Rezension zu Der halbe Stern
Dr. med. Mabuse Nr. 193
Rezension von Vera Kattermann
Die Beiträge darin diskutieren die rechtliche und seelische
Situation von Menschen teiljüdischer Herkunft von der NS-Zeit bis
heute. Es kommen sowohl, Betroffene selbst als auch
Sozialwissenschaftlerlnnen zu Wort. Schwierigkeiten zeigen sich
schon beim Benennen: »Personen teiljüdischer Herkunft« lautet die
Bezeichnung korrekt, doch auch die im Buch versammelten Aufsätze
sprechen lieber von »Mischlingen« oder »Halbjüdinnen und– juden«.
Spannend ist dazu der Aufsatz von Jürgen Müller-Hohagen, der zeigt,
wie selbstverständlich der Begriff des »Halbjuden«
umgangssprachlich weiterhin fällt und Rassenideologie der Nazis
fortschreibt.
Für die beschriebenen Menschen mit jüdischem Elternteil stellte
sich – anders als in Argentinien – die Herausforderung einer
konträr aufgeladenen Identitätssuche nicht erst aus der
Retrospektive. Im Nationalsozialismus stellten die »Mischlinge«
eine besondere Bedrohung dar: die Bedrohung des »Rein-Arischen«
durch ein »Sowohl-als-auch«. Einerseits wollte man zwar »den Juden
im Mischling« ausrotten. Aber würde man dann auch den »Arier« in
ihm töten? Die Verfolgung und Ermordung wurde entsprechend der
Nürnberger Rassegesetze erst dann angeordnet, wenn mindestens drei
der Großeltern jüdisch waren. Alle anderen »Mischlinge« wurden
meist geduldet und sehen sich bis heute mit diesem »Sowohl
als-auch-Sein« konfrontiert.
Die Rassendiskriminierung bedeutete auch hier das Leben mit einem
Identitätsriss. In den meisten Familien lebten Verfolger und
Verfolgte zugleich, Verbündete und Heifer der jüdischen
Familienmitglieder wie auch »arisch identifizierte«,
nationalsozialistische oder sympathisierende Verwandte. Die
»Misch«-Ehen wurden von außen angefeindet, stellten eine
Provokation gegenüber der arischen Reinheitslehre dar, waren aber
meist auch nach innen voller Spannungen und Konfliktlinien.
Angesichts der existenziell bedrohlichen Verfolgung eines
Elternteils schrumpft das eigene Schicksal ins scheinbar
Unbedeutende und das Bestimmen der eigenen Identität wird zu einem
kaum auslotbaren Balanceakt zwischen Schuldverstrickungen: Bin ich
eher Teil der Täter oder eher Teil der Opfer? Ein Betroffener
schreibt im Buch: »Insofern haben die Nazis Recht behalten: ich bin
›halb‹, ich bin Verfolger und Verfolgter. Ich kann mich als
Deutscher nicht davon freimachen, zu den Verfolgern zu
gehören.«
Die dem Buch beigefügte CD, die eine lange Gruppendiskussion mit
vier Frauen und einem Mann dokumentiert, vermittelt einen
nachhaltigen und sehr persönlichen Eindruck. Eine Betroffene sagt:
»Das alles hat mich unglaublich gequält. Aber ich habe zu mir
gefunden und mich befreit: Ich lasse mich nicht mehr von außen
definieren!«
So ist den Herausgeberinnen zu einem differenzierten und
umfassenden Einblick in ein vielschichtiges psychologisches Dilemma
zu gratulieren. Die Ergänzung von Buch und CD lässt ebenso die
nachhaltige Identitätsnot plastisch werden wie auch die Gefühle von
Befriedigung und Stimmigkeit, wenn die Auseinandersetzung ganz
individuelle Antworten hervorzubringen vermag.
Vera Kattermann, Psychoanalytikerin, Berlin