Rezension zu »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?« Zur Psycho- und Soziodynamik zeitgenössischer Tötungsdelikte (PDF-E-Book)
Gießener Anzeiger
Rezension von Heidrun Helwig
Gefängnistor mit dem Spürpanzer
geöffnet
Psychosozial-Verlag veröffentlicht »Neues in
Sachen Überwachen und Strafen« – Beiträge von Gießener
Hochschullehrern
GIESSEN. Der Panzer hatte exakt die richtige Geschwindigkeit.
Deshalb brach das Tor beim Aufprall auf und klappte wie berechnet
nach innen. Mit ohrenbetäubendem Lärm. Instinktiv griff der Beamte
auf dem Wachturm sogleich zu seinem Gewehr. Dann aber erstarrte er
vor Erschrecken. Aber wohl auch vor Ratlosigkeit. Und diesen Moment
nutze einer der Häftlinge. Eilte zu dem überdimensionalen
Bundeswehrfahrzeug und schwang sich auf den Beifahrersitz. Denn
schließlich hatte sein Kumpel den Spürpanzer bloß geklaut, um ihn
aus der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt zu befreien. An diesen
Ausbruch, der eigentlich ein Einbruch war, erinnert Hans Goswin
Stomps in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift »psychosozial«.
Darin befassen sich auch die Gießener Hochschullehrer Prof. Arthur
Kreuzer und Prof. Reimer Gronemeyer mit »Neuem in Sachen Überwachen
und Strafen.«
Eine ansehnliche Zahl verschiedenster Experten zum Thema
Strafvollzug hat sich in dem im Gießener Psychosozial-Verlag
erschienen Band vereinigt. Und das aus einem bestimmten Grund.
Denn: Die inzwischen 104. Ausgabe ist Klaus Winchenbach gewidmet.
der nach rund 35 Jahren Tätigkeit im hessischen Strafvollzug am
vergangenen Freitag offiziell als Leiter des Jugendgefängnisses in
Rockenberg verabschiedet wurde. Und weil »Festschriften allzu
häufig den Charakter von Gedenkschriften« haben und »ihre Beiträge
den von Grabreden und Nachrufen«, haben sich die beiden Herausgeber
Horst Bohling und Götz Eisenberg Kollegen, Wegbereiter und Freunde
des 65-Jährigen gebeten, für »psychosozial« Texte aus dem Komplex
»Überwachen und Strafen« zu verfassen, .von denen angenommen werden
kann, dass sie Klaus Winchenbach interessieren«. Etlichen Beiträgen
ist dabei gemein, dass sie sich mit den Folgen der zunehmenden
Verschärfung des Strafvollzugs befassen. Schließlich hatte der
frühere Justizminister Christean Wagner nach dem Regierungswechsel
im Jahr 1999 versprochen, den »härtesten Strafvollzug Deutschlands«
in Hessen einzuführen. Und auf Bundesebene sei durch die
gesetzliche Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung eine
»rechtsstaatliche Schamgrenze« gefallen, argumentiert Prof. Arthur
Kreuzer, Kriminologe an der Gießener Justus Liebig-Universität
(JLU). Winchenbach hingegen habe sich während seines Berufsalltag –
23 Jahre davon als Anstaltsleiter der JVA Butzbach – dafür
eingesetzt, Haftbedingungen der Gefangenen zu verbessern. Und das
Leben hinter Gittern nach den Vorgaben des Strafvollzugsgesetzes zu
gestalten. Ohne Sicherheitsaspekte für die Bevölkerung zu
vernachlässigen. Die Flucht zweier Gefangener bei einem begleiteten
Ausgang im Jahr 1999 sei dann aber von der Landesregierung genutzt
worden, ihn als Leiter der JVA Butzbach abzulösen. Nicht ohne
lautstarke Proteste von vielen Seiten. Es folgte eine »Ochsentour«
verschiedenster Abordnungen bis er schließlich die Leitung der JVA
in Rockenberg übernahm.
Und dorthin hatte Winchenbach im vergangenen Sommer das
»Kriminologische Praktikerseminar« von Prof. Arthur Kreuzer
eingeladen, bei dem nach Gesprächen mit den jugendlichen und
heranwachsenden Gefangenen Juristen und Vollzugsmitarbeiter über
die Entwicklung des Jugendstrafrechts und des Jugendstrafvollzugs
diskutierten. »Als besonderes Hindernis erfolgreichen Arbeitens
wurde angegeben, dass Gefangenen oft selbst dann, wenn der
Entlassungstermin ansteht, keine Vollzugslockerungen gewährt werden
dürfen«, schreibt der emeritierte Mainzer Strafrechtsprofessor
Alexander Böhm in seinem Beitrag. Das habe zur Folge, »dass die
Vorbereitung auf die Freiheit erschwert und dadurch der
Resozialisierungserfolg gefährdet würde, ja auch der Plan einer
Entlassung zur Bewährung unter Aufsicht eines Bewährungshelfers
scheitern könnte (weil die Entlassung zur Bewährung nur nach
vorheriger Bewältigung von Lockerungen verantwortet werden dürfe)«.
Mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung, der »permanenten
Ausweitung eines rechts staatlich fragwürdigen
Sicherungsinstruments« befasst sich Prof. Arthur Kreuzer und stellt
dabei einen Systembruch mit dem Strafrecht sowie klimatische
Verunsicherungen im Strafvollzug fest. Denn: »Schlag auf Schlag
folgen Ausweitungen.« Dazu gehöre auch die »allmähliche Abkehr vom
Behandlungsgedanken im Strafvollzug«, »der Abbau von
Vollzugslockerungen und Strafrestaussetzungen sowie die Anhebung
von gesetzlichen Mindeststrafen«.
Von den Auswirkungen der zunehmenden Verschärfung des Strafvollzugs
in Hessen auf den Gefängnisalltag berichtet der frühere Butzbacher
Gefängnisseelsorger Otto Seesemann. Zwölf Jahre lang – von März
1987 bis September 1999 – hat der Pfarrer eine Waldlaufgruppe mit
Häftlingen betreut. Äußerst erfolgreich. Denn: »Bei insgesamt 4112
Möglichkeiten dazu ist es lediglich zu drei Entweichungen
gekommen.« Aufgelöst aber wurde die Gruppe dennoch gleich nach dem
Regierungswechsel. »Damals war der Strafvollzug noch von einer Idee
geprägt: der der Behandlung und Resozialisierung«, schreibt
Seesemann. »Heute sind Vorgaben zwar auch noch gültig, aber nahezu
vergessen.« Und die Konsequenzen »liegen eindeutig in einer
erhöhten Rückfallgefahr und in weniger Sicherheit für die
Bevölkerung«. Der Gießener Soziologe Prof. Reimer Gronemeyer
hingegen setzt sich mit dem modernen Präventionsdenken auseinander
und kommt dabei zu dem Schluss, dass alle aus der philosophischen
und christlichen Tradition gefallenen Versuche, Zukünftiges machbar
erscheinen zu lassen, die Lebendigkeit der Zeit in einen toten
Abstellraum stellen.
Den kurzweiligsten Beitrag in diesem spannenden und aktuellen Band
aber liefert Hans Goswin Stomps, der vor kurzem verabschiedete
Vizepräsident des Marburger Landgerichts. Denn spektakuläre
Aktionen, mit denen das Hochsicherheitssystem Strafvollzug
überwunden werden konnte, faszinieren die Öffentlichkeit doch immer
wieder. Wenngleich natürlich auch Angst vor möglichen neuen
schweren Straftaten der Ausbrecher hinzukommt. Die beiden
Panzerfahrer wurden übrigens recht bald wieder gefasst. Zudem
»wurde der Einbau von Panzersperren an manchen Zufahrten zu
Anstaltsgeländen veranlasst und es erfolgte eine Überprüfung aller
Strafanstalten auf Schwachstellen, ob nämlich insbesondere gegen
Panzerangriffe alles getan worden sei«.