Rezension zu Kultur und Psyche
Psychologie heute 11/2012
Rezension von Tilmann Moser
Inder leiden anders
Was macht der indische Psychotherapeut anders als sein westlicher
Kollege?
Sudhir Kakar hat seine Ausbildung zum Psychoanalytiker in Frankfurt
absolviert und schaut durchaus dankbar darauf zurück. Nach seiner
Rückkehr in die Heimat stellte er erstaunt, manchmal auch unmutig
fest, dass die diagnostischen Begriffe und praktischen
therapeutischen Verfahrenshinweise in Indien jedoch wenig brauchbar
waren.
Zu andersartig erscheinen ihm die seelischen Strukturen, vor allem,
was die tiefe Einbettung des Selbst in die verschiedenen Kulturen
angeht, unter anderem etwa die jahrelange körperliche Intimität des
Kindes mit der Mutter. Diese führt zu einem veränderten
»Ödipuskomplex«, den Freud und die westliche Analyse für universell
hielt, ohne weiter über die seelische Struktur anderer
Gesellschaftssysteme nachzudenken.
Kakar fällt harte Urteile über den analytischen Expansionismus der
Anthropologen, die mit analytischen Mitteln fremde Kulturen
erforschen wollten: »Das Hauptanliegen der (gemeint:
freudianischen) Psychoanalyse schien darin zu bestehen, ihre
Schlüsselbegriffe zu schützen und zu untermauern, indem
entsprechende Beweise gesammelt wurden. Die Möglichkeit, dass
andere Kulturen mit ihren andersartigen Weltanschauungen,
Familienstrukturen und Beziehungen einen eigenen Beitrag zur
Entwicklung psychoanalytischer Prinzipien und Modelle leisten
könnten, wurde schlicht ignoriert.« Am größten ist Kakars Zorn wohl
auf den Ethnozentrismus der Kategoriensysteme.
In anrührenden Fallgeschichten legt er die unterschiedlichen
Leidensformen sowie die unterschiedlichen Erwartungen an den
Psychotherapeuten in beiden Ländern dar: Der indische
Psychotherapeut muss viel pädagogischer vorgehen, das neutrale
Schweigen bringt den indischen Patienten in Not, weil er an
Introspektion oder das klassische »Erkenne dich selbst« gar nicht
gewöhnt ist.
Ungeheuer wichtig für unsere Integrationsprobleme mit Migranten
erscheinen mir Kakars Ausführungen über das Beharren vieler
»verpflanzter« Menschen auf einer tiefen Identifikation mit den
kulturellen Mustern ihrer Herkunft. Bei scheinbar gelungener
Neuanpassung führt das oft zu einer unbewussten Spaltung der
Persönlichkeit. Wer das seelisch nicht aushält, den zieht es ins
Ghetto, und er lehnt die Integration ab. Deshalb fordert der Autor
auch bei Pädagogen und Therapeuten eine Offenheit, ja eine
vertiefte Beschäftigung mit den jeweiligen Kulturen, damit
Therapeut und Klient nicht aneinander vorbeireden und -fühlen. Für
Betreuer von Migranten sollte Kakars Buch Pflichtlektüre werden.
TILMANN MOSER