Rezension zu Das Bild in mir

Neues Deutschland vom 24. November 2012

Rezension von Ulrike Schuster

Wagnis einer Spurensuche
Kriegskind Helga Gotschlich erinnert sich

Eine Tochter forscht ihrem Vater nach. Dessen Leben war durch zwei Weltkriege geprägt, 1945 zählte er zu den 1,3 Millionen Vermissten, deren Schicksal ungeklärt war. Jahrzehnte lang verschloss die Tochter, 1938 in Dresden geboren, das romantische Bild ihres »Papa Paul« still in sich, schien sich mit dem Verlust abgefunden zu haben. Bis sie 2005, als pensionierte Historikerin, aus einem Impuls heraus beschließt, sich ihren Erinnerungen zu stellen. Überwältigt von der sich plötzlich ergießenden Flut von Bildern und Szenen beginnt sie, dieses Buch zu schreiben.

So privat der Ansatz von Helga Gotschlich ist, so steht sie doch mit ihrer Erinnerungsarbeit in einem umfassenderen Kontext: Seit rund einem Jahrzehnt befassen sich zunehmend mehr Frauen und Männer aus der Generation der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, also der »Kriegskinder«, mit der Aufarbeitung schmerzhafter Erfahrungen, der Nächte in Bombenkellern, der Flucht durch Feuerstürme, des Elends, Hungers, des Verlusts von Geborgenheit und des zur Normalität gewordenen Grauens. Parallel dazu nehmen sich Historiker, Soziologen, Mediziner des Themas an. Deren Untersuchungen zeigen, dass Kriegsschäden an Leib und Seele von Kindern deren gesamtes Leben beeinflussten. Wie ein interdisziplinäres Projekt der Universität Münster 2010 ergab, fühlen sich 32 Prozent jener »Kriegskinder«-Generation bis in die Gegenwart hinein schwer belastet. Symptomatisch dafür berichtet Helga Gotschlich, die am 13. Februar 1945 durch das brennende Dresden unter Tieffliegerbeschuss flüchtete, dass sie sich bis heute vor Blicken zum Himmel fürchtet – eine mich stark berührende Textstelle.

Auch wenn man die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu kennen glaubt, zieht dieses Buch vom ersten Kapitel an in Bann, weil die Autorin ihr Kindheitsmosaik beeindruckend plastisch und detailliert entwickelt. Dazu gehört das riesige Hakenkreuzbanner auf dem Pillnitzer Schlosshof, ein Würfelspiel namens »Wir fahren gegen Engeland«, ebenso jener Granatsplitter, den der Vater, Leutnant der Panzertruppen, den Töchtern als Kriegssouvenir mitbringt. Man sieht das Kind Helga beim »Bombenwerfen«, einem von der älteren Freundin Gitte erdachten Spiel, bei dem Geräusche von Bomben- und Sturzkampfflugzeugen nachgeahmt und »Brandbomben« mit Buddelsand und Gartenschlauch gelöscht werden. Helga findet dieses Spiel »ulkig« und freut sich über Gittes Lob, ein »tapferes deutsches Mädel« zu sein. Der Leser denkt schaudernd, wie rasch für die Dresdnerin aus dem »Ulk« grausame Realität wurde.

Neben die sich erinnernde Tochter tritt im Verlaufe des Buches dann die Historikerin, die dem Leser zusätzliche Fakten an die Hand gibt, Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung. Damit gewinnt der Text an Tiefenschärfe. Weit über die eigene Erinnerung hinausgehend unternimmt Helga Gotschlich das »Wagnis einer Spurensuche nach meinem Vater, der in zurückliegenden Zeiten meines Lebens abwesend und doch anwesend gewesen war«.

Helga Gotschlich: Das Bild in mir. Ein Kriegskind folgt den Spuren seines Vaters. Psychosozial-Verlag. 439 S., br., 29,90 €

Ulrike Schuster


www.neues-deutschland.de

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