjenige zwischen Freuds Werk und seiner Biographie und der zwischen Freuds Werk und der zeitgenössischen Rezeption. Darüber hinaus war für mich persönlich die gebündelte komprimierte Skizzierung der postfreudianischen Entwicklung sehr wertvoll.

Empfohlen sei das vorliegende Buch zum einen denjenigen, die eine Einführung in Freuds Werk und Leben suchen, ehe sie sich in die detaillierte Originallektüre vertiefen, zum anderen denjenigen, die begleitend zur Originallektüre biographische und inhaltliche Zusammenhänge suchen und ebenso denjenigen, die einzelne Aspekte der psychoanalytischen Theorie bei Freud, seinen Zeitgenossen und den nachgeborenen Psychoanalytikern in Entwicklung und Veränderung nachvollziehen wollen.

Angela Schmidt-Bernhardt, Marburg

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