Rezension zu Der halbe Stern

Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 109/2011

Rezension von Uta Schäfer-Richter

»Der halbe Stern. Verfolgungsgeschichte und Identitätsproblematik von Personen und Familien teiljüdischer Herkunft«. Hrsg. v. Brigitte Gensch und Sonja Grabowsky

Sie waren nicht jüdisch und gerieten doch in den Strudel der nationalsozialistischen Judenverfolgung: die Deutschen, die – zumeist christlicher Konfession – als ›halbjüdische Mischlinge‹ galten. Auch wenn ihnen die Erfahrung der Deportation in der Regel erspart blieb, teilten sie und ihre Familien die Entrechtung der deutschen Juden weitgehend, wobei sie sich in einem ebenso gefährlichen wie verwirrenden Niemandsland zwischen den verfemten deutschen Juden und der glorifizierten ›deutschen Volksgemeinschaft‹ bewegten. Den besonderen Verfolgungserfahrungen dieses Personenkreises, der erst in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit erfährt, widmet sich die vorliegende Aufsatzsammlung »Der halbe Stern«. Sie ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im März 2009 unter dem Titel »Sag bloß nicht, dass du jüdisch bist« in der Evangelischen Bildungsstätte Schwanenwerder in Berlin stattfand.

Breit ist das inhaltliche Spektrum der Beiträge, die das eigentümliche Dazwischen-Stehen der ›Mischlinge‹ in der rassistischen Gesellschaft widerspiegeln. So geht es zu Beginn um die geschichtliche Kontinuität der Diffamierung der Konvertiten als »unsichtbare Juden« (Johannes Heil). Es folgen Beiträge zur Verfolgungssituation der ›Mischlinge‹ in der nationalsozialistischen Gesellschaft: zu deren Gratwanderung am Rande der ›Volksgemeinschaft‹ zwischen noch möglicher Teilhabe und wachsender Ausgrenzung (Beate Meyer); zur wirtschaftlichen Beeinträchtigung (Maria von der Heydt); zur Deportation hessischer ›jüdischer Mischehepartner‹ nach Auschwitz, die deren schicksalhafte Abhängigkeit von lokalen Machtträgern vor Augen führt (Monica Kingreen); zur Haltung kirchlicher Handlungsträger gegenüber ihren antisemitisch verfolgten Mitgliedern am Bespiel Berlins (Jana Leichsenring/Kathrin Rudolf). Ein Beitrag zur Arbeit der evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte (Walter Sylten) sowie über die (zögerlichen) Anfänge des christlich-jüdischen Dialoges in der Landeskirche Nordelbiens nach 1945 (Stephan Link) runden den historischen Teil des Tagungsbandes ab.

Der zweite Teil widmet sich den psychologischen Auswirkungen der erlebten Verfolgung. Im Zentrum steht die Frage, wie die zwangsweise Fremdzuschreibung – das aufgezwungene Anderssein bzw. das aufgezwungene Jüdisch-Sein und die damit verbundene gesellschaftliche Ausgrenzung – auf das Selbstverständnis der Betroffenen und ihrer Familien über die Nazi-Zeit hinaus sich auswirkte. Es geht um die Erfahrung des Verlustes selbstverständlicher Zugehörigkeit als Inspirationsquelle eigener Identität (Ralf Seidel); um die Wirkungsmacht des rassistischen Begriffs ›Halbjude‹ (Jürgen Müller-Hohagen) oder darum, inwieweit die erlebte negative Zuschreibung des ›Halben‹, über Generationen hinweg fortwirkt, speziell in der Abgrenzung oder Hinwendung zum Jüdischen (Gerd Sebold); es geht um den Versuch »jüdische Identität narrativ [zu] (re-)konstrui[eren]« (Dani Kranz); und um das familiäre Nachwirken belastender Familienerfahrungen wie die Deportation jüdischer Verwandter (Barbara Innecken).

Diesen in ihrer Art recht unterschiedlichen Aufsätzen – teils assoziativ-essayistisch, teils stringent-analytisch, teils Theorie überfrachtet, teils gedanklich und sprachlich unscharf – folgen drei autobiographische Beiträge: Der jüdische Mediziner Wolfgang Kotek (von Geburt teilweise jüdischer Herkunft) schildert seine Kindheit in der Zeit der Verfolgung; der Jurist Detlev Langrebe beschreibt seine Identitätssuche zwischen national-konservativer, protestantischer Familientradition und eigener Begegnung mit dem Judentum; Ilona Zeuch-Wiese geht den Spuren der Verfolgungserfahrung ihrer Mutter nach. Zwei Andachten – eine jüdische und eine christliche – beschließen zusammen mit einem Abschlussvotum Freimut Duves die erfreulich breit gefächerte Aufsatzsammlung.

Angesichts der Vielfalt der Beiträge wäre es allerdings wünschenswert gewesen, den Begriff des Jüdischen stärker zu beleuchten und sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie man ihn im gewählten Zusammenhang versteht. Zumal der Begriff im Judentum selbst zwischen Abstammungs- und Glaubensgemeinschaft changiert und sich die deutschen Juden vor 1933 in ihrer großen Mehrheit als Glaubensgemeinschaft verstanden, eben als deutsche Staatbürger jüdischen Glaubens. Nicht allein der Vollständigkeit halber wäre es auch angebracht gewesen, über tradierte jüdische Ressentiments gegenüber Konvertiten nachzudenken, die als charakterlose Renegaten galten. Denn auch das gehörte zur Erfahrungswelt der Personen teilweise jüdischer Herkunft.

Wegen der Unschärfe des Begriff des ›Jüdischen‹ droht der Band in eine eigentümliche Schieflage zu geraten. Der Titel »Der halbe Stern« und die Überschrift der Tagung »Sag bloß nicht, dass Du jüdisch bist« weisen bereits daraufhin. Die grundlegende verstörende Erfahrung der ›Mischlinge‹ (wie auch der Konvertiten) war ja, dass sie zwangsweise als jüdisch galten, was sie weder dem eigenen Verständnis nach noch nach der christlichen oder jüdischen Religion noch im Hinblick auf ihre Stellung in der deutschen Gesellschaft vor 1933 waren. Titel wie Tagungsmotto verwischen diesen Umstand. Und es drängt sich die Frage auf, ob den Betroffenen im Zuge der Erinnerung nicht noch einmal unterschwellig das Prädikat ›Jüdisch-Sein‹ zugeschrieben wird, das eine Fremdzuschreibung war und ist – sofern die Betreffenden sich selbst nicht anders äußern.

Unabhängig hiervor kommt der vorliegenden Aufsatzsammlung (wie schon der Tagung) das Verdienst zu, die verwirrende und leidvolle existentielle Erschütterung vor Augen zu führen, die dieser als ›Mischlinge‹ verfolgte Personenkreis während der Nazi-Zeit erlitt, als ihnen gleichzeitig mit der Fremdbestimmung ›jüdisch‹ zu sein, die Beheimatung in der deutschen Gesellschaft aufgekündigt worden war. Das musste umso tiefer wirken, als sich die Betroffenen in der Nachkriegsgesellschaft erneut zwischen den Stühlen wiederfanden: Zwischen Flüchtlingen, Vertriebenen, Ausgebombten und jüdischen Überlebenden des Holocaust, zwischen Tätern und Opfern wagten sie kaum, ihre Stimme zu erheben, um über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen. Gerade unter diesem Blickwinkel war es eine gute Entscheidung der Herausgeberinnen, ein die Tagung einleitendes, sehr interessantes Podiumsgespräch mit Zeitzeugen dem Band als DVD beizulegen.

Celle
Uta Schäfer-Richter

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