Rezension zu Intersexualität kontrovers
Dr. med. Mabuse Nr. 200
Rezension von Marion A. Hulverscheidt
Katinka Schweizer, Hertha Richter-Appelt (Hrsg.)
Intersexualität kontrovers
Grundlagen, Erfahrungen, Positionen
Ein Handbuch zum Thema Intersexualität – endlich! Diese
umfangreiche, über 500 Seiten starke und trotzdem gut lesbare
Publikation füllt eine Lücke, die seit den 1990ern spürbar wurde.
Hier wird nicht nur über Intersexuelle geschrieben, sondern sie
selbst und auch ihre Eltern kommen zu Wort. Das gesellschaftliche
Denken hinsichtlich des Geschlechts wird so aufgelöst, ebenso die
Dichotomie zwischen Laien und Experten, zwischen Arzt und Patient.
Denn Intersexuelle haben mithilfe des Internets gezeigt, dass die
Experten für Intersexualität sie selbst sind, nicht Ärzte, die von
diesen »Geburtsfehlern« kaum etwas in Studium und weitergehender
Ausbildung hören.
Den Herausgeberinnen ist es auf herausragende Weise gelungen, die
Eigen- und Fremdeinschätzung und -positionierung in möglichst
vielen, auch kontroversen Facetten zu versammeln. Somit gibt dieser
Band neben Grundlagenwissen auch differenzierte Einblicke in die
kontroversen Positionen im medizinischen, juristischen und
gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen. Auch Einsteiger werden
gut in das Thema und dessen komplexe Probleme eingeführt.
Diejenigen, die sich schon länger mit der Thematik
auseinandersetzen, erhalten durch die am Hamburger Institut für
Sexualforschung gewonnenen Forschungsergebnisse einer groß
angelegten Befragung von Intersexuellen einen tieferen Einblick in
die sich verändernde Diskussion. Und auch ein internationaler
Vergleich findet statt, denn auch Beiträge von australischen Ärzten
und Experten sind hier zu lesen.
Schon im Vorwort betont der renommierteste deutsche
Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, dass die Lage intersexueller
Menschen in unserer Kultur ein notwendiges und dringendes
Betätigungsfeld für die Sexualwissenschaft ist. In den Texten von
Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt wird deutlich, dass
eine intensive Beschäftigung mit dem Thema die Sprache deutlicher
werden lässt. An den sich verändernden Begriffen, die für
»differentes of sex development« (DSD, Varianten der
Geschlechtsentwicklung), die aktuell am breitesten akzeptierte
Bezeichnung, verwendet werden, zeigt sich das Spannungsfeld
zwischen Störungen, Besonderheiten und Krankheiten. Beeindruckend
sind die persönlichen Darlegungen von Müttern und den Betroffenen:
Hier wird deutlich, dass es im (Er)Leben von Intersexualität einen
genauso breiten Erfahrungsraum gibt, wie es Formen der
Intersexualität gibt. Aus der Studie der Hamburger Forschungsgruppe
geht hervor, dass auch die Einführung eines »dritten Geschlechtes«
noch immer die Gefahr von Ausschluss und Opferstatus birgt.
Erwünschter, so die Betroffenen, wäre eine veränderte Wahrnehmung
und Darstellung aller Geschlechter, in der es möglich wäre,
Eigenschaften beider Geschlechter in sich zu vereinen.
Intersexuelle bedrohen allein durch ihre Existenz die dichotome
Kultur, in der sie leben, und sind vor allem deswegen selbst
bedroht.
lntersexualität ist ein wissenschaftliches Feld, so bizarr und
fruchtbar, dass das Erleben der einzelnen Person oftmals aus den
aus ihrem Schicksal ableitbaren Debatten zurückgedrängt wird. Die
Hamburger Studie legt dar, dass nicht alle, aber einige
Intersexuelle leiden. Nicht nur an der Kombination von eigener
Uneindeutigkeit und dichotomer Gesellschaftsstruktur, sondern auch
an den Traumata, die sie in der Phase erlitten haben, als die
»optimal gender policy« vorherrschte. Diese stellte Aussehen und
Funktion der Genitalien in den Vordergrund, nicht das persönliche
lustvolle Erleben des eigenen Körpers.
Diesem Band ist eine hohe Verbreitung zu wünschen, in jedem
Kreißsaal, in Arztpraxen, bei Sexualtherapeuten und bei Menschen,
die sich über eine lebhafte und sich wandelnde Diskussion umfassend
informieren wollen.
Marion A. Hulverscheidt,
Ärztin und Medizinhistorikerin, Berlin