Rezension zu Trauma
RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud – Lacan II/2012
Rezension von Moritz Senarclens de Grancy
Rezension der Buchreihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie«, 3
Bde.
FREUD IN ZEITEN DER PSYCHOTHERAPIE
Der psychoanalytische Wortschatz umfasst zahlreiche Begriffe, die
seit Sigmund Freud nachhaltige Änderungen erfuhren. Ein
historisches Wörterbuch der Psychoanalyse könnte Klarheit
schaffen und darüber hinaus die Vorgeschichte psychoanalytischer
Begriffe erhellen. Der Psychosozial-Verlag tritt mit einer
monographischen Fachenzyklopädie psychoanalytischer Begriffe in
Vorleistung, beschränkt sich jedoch auf den Verständnishorizont
der vergesellschafteten Psychoanalyse.
Die Psychoanalyse war und ist wie sonst keine andere
wissenschaftliche Disziplin eine Wissenschaft der Begriffe und
Metaphern ihres Gründungsvaters Sigmund Freud. Dieser hatte sich
seit den 1890er Jahren vorgenommen, zur Erforschung der
menschlichen Seelenzustände einen anspruchsvollen
wissenschaftlichen Diskurs mit eigener Begrifflichkeit zu
entwickeln. In Ermangelung bestehender Begriffe behalf sich Freud
mit Entlehnungen oder Wortneubildungen, die längst schon fester
Bestand der Alltagssprache sind.
Doch haben für die psychoanalytische Theorie selbst zentrale
Begriffe mittlerweile inhaltliche Veränderungen erfahren. Der
Neurose-Begriff etwa gerät unter dem Einfluss der biologischen
Psychiatrie zunehmend in Bedrängnis und wird im aktuellen
Diagnosesystem für psychische Störungen der
Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) als Oberbegriff des Abschnitts
über neurotische Belastungsstörungen geführt. Das
psychoanalytisch ätiologische Verständnis von einem spezifisch
neurotischen Konfliktlösungsmuster tritt bei dieser Festlegung
allerdings in den Hintergrund.
Unter dem Titel »Analyse der Psyche und Psychotherapie« wollen nun
zunächst drei Monographien – ihre Titel lauten »Trauma«,
»Unbewusstes« und »Perversion« – die grundlegenden Konzepte und
Begrifflichkeiten der Psychoanalyse auf dem neuesten Stand der
wissenschaftlichen Diskussion erläutern und zugleich ihre
historische Entwicklung darstellen.
Die Trauma-Monographie von Mathias Hirsch etwa verweist darauf,
dass die Geschichte der Traumakonzepte exemplarisch nachvollzieht,
wie aus einer Theorie des seelischen Apparats die Psychoanalyse als
eine Wissenschaft von der Seele wurde. Beachtlich ist, bis in
welche Feinheiten die psychoanalytisch-empirische Traumaforschung
vorgedrungen ist, so bei der Säuglingsbeobachtung, der
Bindungsforschung oder der generationenübergreifenden Weitergabe
traumatischer Erfahrungen. Analog dazu haben sich auch die
therapeutischen Haltungen ausdifferenziert. Hirschs Darstellung
beschränkt sich dabei auf jene psychoanalytischen Techniken, die
sich in der theoretischen Nachfolge Sándor Ferenczis am
analytischen Beziehungsgeschehen orientieren sowie jene, die
Elemente aus der Kinderanalyse nach Melanie Klein integrieren.
Dabei stehen konkrete Beziehungsmuster und deren reale
destruktiv-traumatisierende Einflüsse im Vordergrund, während der
Aspekt des intrapsychischen Konflikts ausgeblendet wird. Damit legt
der Autor jedoch Freuds Traumakonzept ad acta. Bekanntlich kamen
Freud in den Anfängen seiner Patientenanalysen Zweifel an der
Glaubwürdigkeit der geschilderten Verführungsszenen, so dass er
sich 1897 veranlasst sah, seine zuvor aufgestellte
Verführungstheorie aufzugeben. Freud verschob damit den perzeptiven
Blick in der Analyse von der materiellen auf die innerpsychische
Realität. Denn Freud hatte in den Studien über Hysterie
festgestellt, dass seine Patientinnen an einer »Unverträglichkeit
im Vorstellungsleben« erkrankten, dass Symptome mithin imaginiert
werden konnten. Fortan verlor die detektivische Erforschung
biographischer Tatsachen an Relevanz, während unbewussten Wünschen
und Ängsten für das psychische Geschehen mehr Einfluss eingeräumt
werden musste.
In dieser Positionierung Freuds lag nichts Zynisches seinen
Patientinnen gegenüber, war es doch Freud gewesen, der sie
überhaupt erst ernstgenommen hatte. Die Aufgabe der
Verführungstheorie stellte derweil eine wichtige Vorbedingung für
die Geburt der Psychoanalyse dar, denn dieser Schritt bedeutete die
Unterscheidung zwischen symbolischem Ordnungsgeschehen und dessen
vielen möglichen, individuell bedingten, jedoch weitgehend
unbewussten Sinnzusammenhängen. Diese Differenzierung führt Freud
dann in der Traumdeutung als Trauminhalt und Traumgedanken
begrifflich ein.
Hirsch kümmern diese Zusammenhänge leider zu wenig, vielmehr knüpft
er an die heiklen Frage an, inwieweit psychoanalytische Therapien
zu modifizieren seien, um etwa schwerer gestörte Patienten
behandeln zu können. Heikel deshalb, weil auch ein geringes
Abweichen vom Konzept der strikten Abstinenz und der schwebenden
Aufmerksamkeit aus einer Psychoanalyse sogleich etwas anderes
macht, das Gefahr läuft, auch bei Traumatisierten den Zustand der
Entfremdung neu zu akzentuieren. So fehlt hier die Klarstellung,
dass ein Analytiker im Gegensatz zum Historiker niemals wissen
kann, wie »es« gewesen ist, während er bemüht sein sollte, seinen
Patienten hinter das manifest Erinnerte zurückzubegleiten.
Wolfgang Berner beginnt seine Monographie über Perversionen mit der
Feststellung, dass sich die psychodynamischen Ansichten hierzu
stark verändert haben. Erkenntnistheoretisch stelle sich daher die
Frage, ob diese neuen Erkenntnisse tatsächlich einem Wissenszuwachs
entsprechen oder ob sie schlichtweg die Folge eines veränderten
Blicks sind. Denn möglichst ausdifferenzierte theoretische
Konzepte, dies wird häufig verkannt, sind nicht unbedingt ein
Kriterium für Wissen. Sie können zuweilen den Blick verstellen und
das Denken fehlleiten, während gerade Analytiker eine Eigenschaft
besonders zu pflegen haben, ihre Vergesslichkeit.
Perversionen scheinen derweil so allgegenwärtig geworden zu sein,
dass der Begriff zumindest für Psychiatrie und Psychotherapie kaum
noch sinnvoll erscheint und daher dort auch keine Verwendung mehr
findet. Die Klassifikationssysteme legen dem Kliniker die Begriffe
»Paraphilie« (DSM-IV-TR) und, etwas greifbarer, »Störung der
Sexualpräferenz« (ICD-10) nahe, während die Bezeichnung
»Perversion« sich allein in der Psychoanalyse bewahrt hat. Wer
jedoch glaubt, die Psychoanalyse würde sich infolge ihres
Verhaftetseins an scheinbar überkommenem Begriffsgut nolens volens
aus dem Fachdiskurs ausschließen, irrt, denn es zeigt sich, dass
Psychotherapie und Psychiatrie zwar vordergründig alles
Freudianische abwehren, in Wahrheit jedoch nicht ohne
psychoanalytische Konzepte auskommen. Die Mainstream-Analyse
wiederum bringt kaum den Mut auf, auf ihren Grundüberzeugungen und
Begriffen zu beharren und sucht lieber Anschluss an sogenannte
»moderne« Wissenschaften wie die Neurobiologie, deren Erforschung
des Hirnstoffwechsels beim Menschen auch im Hinblick auf Themen wie
Sexualität, Fühlen, Denken oder Willensfreiheit in den letzten
Jahren für Aufsehen sorgte. Damit einher geht das Risiko einer
Renaturalisierung des Menschheitsbilds, insofern es eine Sichtweise
befördert, nach der für Wohl und Wehe des Menschen die Natur, also
das Körperliche, verantwortlich ist und nicht die
gesellschaftlichen Verhältnisse beziehungsweise das einzelne
Individuum für sich. Wenn Freud den Trieb als »Arbeitsauftrag des
Körpers an die Psyche« definierte, dann wollte er damit zum
Ausdruck geben, dass die Psyche in der Pflicht steht, sich mit
Hilfe von Denkarbeit den Anforderungen des Körpers, für die er
Begriffe wie Libido, Trieb, Lustobjekt und viele andere einsetzte,
zu bemächtigen. Gerade dieser Denkarbeit soll in einer analytischen
Kur ein Ort eröffnet werden. Von gesellschaftlicher Relevanz ist
daher die immer wieder neu zu stellende Frage, bei welchen
körperlich-seelischen Anforderungen eine Gesundheitspolitik
erlaubt, Gegenstand psychoanalytischer oder auch
psychotherapeutischer Gedankenarbeit zu werden. Es ist der Vorzug
von Berners Darstellung der Perversion, hierauf umfassend
einzugehen.
So sehr sich die drei Bände dem Stil ihrer Autoren nach
unterscheiden, haben sie mit Blick auf die vorgestellten
Untersuchungen zu klassischen psychoanalytischen Theorien und
Techniken gemein, die Psychoanalyse im Spiegel der zeitgenössischen
Psychotherapie neu zu finden. Damit ergeht es ihnen wie den
Physikern des europäischen Forschungszentrums Cern bei Genf, die
laufend Daten generieren, während die Ausbeute an neuen Phänomenen
bescheiden bleibt. Handelt es sich denn tatsächlich um eine
hilfreiche Fortentwicklung der Psychoanalyse, wenn die Gödde und
Buchholz in ihrer Monographie »Unbewusstes« darlegen, das
Unbewusste sei eher »horizontal« als »vertikal« zu verstehen?
Sicher lassen manche Formulierungen Freuds, so etwa sein
Eisberg-Vergleich, auf ein hierarchisches Verständnis seiner
Theorie vom Unbewussten schließen, doch sicher nicht im Sinne eines
Über-Unterordnungsverhältnis, denn schon in der Auseinandersetzung
mit Josef Breuer stellt Freud klar, dass das Unbewusste für ihn
nicht etwa »eine niedrige Qualität von Bewusstsein ist«. Und in
»Das Unbewusste« (1915) bezeichnet Freud den Begriff
»Unterbewusstsein« als irreführend und inkorrekt. Den Autoren geht
es vielmehr darum, die Analyse der Beziehungserfahrungen vor dem
Freud’schen Konzept der Triebschicksale in Position zu bringen. Der
Fokus auf den Aspekt der Beziehung erfordere ein horizontales
Verständnis von Unbewusstheit, weil es den vielfachen Resonanzen
des Verstehensprozesses in der therapeutischen Beziehungsgestaltung
besser Rechnung trage. Dies riecht jedoch allzu sehr nach Coaching,
nach Moderation und einem wohlmeinenden Verstehenwollen, welches
die Oberflächenstruktur eines Beziehungsgeschehens nicht ernsthaft
hinter sich lässt.
Unberücksichtigt lässt die neue Reihe derweil die französische
psychoanalytische Schule mit ihrer theoretischen und klinischen
Ausrichtung auf Sprache und Sprechen. Wo sie doch einmal Erwähnung
findet, unterlaufen den Autoren groteske Irrtümer: Nach Gödde und
Buchholz habe der »bedeutende Franzosen« Jacques Lacan darauf
bestanden, »dass die Sprache es sei, die das Unbewusste mitteile«
und adjustieren wie folgt: »Wir können nur die winzige Korrektur
anbringen, dass es das ›Sprechen‹ ist, also die resonante
Konversion zwischen Beteiligten.« Grundsätzlich leidet die Reihe
an ihrer zu unkritischen Ausrichtung an neueren neurobiologischen
Erklärungsmodellen, die eine Renaturalisierung der Psyche und auch
der Psychoanalyse befördert. Welch ein modernistischer Irrtum!
Jene Konzepte, die versuchen, menschliche Phänomene auf die Natur-
und Tierwelt zurückzuführen, übersehen die Relevanz aller
Kulturbildungen für den Menschen, vorrangig seine Fähigkeit zu
Sprache und Sublimierung. Ob ein Individuum als Erwachsener
neurotisch wird oder »normal«, kann aus klassisch
psychoanalytischer Sicht niemals mit einer Stoffwechselstörung des
Gehirns oder Schwankungen im Neurotransmitterhaushalt erklärt
werden. Die Wahrheit, um deren Auffindung es der Psychoanalyse
immer noch gelegen ist, gehört daher ins Unbewusste und nur zu
ihm.
Moritz Senarclens de Grancy