Rezension zu Politische Psychologie heute?
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Rezension von Dirk Burmester
Politische Psychologie heute? Themen, Theorien und Perspektiven der
psychoanalytischen Sozialforschung
Im Zentrum des Bandes steht die Frage nach
Modernisierungsmöglichkeiten und Anwendungsgebieten der
psychoanalytischen politischen Psychologie. Bereits der defensiv
klingende Buchtitel verdeutlicht die gegenwärtige Position dieser
aus der Kritischen Theorie hervorgegangenen Fachrichtung.
Entsprechend geht es in den ersten drei Aufsätzen um Antworten auf
die Frage, warum Sozialwissenschaften überhaupt die Psychoanalyse
brauchen könnten. Die dann folgenden Aufsätze zu höchst
unterschiedlichen Themen (z. B. die Muslimfeindschaft, sexuelle
Aufklärungskampagnen oder Bourdieus Bezugnahmen zur Psychoanalyse)
dürfen ebenfalls als beispielhafte Belege für die Bedeutsamkeit der
fernab des akademischen Mainstreams agierenden psychoanalytischen
politischen Psychologie gelesen werden. Manches Argument klingt
allerdings etwas zu selbstbewusst: »[D]ie Psychoanalyse und ihre
Erkenntnismethode bildet die für jede kritische Wissenschaft
dringend erforderliche Erkenntnistheorie« (27). Sonderlich
selbstkritisch sind diejenigen, die so vehement Selbstreflexion
einfordern, also nicht immer. So dürften sie sich schon fragen,
warum ihre Interpretationen bei anderen Psychologen und
Sozialwissenschaftlern so wenig Beachtung finden. Tatsächlich haben
Psychoanalytiker zu vielen politischen Themen einiges zu sagen,
etwa zu Identitätspolitik, Terrorismus, Radikalisierung oder
Ökonomisierung. Wie das aussehen kann, verdeutlicht etwa der
Beitrag von Gudrun Brockhaus zu dem Klassiker »The Authoritarian
Personality« von Adorno et al. Der psychoanalytische Gehalt der
Studie (im Rahmen von Interviews) mit Verweisen auf die zum Teil
widersprüchlichen Persönlichkeitsmerkmale faschistischer Menschen
offenbart, dass hier erklärt werden kann, was etwa bei
NS-Historikern in einer Art Black Box verbleibt. Der Disziplin geht
es also nicht darum, Etiketten aus der Individualtherapie auf ganze
Gesellschaften zu übertragen. Sie will verborgenen Sinn aufdecken.
Ob dies tatsächlich auch mit Redemanuskripten gelingt wie mit einem
Patienten sei dahingestellt; das Beispiel zum »War on Terror« des
George W. Bush vermag nicht so recht zu überzeugen.
Einstellungsforscher etwa aber sollten die Möglichkeiten ihrer
Messinstrumente reflektieren – was ist (wandelbare) politische
Gesinnung, was persönlichkeitsbedingt? Der Sammelband enthält
Beiträge einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft Politische
Psychologie an der Universität Hannover im Jahr 2009.
Dirk Burmester (DB)
Dr., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Angestellter der
Freien und Hansestadt Hamburg.
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