Rezension zu Versuch über die moderne Seele Chinas (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Thema
Man löst ein Problem nicht dadurch, dass man es auf sich beruhen
lässt. Das könnte eines der Leitthemen dieses brisanten Buches
sein. China verleugnet die Schrecken seiner jüngsten Geschichte,
nicht nur der Kulturrevolution, sondern schon der fünfziger Jahre,
und die mit diesem Text angezielte Leserschaft ist dazu geneigt,
die Tatsache zu verleugnen, dass sie China nicht versteht. Antje
Haag kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie diese beiden
Probleme gerade nicht auf sich beruhen lässt. Die Autorin hat seit
1988 jahrelang Kurse für Chinesen in China veranstaltet, mit denen
sie den Wiederaufbau einer Psychotherapie ermöglichte. Dabei ergab
sich aus der therapeutischen Tätigkeit, die als Lehranalyse von der
Kursarbeit nicht zu trennen war, die aber nicht nur die
Chinesischen Therapeuten, sondern einen weiten Patientenkreis
betraf, ein erschütternder Einblick in das Leid, das seit 1949 in
Verbindung mit der Gründung des »Neuen China« Chinesen einander
zugefügt haben. Die ungeheuerliche Banalität, mit der das
offizielle Partei-China bis in die Geschichtsbücher der Schulkinder
hinein dekretiert hat, von den Taten des großen Mao seien 70% gut
und 30% schlecht gewesen, zeigt die Unwilligkeit, sich mit der
politischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. So lastet die ganze
schwere Arbeit, sich den Traumata aus dieser Zeit in der Hoffnung
auf Linderung zuzuwenden, auf dem einzelnen und seiner Familie.
Aufbau und Inhalt
Antje Haag weist auf das hin, was sich aus der Kulturtradition
Chinas gegenüber »dem Westen« als besonders ergibt: »… das aus dem
konfuzianischen und daoistischen Erbe gebildete ›weiche‹
chinesische Selbst« (S. 39) und die unterentwickelte Fähigkeit der
Selbstspaltung in zwei Instanzen, die in einen inneren Dialog
miteinander treten könnten. Während der Westler den bohrenden
Fragen seines Gewissens auszuweichen sucht, hat der Chinese Angst
vor Bestrafung von außen und vor Gesichtsverlust.
Die Verfasserin gliedert ihr Buch wie folgt:
- Einer Einführung folgt das Kapitel über »Kulturspezifische
Besonderheiten« mit den Themen Konfuzianismus – Kollektivismus,
Grenzen, Kommunikation, Scham – Gesicht und Verantwortung.
- In Kapitel 2 werden die traumatischen Auswirkungen von
Bürgerkrieg, Revolution und Kulturrevolution unter dem Titel »China
nach 1949: Die Revolution und ihr Preis« behandelt.
- Kapitel 3 heißt: »Chinas neue Gesellschaft« und enthält »Die neue
Familie«, Kindheit, Jugend, Ausbildung, Sexualität, Partnerschaft
und Ehe.
- Der Text endet mit dem umfangreichen (32 Seiten) Kapitel
»Psychoanalyse in China«, das interessante Informationen zur
Wissenschaftsgeschichte (S. 123f.) enthält.
Haag erläutert in ihrem zweiten Kapitel auch, dass »die Rechte des
Einzelnen im chinesischen Denken eine untergeordnete Rolle spielen«
weil »eine tausende von Jahren währende Sozialisation (…) immer nur
das Wohl des Kollektivs im Blick hat« (S. 31). Aber der Schwerpunkt
dieses Textes ist die ungeheure Leidenslast, die auf zahllosen
Chinesen drückt, und die in den erschütternden Lebensgeschichten
und Zeugnissen der Patienten dokumentiert wird. Neu für manchen
Leser ist vielleicht der Hinweis Haags auf die schweren psychischen
Probleme nicht nur der Opfer, sondern auch der Täter revolutionärer
Grausamkeiten.
Diskussion
Wilhelm Dilthey hat formuliert, dass sich Geschichte letztlich als
Biographie einzelner Menschen ereignet. Hier wird ein Zugang zur
jüngsten Geschichte Chinas eröffnet, der wohl für jeden, der sich
um ein Verständnis Chinas und der Chinesen bemüht, als
unentbehrlich bezeichnet werden darf. Ganz unbedeutend ist ein
kleiner Fehler der Verfasserin, wenn sie auf S. 89 schreibt »Meimei
= ältere Schwester« obschon dieses Wort tatsächlich nicht die
ältere, sondern die jüngere Schwester bezeichnet. Auch könnte Frau
Haag mehr Hoffnung für die Zukunft vermittelt haben, wenn sie auf
den bleibenden Reichtum der alten Kultur Chinas hingewiesen hätte
und auf das große Interesse, mit dem viele junge Chinesen die
Jahrtausende alten Dokumente der Geistes- und Naturwissenschaften
(Joseph Needham) und der Kunst ihres Landes studieren.
Fazit
Das Buch von Antje Haag, das in einem reichhaltigen
Literaturverzeichnis auch auf andere China-Dokumentationen, so die
von Tomas Plänkers hinweist, bringt Lesern der Psychotherapie, der
Sozialpsychologie, der Familiensoziologie, der interkulturellen
Kommunikation und anderen eine Fülle hilfreicher – zum Teil
erschütternder – neuer Erkenntnisse. Seine Lektüre wird mit
Nachdruck empfohlen.
Rezensent
Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie