Rezension zu Elternarbeit

Psychologie in Erziehung und Unterricht 4/2012

Rezension von Jürg Frick

Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Joachim Heilmann & Heinz Krebs (Hrsg.) (2011). Elternarbeit. Ein Grundpfeiler der professionellen Pädagogik.

»Die Reflexion der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse ist ein zentraler Bestandteil der psychoanalytisch ausgerichteten Elternarbeit« (S. 218). Diese Aussage von Heilmann ist quasi programmatisch für den vorliegenden Band, der die Zusammenarbeit mit Eltern in pädagogischen Einrichtungen wie Jugendhilfe, Kindergarten, Hort und Heim thematisiert. Ohne oder gar gegen die Eltern – so der einhellige Tenor der Beiträge, lässt sich kaum etwas erreichen – und das ist auch gut so!

Aus psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive werden neben der bewussten Kommunikation zwischen Pädagoginnen bzw. Pädagogen und Eltern besonders die unbewussten Anteile reflektiert: Was lösen diese Anteile bei den Eltern bzw. bei den Pädagoginnen und Pädagogen selber aus – und wie beeinflussen, begünstigen oder behindern sie die verschiedenen Beziehungsebenen (Kind-Pädagogin, Eltern-Pädagogin usw.)? Wie lassen sich diese Anteile erkennen, bewusst- und sogar fruchtbringend nutzbar machen: Vor allem Gegenübertragungsphänomene der Pädagoginnen und Pädagogen, in zweiter Linie auch der Eltern, stehen immer wieder im Zentrum. Der Band soll zu mehr Verständnis dafür beitragen, dass »PädagogInnen bei der Kooperation mit Eltern in spezifischer Weise mit eigenen biographischen Erfahrungen und ihrer eigenen Lebenssituation konfrontiert« (S. 19-20) werden. Die Erkenntnis eigener Gegenübertragungsphänomene, z. B. in Form heftiger Gefühle gegenüber Aussagen von Elternteilen, erweitert die eigene berufliche Kompetenz und hilft, mögliche Konflikte richtig einzuordnen und zu entschärfen. Diese Auseinandersetzung wird nicht zuletzt durch häufige Konfliktprofile wie widersprüchliche Erziehungsgrammatiken gefördert. Elternarbeit ist in diesem Verständnis immer auch Beziehungsarbeit.

Laut Eggert-Schmid Noerr soll Elternarbeit um erfolgreich zu sein – die sozialen Milieus vertiefter berücksichtigen, denn schon beim Zeitpunkt der Einschulung bestehen enorme Unterschiede. Trotz unterschiedlicher Funktionen plädiert sie für eine Erziehungspartnerschaft auf gleicher Augenhöhe: Antihierarchische Impulse und Wertschätzung sind die Basis dazu.

Textor zeigt, welche Bedingungen die Aufnahme von unter Dreijährigen in eine Kita fördern oder eben hemmen. Bei Letzterem sind Vorbehalte von Erzieherinnen und Erziehern, Konkurrenzgefühle oder der Retterkomplex im Auge zu behalten. So sind beispielsweise Erzieherinnen und Erzieher gegenüber den Eltern von unter dreijährigen Knaben tendenziell negativer eingestellt als gegenüber Eltern von unter dreijährigen Mädchen!

Verständnis für die anspruchsvolle Erziehungsarbeit der Eltern kommt ebenso im Beitrag von Naumann zum Ausdruck: Über ihr Kind kommen sie in Kontakt zur eigenen Kindheit (Wünsche, Verständnis, Autonomie- und Abhängigkeitsthematik). Verdienterweise werden hier auch der enorme Leistungsdruck, der auf Eltern lastet und den sie an ihre Kinder weitergeben, oder die transgenerationalen Gefühle der Schuld infolge Abschied und Trennung bei Familien mit Migrantengeschichte beleuchtet. Es ist diese verständnisvolle Grundhaltung (auch der wechselseitigen Anerkennung) – gegenüber Eltern wie Pädagoginnen und Pädagogen –, die für den Leser wohltuend wirkt: reflektieren, verstehen, klären, unterstützen, helfen statt Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Kleemann schlägt die »Probeidentifizierung« mit den Eltern als Möglichkeit zum Zugang des Verstehens der Familie vor. Besonders bei negativen Gefühlen der Pädagoginnen und Pädagogen ein sehr empfehlenswertes Arbeitsinstrument. Als selbstverständliche Voraussetzung für eine professionelle Elternarbeit hält Naumann eine regelmäßige Supervision für unabdingbar: Pädagoginnen und Pädagogen brauchen Räume und Zeiten zur Selbstreflexion. Denn mit den realen Eltern begegnen den Pädagoginnen und Pädagogen nicht nur die etwaigen eigenen Vorurteile zu Kultur und Geschlecht, sondern ebenso die eigenen verinnerlichten Eltern, mit denen mehr oder weniger intensive Rechnungen offen sein können.

Gerspach kritisiert plakative Formeln wie »Kinder brauchen Grenzen«. Er warnt vor einer kontextlosen Empfehlung. Besser sind kontextbezogene Fragen wie etwa: Wie war die Stimmung der Eltern an diesem Tag? Gab es schon vorher Streit? Was brauchen dieses Kind und diese Eltern jetzt tatsächlich? Reflexion und Kontextanalyse statt einfache und letztlich dem Problem nicht gerecht werdende Techniken sind zu bevorzugen. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen (Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Prekarisierung, erhöhter Druck auf die Kitas u. a.) auf die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen thematisiert Niedergesäß. Die Überwindung der »Seelenblindheit« (Nichterkennen der Grundbedürfnisse des anderen) beschreibt Schmid am Beispiel der Elternarbeit im Osterhof (1965 gegründet), die er als dialogischen Verstehensprozess versteht. Aber auch spezifische Aspekte in der Beratung von Eltern in Trennung und Scheidung (von Lüpke) mit den Gefahren der Verwicklung der Helfer oder die Auswirkungen von elterlichen Kampftrennungen auf alle Beteiligten kommen im Sammelband zur Sprache. Anhand verschiedener Fallbeispiele, etwa beim Thema Migration und Trauma anhand des Jugendlichen Sharif, bei dem wir lernen können, dass jeder Schritt der Integration eines Heranwachsenden einen Riss innerhalb der Herkunftsfamilie bedeuten und zur Spaltung führen kann, werden theoretische Befunde veranschaulicht und so geklärt. Auch Elterngespräche in der Jugendhilfe oder in der Erziehungsberatung sind an konkreten Beispielen dokumentiert: Sie bieten vielerlei Anregungen zur Reflexion eigener Haltungen und Vorgehensweise ebenso wie zum Verständnis von zwei fast permanenten elterlichen Themen: Schuld- und Schamgefühle (Beitrag Krebs).

Wiederum individuell sieht die Arbeit mit psychisch kranken Eltern und deren Kindern aus (Beitrag von Heilmann). Dieser erhebliche Risikofaktor zeigt sich besonders bei Kindern mit einer psychisch erkrankten Mutter. Eine wichtige neuere Erkenntnis: Wenn der Vater psychisch krank ist, kann dies in vielen Fällen durch die Mutter kompensiert werden. Die Gestaltung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung, der Aufbau und der Erhalt eines Arbeitsbündnisses von Elternhaus und Schule, dazu können die verschiedenen Aufsätze des Buches beitragen.

Das Buch ist fortgeschrittenen Studierenden ebenso wie psychologisch, pädagogisch sowie sozialpädagogisch tätigen Fachpersonen zu empfehlen.

Prof. Dr. Jürg Frick
Pädagogische Hochschule Zürich

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