Rezension zu Vater, Mutter, Gott und Krieg (PDF-E-Book)
Analytische Psychologie Heft 170, 43. Jg., 4/2012
Rezension von Robert C. Ware
Tilmann Moser
Vater, Mutter, Gott und Krieg
Hartmut P., ältester Sohn einer kinderreichen, streng
protestantischen Familie in einer kleinen katholischen Gemeinde in
Oberbayern, litt sein Leben lang unter einer dominanten,
gefühlskalten Mutter, einem unterwürfigen Vater und einer
verstörenden Angst vor Gott. Vor über zwanzig Jahren lag er fünf
Jahre lang auf der Couch des Psychoanalytikers Tilmann Moser. Beide
Therapiepartner hatten traumatische frühe Lebenserfahrungen erlebt,
was sie verband und zu zeitweilig starken Identifikationsprozessen
führte. Moser spricht von »Solidaritätsgefühl« (5. 82) und »eine[r]
Art Bruder- oder gar Zwillingsübertragung oder -gegenübertragung«
(S. 119). Kurz vor Ende seiner Therapie übergab Hartmut P. seinem
Analytiker die Texte zweier »Briefe an die Eltern«, die er nach dem
Tode der Eltern »randvoll vor Wut und Scham« (5. 62) geschrieben
hatte. Der sprachmächtige Gymnasiallehrer P. benutzte die bekannte
therapeutische Technik des unabgeschickten Briefes, um in direkter
Rede affektiv wie effektiv seinen ganzen Groll und Hass, seine Wut
und Verachtung gegenüber den verinnerlichten Elternfiguren zur
Sprache zu bringen und aufzukündigen. Für Hartmut P war dies
»forschende Schreibtherapie [...], nicht nur bereits erkannte
kindliche ›Autobiographie‹« (S. 94; Betonung R. W.). »Ich möchte
anders aus diesem Schreiben heraus kommen, als ich hineinging.
Sonst ist es sinnlos.« (S. 95) Jahre nach dem Krebstod des Hartmut
P. entdeckte Moser die liegengebliebene Abschrift der Briefe und
erkannte darin eine »Bedeutung über den Zweck der
Selbstverständigung hinaus«. Er empfand »etwas wie einen Auftrag«,
die Briefe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen (S.
9.). »Warum es mir sinnvoll schien [...], ist die Tatsache, dass
ich es bis heute mit Patienten erlebe, wie viel Anstrengung und
Angst und von meiner Seite Ermutigung es braucht, die wirklich
bösen, gemeinen und rachsüchtigen Gefühle den Eltern gegenüber
rauszulassen: Das magische Denken fürchtet, sie noch real zu
beschädigen, auch wenn sie schon tot sind [...].« (S. 10) Dem
stilistisch überarbeiteten und anonymisierten Text gibt Moser eine
Einleitung (S. 7–22) bei, in der er das Thema Versöhnung und
Aussöhnung mit den Eltern oder Großeltern (»Versöhnung um jeden
Preis?«) sowie Alice Millers sehr unversöhnlichen »harten
Standpunkt« reflektiert. In einem Nachwort blickt Moser »nach zwei
Jahrzehnten veränderter Praxis« zurück und stellt fest: »Ich würde
ihn heute anders behandeln« – ihm mehr Raum zum Ieibhaftigen
Ausdruck seiner Affekte, ihm auch körperlichen Halt und Eingrenzung
für seine archaische Wut geben (5. 119–122).
Die Briefe von Hartmut P. halte ich für ein wichtiges Zeitdokument,
dessen Bedeutung über alle methodischen, therapietechnischen
Überlegungen hinausreicht. In seinem affektvollen verbalen
Eindreschen auf die Eltern verleiht Hartmut P. vielen
zeitgenössischen Menschen Einblick in die Abgründe familiärer
Schicksale in den Folgen von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg
und der erstarrten Symbolik und Praxis eines Christentums, dessen
bestimmendes Gottesbild als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird.
Mit den Worten C. G. Jungs stellt es kein lebendiges Symbol mehr
dar. Mehr noch, es zeitigt die destruktive Wirksamkeit einer
vereinnahmenden, verfolgenden Überich-Gestalt. Wie oft erlebt man
in Psychotherapien, dass solche und ähnliche Konflikte im
Untergrund von seelischer Kränkung, depressivem Verdruss und
neurotischer Angst und Panik schwelen. Auch dürfte es kein Zufall
sein, dass Moser immer wieder von Menschen, so auch Hartmut P.,
nach der Lektüre seiner 1976 erschienenen Gottesvergiftung
aufgesucht wird. Wüten bekommt umso mehr eine paradigmatische
Bedeutung für Kriegskinder und die Kinder und Enkelkinder von
Kriegskind die trotz der »Gnade der späten Geburt« nie die
Gelegenheit und die Gnade erhalten haben, die überkommenen
seelischen »Giftmülldeponien« aufzudecken, durchzuarbeiten und zu
entsorgen. Das Wüten ist dann der zündende Funke von Trauerarbeit
um die existenziellen Verluste, Defizite und Kränkungen des Lebens.
Trauer um nicht gestillte, enttäuschte Liebe ist die treibende
Kraft dieser Aufzeichnungen. Das Schreiben zeugt von einer Liebe,
die nach Befreiung schreit. Für praktizierende
Psychotherapeut/innen ist dieses kleine Büchlein eine große Hilfe
und Ermutigung zur praktischen Auseinandersetzung mit archaischen
Affekten wie Hartmut Ps »Hasswahn« auf seine Eltern.
Was hatte Hartmut P. motiviert, seine »Briefe an die Eltern« dem
Analytiker zur Publikation freizugeben? Moser nimmt an, »dass der
Patient über diese Haltung der Unversöhnlichkeit und aggressiven
Entlarvung der Eltern hinausgewachsen ist und trotzdem dazu steht:
›Ich wäre im Hass fast ertrunken‹.« (S. 18) Ich sehe darüber hinaus
in dem »Auftrag« zur Veröffentlichung den Wunsch des Patienten, in
und mit seiner Herkunft erkannt und anerkannt zu werden. Er will
Vater und Mutter durch alle Wut, Scham, Verachtung und Hass
hindurch in all dem, was sie für ihn waren, was sie geleistet und
nicht geleistet haben, würdigen. Würdigen! Genau das ist es, was
mich bei den Briefen am meisten beeindruckte. Der Text schreit
förmlich in einer Sehnsucht nach Annahme, Anerkennung, Verständnis
und Trost gegen die empfundene brachiale Abwehr von emotionaler
Nähe, Wärme und Halt in einer Herkunftsfamilie zu Zeiten des
Dritten Reiches, des Krieges und der Nachkriegsjahre, des Umbruches
und der kollektiven Verdrängung. Die Briefe enthalten keinerlei
Idealisierung, sie sind bis über die Schmerzgrenze hinaus mit der
nüchternen Realität von »Vater, Mutter, Gott und Krieg« erfüllt.
Mosers Herausgabe ist ein Beitrag zu der nach wie vor dringenden
Aufgabe der Bewältigung der Unfähigkeit zu Trauern. Hartmut Ps
»Wüten« gibt dem oft tief verdrängten Groll der Enttäuschung vieler
Zeitgenossen Gestalt und eine Stimme, vielleicht sogar einen
Sinn.
Robert C. Ware, Kohlberg