Rezension zu Brennende Zeiten
Neues Deutschland. Beilage zur Frankfurter Buchmesse 2012
Rezension von Jürgen Meier
Die vier großen »S«
Von Jürgen Meier
Thomas Auchter: Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und
politischer Kontrolle.
Was ist und was kann Psychoanalyse eigentlich? Sie ist nicht zu
verwechseln mit Psychotherapie und ist auch nicht Anpassung »an die
Gesellschaft noch an die Wirtschaft, geschweige denn an den
Therapeuten, höchstens an das eigene Selbst«, klärt Thomas Auchter
auf.
Die Psychoanalyse als Heilkunde, die beim Autor des hier
vorzustellenden Bandes ganz in der Tradition von Freud und
Winnicott steht, bietet nicht »Heilsein« an, sondern
»Wirklichsein«. Sie verspricht keine »Erlösung«; sie will den Blick
auf die eigene Wirklichkeit schärfen. Zu dieser gehört, die
Vergangenheit, die sich fest in jede »Seele« geschrieben hat. Der
Heilerfolg der Psychoanalyse kann höchstens darin bestehen, so
Auchter, dabei behilflich zu sein, das Leben besser auszuhalten, im
Leben besser zu bestehen. Der Psychologe ist Begleiter auf dem Weg
in die Vergangenheit, deren Schattenseiten und Traumatisierungen
wir verdrängen. Bloch nannte die Verdrängungen der Vergangenheit,
die ganz unbeabsichtigt geschehen, ein seelisches »Kellerloch« des
Noch-Nicht-Bewussten, aus das dieses allerdings eines Tages
unfreiwillig wieder herausschlüpft, um Leiden zu verursachen, die
mit diesen Verdrängungen nicht in Beziehung zu stehen scheinen.
Heute, wo Landeskrankenhäuser von Regierungen an private Betreiber
verkauft werden, für die an erster Stelle der Profit zählt, rutscht
die Psychiatrie mehr und mehr in den Biologismus ab. »Was auch eine
Rückkehr zur medikamentösen Ruhigstellung der Patienten, zur
Verhaltensmanipulation und zu technisch operativen Eingriffen wie
Elektrokrampftherapie und Leukotomie umfasst«. Da die Manipulation
heute alle gesellschaftlichen Bereiche beherrscht, um
selbstbewusste Menschen in »Konsumbürger« verwandeln zu können,
plädiert der Autor, der selbst praktizierender Psychologe ist, für
die Kontinuität humanistischer Traditionen. Nur stabile,
selbstbewusste Menschen können Nein zu menschlichen Entfremdungen
sagen. Deshalb steht die Analyse des Subjektes, das Opfer oder
Täter vollzogener Manipulationen oder Traumatisierungen wurde, im
Mittelpunkt der Psychoanalyse und nicht die »Krankheit« oder
»Störung«. Denn das in der Gegenwart gespürte Leid kann erst
verschwinden, wenn die Vergangenheit gegenwärtig geworden ist.
So lebt auch in den Enkeln und Urenkeln der Nazi-Generation diese
Vergangenheit weiter. Dank schulischer Aufklärung über den
Faschismus lehnen die meisten Enkel und Urenkel diesen Teil der
deutschen Vergangenheit ab. Sie verwandeln aber gleichzeitig, so
belegen Studien, ihre eigenen Großeltern in Gegner, Nichtwissende
oder in Opfer des Nazi-Systems. Auf diese Weise lebt die
Unfähigkeit der Großelterngeneration zu trauern konkret in den
Enkeln und Urenkeln weiter.
Ob 68er und RAFler, Rassisten und Antisemiten, sie alle sind in
eine historisch bestimmte, gesellschaftliche Beziehung eingebunden,
in der sie nur als Individuen reifen können, wenn sie lernen, »dass
niemand aus sich selbst den Sinn dieser Welt entdecken kann«. Jeder
braucht den Bezug zum gesellschaftlichen Leben.
Das Buch belegt dies in sieben Aufsätzen, die u. a. auch zeigen,
wie aus Vergangenheit Gelerntes in der Gegenwart in eine
menschliche Perspektive gewendet werden könnte. Anders als die
Kritiker unseres Bildungssystems (u.a. Precht, Hüter), die den
heutigen Lehrer von einem staatlich kontrollierten
Lehrstoffverwalter in einen »Potentialentfaltungscoach« verwandeln
möchten, stützt sich Auchter auf die vier großen »S«: »Sicherheit,
Sprachfähigkeit, Selbstsein, Solidarität«. Aus deren konkreter
Entfaltung könne ein junger Mensch zur echten Persönlichkeit
reifen. Wenn der Autor allerdings schreibt, dass er nicht glaube,
»dass das gesellschaftlich geprägte Individuum, sei die
Gesellschaft nun sozialistisch, demokratisch oder in anderer Weise
gestaltet, zur Formulierung absoluter ›Wahrheiten‹ fähig ist – und
das gilt auch für den Wissenschaftler«, so widerspricht er seinem
eigenen Grundsatz, »Wirklichsein« des Subjektes zu fördern.
Die Wirklichkeit ist ein objektiv sich vollziehender Prozess in
einer Totalität, die vom Menschen natürlich immer nur im zeitlich
begrenzten Rahmen und im Einzelfall als »absolute Wahrheit« erkannt
werden kann. Galilei erkannte eine objektive Wirklichkeit in seiner
Zeit, als die Kirche diese absolute Wahrheit mit brutalen Mitteln
zu unterdrücken versuchte.