Rezension zu Geschwisterdynamik
Psychologie heute 10/2012
Rezension von Christine Weber-Herfort
Aus einer Sammelbesprechung zu Deborah Tannens »›Du warst ja schon
immer Mamas Liebling!‹ Wie Schwestern einander besser verstehen«
(Mosaik), Vera Bollmanns »Schwestern. Interaktion und Ambivalenz in
lebenslangen Beziehungen« (VS) und Hans Sohnis »Geschwisterdynamik«
(Psychosozial-Verlag):
(...)
Auch für Hans Sohni ist das Rivalisieren zwischen Geschwistern
eines der häufigsten Interaktionsmuster. »Geschwister zwischen zwei
und neun Jahren geraten alle neun Minuten aneinander.« Doch das
muss nicht negativ bewertet werden. Eltern sollten das Rivalisieren
schätzen lernen und den Kindern diesen Raum »gönnen«. Pauschale
Tipps, wann Eltern in den Streit ihrer Kinder eingreifen sollten,
seien wenig hilfreich. Doch: »Wenn Geschwister nicht streiten,
sollten wir als Berater und Therapeuten aufmerksam werden: Da
stimmt etwas nicht!« Psychologen bezeichneten den permanenten
Wechsel zwischen Streit und Harmonie gerne als »geschwisterliche
Ambivalenz«. Für den Familientherapeuten und Psychoanalytiker ist
dies ein »Irrtum«. »Es geht nicht um Zwiespältigkeit, sondern um
Auseinandersetzung; die Konflikte entstehen und verschwinden
innerhalb einer tragenden Beziehung.« Geschwisterlichkeit bedeute
Konfliktfähigkeit, auch ein Anerkennen von Unterschieden, woraus
dann auch Vertrauen in die Beziehung erwachse.
Es ist dieser Resilienzgesichtspunkt, auf den hin der Autor alle
Aspekte der Geschwisterdynamik abklopft. Dabei geht es sowohl um
die psychoanalytischen Konzepte als auch um die Geschwisterdynamik
im Familiensystem und in der Psychotherapie. Geschwister könnten
trotz gestörter Familien- und Geschwisterdynamik einander hilfreich
sein. Auch sei die Erfahrung von Ungleichbehandlung nicht per se
eine Belastung. Es komme darauf an, wie die Geschwister erlebte
Ungleichbehandlungen interpretierten. Denn im Gegensatz zu der
lange Zeit von der Psychoanalyse vertretenen Theorie, dass sich die
Persönlichkeit im Wesentlichen in der frühen Kindheit forme, sei es
heute erwiesen »dass auch die Erfahrungen in der mittleren
Kindheit, in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter bedeutsam
werden können für die Persönlichkeitsbildung«.
Auch die von Alfred Adler formulierte These zur
Geschwisterrangfolge (»Birth-Order-Theorie«) wird kritisch
hinterfragt. Diese Theorie »mit ihrer Implikation, aus der
jeweiligen Stellung leiteten sich Persönlichkeitsmerkmale ab, [ist]
für westliche Gesellschaften widerlegt«.
Im perspektivischen Wechsel, weg von den Eltern, hin zu den
Entwicklungsmöglichkeiten, die das horizontale Beziehungsfeld
zwischen Geschwistern bietet, liegt der Spannungsbogen dieses für
Psychoanalytiker, Therapeuten, Pädagogen und interessierte Laien
aufschlussreichen Fachbuches.
• CHRISTINE WEBER-HERF0RT