Rezension zu Richard Wagner: Die Walküre
Die Tonkunst, Nr. 4 Jg. 6 (2012)
Rezension von Jürgen Oberschmidt
Bernd Oberhoff
Richard Wagner: Das Rheingold; Die Walküre; Siegfried;
Götterdämmerung
Ein psychoanalytischer Opernführer (vier Bände)
»Das rätselhafteste Kunstgebilde der letzten Jahrtausende!« So
bezeichnete Gerhard Hauptmann das opus magnum Richard Wagners, und
wer sich hier an umfassenden Deutungen und Sinnzuschreibungen
versuchen möchte, kann es nur den Rheintöchtern gleichtun,
nämlich schwimmen und baden gehen. Die Wagnerexegese ist
unüberschaubar, neben dem klassischen Antagonismus von Liebe und
Macht, neben politischen, philosophischen, psychoanalytischen
Anknüpfungspunkten gibt es viele weitere, und stets tragen diese
die Spuren ihrer Betrachter: Der Jurist Eberhard Erwin Wieser
diskutiert die zivilrechtliche Seite der Tetralogie (Festschrift
Erwin Stein, Bad Homburg 1983). Die unter dem Pseudonym Ernst von
Pidde veröffentlichte Satire deckt in parodistischer Darstellung
die Verbrechen schwersten Kalibers auf und lässt dabei kaum einen
der Ring-Akteure ungeschoren davonkommen. Wagners Enkel Franz
Wilhelm Beidler, langjähriger Mitarbeiter Leo Kestenbergs, sieht
in Wagner einen sozialrevolutionären Dichterkomponisten,
vergleicht die Werkstätten Niebelheims mit den komplexen
Schachtanlagen und Hüttenwerken des Ruhrgebiets und möchte hier
erkennen, wie sich die Götter als »herrschende Gewalten« im
»kapitalistischen Gestrüpp« verstricken – eine aktuellere Lesart
über das Werden und Vergehen soziokultureller Ordnungen, der
Götterdämmerung unseres europäischen Finanzsystems, werden
sicher bald in Inszenierungen auf jenen Brettern zu sehen sein, die
die Welt bedeuten.
Wie steigt nun Bernd Oberhoff, Dipl.-Psychologe und
Psychoanalytiker, in die Ringthematik, in die »Urfrühe
menschlichen Daseins« (RG, S. 9) hinab, in jenes mythische
Geschehen, das dort seinen Ausgang nimmt, wo die bewusste
Erinnerung noch nicht eingesetzt hat? Das Zusammenwirken von Musik
und Psychoanalyse ist stets ein besonderes und wäre eigentlich
eine eigene Betrachtung wert. Auch wenn sich Sigmund Freud
bezüglich der Musik als »nahezu genussunfähig« bezeichnete, übt
die eindringliche Wirkung einer Sprache der Gefühle seit jeher
eine große Faszination auf Psychoanalytiker aus, die sich mit Blick
auf die eigene musikalische Kompetenz und der vermeintlich
eingeschränkten Erlebnisfähigkeit einer Musik oft nur mit selbst
verordneter Vorsicht nähern. Hier sei nur auf die inzwischen
zahlreichen Publikationen hingewiesen, die im Anschluss an die
Tagungen der Deutschen Gesellschaft Psychoanalyse und Musik im
Psychosozial-Verlag erschienen sind. Die Nähe der Musik zu
seelischen Prozessen wird jedoch auch von der anderen, der
musikwissenschaftlichen Seite beleuchtet: Erinnert sei hier an die
psychoanalytischen Betrachtungen von
Siegmund-Freud-Kulturpreis-Träger Dieter Schnebel, etwa an die
nachgezeichneten Lebenslinien Robert Schumanns im groß angelegten
Essay Rückungen – Verrückungen (Musik-Konzepte, Sonderband
Schumann I, München 1981), der wohl ebenso in einer
psychoanalytischen Zeitschrift hätte erscheinen können.
Vielleicht müsste hier ein intensiverer Dialog gesucht werden, der
musikanalytischen Sachverstand und die Professionalität der
Psychoanalyse noch gezielter zusammenführt.
Nähert sich der Rezensent nun der Lektüre der zu besprechenden
vier Opernführer, fasst er einige Vorsätze: Er legt die
musikwissenschaftliche Brille ab, die es gebieten würde, einen
vermuteten Gehalt an einen ausgemachten musikalischen Sinn
anzubinden und Deutungen vorbehaltlos durch den Notentext zu
belegen. Er lässt hingegen seinen Blick auf Wagners Ring durch den
ausgewiesenen Fachmann in einem fremden Metier erweitern, er
genießt das kurzweilige, vergnügliche Leseabenteuer, versehen mit
einem Hauch von versteckter Ironie, und versenkt sich gern in diese
neuen Sichtweisen. Diese Lesarten der subjektiv gefassten
Annäherungen bereichern die bisherige Auseinandersetzung des
Rezensenten mit dem unendlichen Kosmos des Rings, sie wecken in ihm
einen neuen Blick auf das, was sich bisher bizarr, gar
widersprüchlich entgegengestellt hat. Der Rezensent liest in den
aufgesuchten Analogien zwischen der seelischen Verfasstheit eines
Künstlers, dem Stoff seiner Werke, der durchaus neuartigen
Entschlüsselung der Leitmotive und dem Blick des forschenden
Psychoanalytikers in die unergründlichen Tiefen der handelnden
Protagonisten keine festgeschnürten kausalen Beziehungen, die der
Komplexität der Ringthematik ohnehin nicht entsprechen können –
auch wenn der Autor stets auf der Suche ist, seine Lesarten auch am
musikalischen Text nachzugehen und schlüssig zu begründen.
Wagners Ausflug in die prähistorische Menschheitsgeschichte wird
gedeutet als ein entwicklungspsychologisches Drama, als eine
»Heldenreise des frühen Ichs« (Klappentext) mit den vier
»Ich-Protagonisten [...] Wotan, Siegmund, Brünnhilde und
Siegfried« (SI, S. 10). So ließe sich der Inhalt dieser vier
Opernführer auf einem Bierdeckel zusammenfassen.
Grenzunsicherheiten, die für die frühkindliche Erlebniswelt
charakteristisch sind, finden sich demnach innerhalb des gesamten
Geflechts der Wotan-Familie: Die Protagonisten oszillieren zwischen
sich äußerlich gebärdenden Personen und inneren Selbstanteilen
Wotans (SI, S. 12). Wagner entwickelt »phantasmatische
Kindheitsdramen« (RH, S. 13), die er von erwachsenen Protagonisten
spielen lässt: »So muss auch Wagner den Weg über den Mythos gehen
und die uns alle betreffenden frühkindlichen Erfahrungen so
entfremden, dass sie dem Zuschauer wie seltsame, ferne
Begebenheiten erscheinen, die mit den eigenen Lebenserfahrungen
nichts zu tun haben. Das ist die Brechung, die im künstlerischen
Ausdruck unbewusster lebensgeschichtlicher Prozesse erfolgt« (RH,
S. 14).
Im »Es«, der ältesten der psychischen Provinz des Menschen
(Freud), dort, wo alles begann, lässt Wagner sein Rheingold mit
der Unterwasserwelt des Rheins beginnen, eine »unwandelbare
Urweltharmonie« (RH, S. 20), ein »intraauterines Pränatalleben«
(Grunberger), sinnfälliger Weise in Es-Dur, ein paradiesischer
Urzustand jenseits aller Konflikthaftigkeit (RH, S. 22). Es folgt
die narzisstische Wunde, Alberich »erleidet das Trauma der
verlorenen Allmacht« (RH, S. 27). Ausgesetzt den »unbarmherzigen
Überstimulierungsaktionen« (RH, S. 31) der Rheintöchter, kündigt
er die Urharmonie mit der Mutter auf: »Aus jener Körperhöhle, in
der vor Kurzem noch er selbst das Goldschätzchen war, werden in
einem (fantasierten) aggressiven Akt die jetzt dort befindlichen
Goldschätzchen wie auch alle anderen vermuteten Kostbarkeiten
herausgerissen und sich einverleibt« (RH, S. 38). Der Abstieg nach
Nibelheim ist ein Abstieg ins »Körper-Ich und speziell in die
somatosensorischen und somatomotorischen Vorgänge der unteren
Körperregionen« (RH, S. 72), angesprochen wird hier jene Zeit der
frühkindlichen Entwicklung, in der die Tätigkeiten des Darms zu
Sinnbildern prägender Lebenserfahrungen werden. Es folgt eine
Leitmotivanalyse, die Alberichs Ausflug in das unterirdische
Nibelheim als eine Begegnung mit dem Verdauungsapparat erscheinen
lässt: Geprägt vom Anhäufen und Zerkleinern wird das
Schmiedemotiv gedeutet als »Motiv der analen Entwertung oder
Fäkalisierungsmotiv« (RH, S. 80). Übrig bleibt der Ring als
Herrschaftsinstrument »am Ausgang des Anus: der Sphinkterring« (RH,
S. 81), der als Symbol für die Trennung von der Mutter verstanden
wird, verbunden mit der Zerstörung und Vernichtung der Urharmonie,
die dem Kind erstmals die Möglichkeit gibt, sich der Mutter zu
widersetzen.
Die Ur-Wala wird von Oberhoff verstanden als eine »innerpsychische
Gestalt, eine archaische Mutter-Imago«, die sich »machtvoll in
Wotans Lebensentscheidungen einmischt« (RH, S. 116). Wotan spürt
den Drang, seiner Mutter in die Tiefe zu folgen und gleichsam den
Wunsch, zu einer selbstständigen Persönlichkeit zu reifen: Die
Mutter begegnet den Separationsversuchen misstrauisch, verteufelt
den Ring als Werkzeug des Bösen, Wotan ist dieser Macht erlegen,
fasst den folgenschweren Entschluss, sich vom Ring zu trennen, was
die Unterdrückung aggressiver Triebregungen, des Erlebens von
Schuld nach sich zieht: »Anstatt das Kind auf dem Weg in die
Selbstständigkeit zu unterstützen, wird von dieser Mutter ein
Individuationsverbot ausgesprochen, das Wotan in ein unlösbares
Dilemma stürzt« (RH, S. 123). So sind es das Alberich-Ich und das
Wotan-Ich, die sich im Rheingold den frühkindlichen
Herausforderungen stellen mussten.
Das noch unreife Ich Wotans wird von der verdrängten Schuld
verfolgt: Innere Schuldgefühle werden zu äußeren, die nun in der
Walküre von der nachfolgenden Generation weiter getragen werden.
Die Besitznahme des väterlichen Phallus geschieht in Form des
Schwertes. Dieses ist »fest verklebt mit jener unbewältigten
schweren Schuld Wotans« (WA, S. 84), ein Symbol, das Stärke
vermittelt. Dieser neue »Reifezustand auf dem Weg zu einem stabilen
Selbst« (WA, S. 47) ist verbunden mit dem unbewussten Auftrag, die
Schuld des Vaters weiter zu tragen. Was sich dann im grausamen und
Siegmunds Tod billigendem Verhalten Wotans vollzieht, erfährt eine
genauere Betrachtung als inter- bzw. intrapsychischen Akt: »Wir
erleben eine Schulddeligierung vom Vater auf den Sohn mittels
projektiver Implantierung« (WA, S. 84). In den Baumstamm, Symbol
für den Mutterleib, wird Wotans Schuld hineingestoßen und in die
Psyche des neuen Besitzers eingepflanzt, ein Teil des
untergegangennen Ichs wird nun in Sieglindes Leib weiterleben.
Deutlich wird, dass in der Wotansfamilie Therapiebedarf besteht:
Wotan ist selbst von einer »Introjektpathologie heimgesucht«, im
»Inneren hat sich ein malignes Mutter-Introjekt festgesetzt«, das
als machtvolles »grausames Fricka-Ich« (WA, S. 134) nach außen
getragen wird: »Und auch zwischen Vater und Tochter erleben wir
eine pathologische Grenzstörung, da Brünnhilde in ihrem Innern
Wotans externalisierten Willen beherbergt. Die Beziehung Wotans zu
seiner Lieblingswalküre ist im Grunde eine psychische
Missbrauchsbeziehung, da es zu Brünnhildes töchterlicher Pflicht
gehört, durch strikten Gehorsam dafür zu sorgen, dass des Vaters
ungelöste innere Konflikte ruhiggestellt bleiben« (WA, S.
135).
In Siegfried, der durch den Verlust des Vaters und der Mutter bei
seiner Geburt ein doppeltes Trauma erlitten hat, lebt nun der Kampf
gegen den väterlichen Phallus fort, mit seiner selbstgeschmiedeten
allmächtigen Wunderwaffe vollbringt er große Taten, die sich als
»kastrierende Attacken gegen das väterliche Genitale« (SI, S. 130)
entpuppen: »Es ist eine Tragik, dass Siegfried kein gutes Vaterbild
aufbauen konnte« (SI, S. 70). Gegen alles Väterliche zu Felde
ziehend, richtet er es zunächst gegen den Schwanz des Drachens,
dann gegen seinen Ziehvater, letztlich gegen den Speer Wotans. Der
Umgang mit seinen Opfern »verläuft nach dem Muster der Verdauung
mit dem Endziel der Fäkalisierung und Ausscheidung« (Grunberger,
nach SI S. 82). Mime landet wie ein Stück Abfall in der Höhle,
Fafners Überreste werden zur Abdichtung verwendet, was Siegfried
jedoch nicht von allen Finsternissen befreit: »Die Macht der
Wiederkehr des Verdrängten ist auch durch gigantische
Dichtungsmassen nicht außer Kraft zu setzen« (SI, S. 83).
Auch in der Götterdämmerung vermag es Brünnhilde nicht, ein
stabiles Ich aufzubauen, sie kann keine eigenen Gefühle
entwickeln, versucht vergeblich, eigene Schritte in die Autonomie
zu wagen, kehrt als kleine Tochter zurück, was sich für die
eigene Individualisierung als äußerst fatal erweist: Ur-Walas
Tochter musste zum Schluss erkennen, dass die vermeintlich ihrem
eigenen Willen entsprungene persönliche Rache an Siegfried, nichts
anderes war, als die Ausführung des Willens des Vaters« (GÖ, S.
107). Diese körperliche Vernichtung bringt letztlich die Grenzen
zum Verschwinden, es folgt eine Rückkehr zum reinen Urzustand, zum
»reinen Narzissmus« (Grunberger, GÖ, S. 112): »Das narzisstische
Streben nach Reinheit braucht eine Apokalypse« (GÖ, S. 113). Weder
Brünnhilde noch Siegfried ist es gelungen, eine tragfähige
Beziehung aufzubauen, die irdischen Erfordernissen standhält:
»Beide Protagonisten sind an dieser Aufgabe gescheitert, vor allem
deswegen, weil sie wichtige Schritte der Ichentwicklung nicht
gemeistert und keinen Zugang zu ihrer inneren Realität gefunden
haben. So bleibt am Ende als Ausweg nur der ›lachende Tod‹, der
Abschied aus dieser Welt und die vage Hoffnung, vielleicht in der
jenseitigen Welt das vorenthaltende Glück zu erfahren.« (GÖ, S.
123).
Bleibt die Frage, warum der Rezensent Gefallen gefunden hat, sich
in die Lesarten hineinzulesen, den ausgebreiteten
Inhaltszusammenfassungen, Einschüben und punktuellen Rückbezügen
zu folgen, über musikpsychoanalytische Analysen, den
ausführlichen Anknüpfungen an »phantasmatischen Kindheitsdramen«
(RG, S. 13) zu staunen, die eine tiefe, versteckte und bisher
verschlossene Sinnebene ans Licht bringen? Vielleicht gibt der
Autor hier die Antwort selbst, ganz am Ende der 541-seitigen
Lektüre: »Weil wir alle die frühkindlichen Entwicklungsaufgaben
nicht unbeschadet überstanden und nicht alle perfekt gemeistert
haben und aufgrund dessen zu Formen der Kompensation und der
psychischen Abwehren Zuflucht genommen haben, die denjenigen der
Protagonisten des Rings nicht unähnlich sind. Was uns dann beim
Anschauen des Rings so angenehm beruhigt, ist die Tatsache, dass
unsere Not und unser Scheitern in der Regel nicht ganz so
dramatisch ausgefallen sind, wie jenes der Wagnerschen Helden«
(GÖ, S. 118).