Rezension zu Zionismus und Jugendkultur
Luzifer-Amor Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse Heft 50/2012
Rezension von Lutz von Werder
Siegfried Bernfeld: Werke, Bd. 1: »Theorie des Jugendalters«, hg.
von Ulrich Hermann. Gießen (Psychosozial) 2010, 310 Seiten. 29,90
Euro; Bd. 2: »Jugendbewegung – Jugendforschung«, hg, von Ulrich
Hermann. 2011, 508 Seiten. 49,90 Euro; Bd. 3: »Zionismus und
Jugendkultur«, hg, von Ulrich Hermann, Werner FöIling und Maria
Fölling-Albers. 2011, 682 Seiten. 49,90 Euro; Bd. 4:
»Sozialpädagogik«, hg. von Daniel Barth und Ulrich Hermann. 2012,
541 Seiten. 29,90 Euro.
Am 7. Mai 2012 wurde der 120. Geburtstag von Siegfried Bernfeld
gefeiert. Bernfeld wuchs in Wien auf, wo er als Aktivist der
Jugendbewegung zum Thema »Über den Begriff der Jugend« promovierte.
Ein aktiver Zionist, gründete er 1919 für 300 jüdische Waisenkinder
das berühmte Kinderheim Baumgarten. 1921 eröffnete Bernfeld, der
schon als 16-jähriger Schüler Freuds Traumdeutung gelesen hatte,
eine psychoanalytische Praxis. Er entwickelte für das Lehrinstitut
der Wiener Vereinigung psychoanalytische Kurse für Pädagogen.
1925-1932 arbeitete er am Berliner Psychoanalytischen Institut,
schrieb als linker Publizist und wurde neben W. Reich, E. Fromm und
O. Fenichel zu einem der ersten Freudomarxisten. Angesichts des
Massencharakters der Neurosen suchte Bernfeld nach Methoden, die
über die psychoanalytische Einzelbehandlung hinausgingen und auf
die Bewältigung des proletarischen Massenelends abzielten. Dabei
stand die Reform des Schulsystems und der Jugenderziehung im
Mittelpunkt seiner Arbeit. 1934 emigrierte er nach Frankreich,
später in die USA. Er baute in San Francisco eine psychoanalytische
Vereinigung auf und verfasste auch erste »Bausteine der
Freud-Biographik«. 1953 ist er in San Francisco gestorben.
Bernfeld gilt heute als Klassiker der modernen Jugendforschung, der
psychoanalytischen Pädagogik und der Kritik der kapitalistischen
Erziehung. Er wurde in Deutschland bis 1968 weder in der DDR noch
in der Bundesrepublik zur Kenntnis genommen. Erst seit der 68er
Bewegung wurde wieder entschieden betont, dass die Erziehbarkeit
der Kinder und Jugendlichen nicht nur von ihrem Triebschicksal
abhängt, sondern auch von ihren materiellen Lebensverhältnissen,
der historischen Struktur des Schul- und Bildungswesens und dem
unbewältigten Unbewussten der Lehrer. So überrascht es nicht, dass
eine erste Auswahl von Bernfelds Schriften 1969-70 in drei Bänden
im März-Verlag unter dem Titel »Antiautoritäre Erziehung und
Psychoanalyse« unter der Herausgeberschaft von Lutz von Werder und
Reinhart Wolff herauskam. Diese erste Veröffentlichung stand ganz
im Zeichen des Bemühens, Bernfeld für die soziale Emanzipation in
der Bundesrepublik fruchtbar zu machen. Sein Einfluss auf die
damalige antiautoritäre Erziehung, die psychoanalytischen Ideen der
Erzieher, auf den Schulkampf und die Kritik der Reformpädagogik war
beträchtlich. Bernfeld wurde nach 1968 vom freudomarxistischen
Außenseiter zum Anreger einer kritischen Erziehungswissenschaft auf
sozialwissenschaftlicher und psychoanalytischer Grundlage. Auch
heute noch gilt seine Einsicht aus dem Vorwort zur 2. Auflage von
»Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung«, wo es heißt: »Nicht die
Pädagogik baut das Erziehungswesen, sondern die Politik. Nicht
Ethik und Philosophie bestimmen das Ziel der Erziehung nach
allgemeingültigen Wertungen, sondern die herrschende Klasse nach
ihrem Machtziel. Die Pädagogik verschleiert bloß diesen häßlichen
Vorgang mit einem schönen Gespinst von Idealen.« Erst die soziale
Erneuerung der Gesellschaft und die Psychoanalyse Freuds, die die
Erziehbarkeit des Kindes und die Erziehungsfähigkeit des Erziehers
verbessere, schaffe Raum für einen »höheren Menschentyp«.
Angesichts dieser bleibenden Aktualität war es naheliegend, dass
Ulrich Herrmann ab 1992 versuchte, eine 16-bändige Ausgabe
»Sämtlicher Werke« von Siegfried Bernfeld im Beltz-Verlag zu
veröffentlichen. Beim Konkurs des Verlags waren nur Bd. 1 »Theorie
des Jugendalters« (1992), Bd. 2 »Jugendbewegung und
Jugendforschung« (1994) und Bd. 11 »Sozialpädagogik« (1996)
erschienen. Erst 2010 ist, unter derselben Herausgeberschaft, der
neue Versuch einer Werkausgabe, diesmal in 12 Bänden, angelaufen.
Bis 2012 sind in rascher Folge die hier anzuzeigenden ersten vier
Bände herausgekommen. U. Herrmann wird bei seiner editorischen
Aufgabe von folgenden namhaften Wissenschaftlern unterstützt:
Daniel Barth, Werner Fölling, Maria Fölling-Albers, Wilfried
Datler, Rolf Göppel, Gerhard Benetka, Albrecht Hirschmüller und
Christfried Tögel. Für die Zukunft sind weiterhin pro Jahr ca. zwei
neue Bände geplant. Sie heißen:
– Bd. 5: »Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und
Psychoanalyse« (Frühjahr 2013)
– Bd. 6: »Vom dichterischen Schaffen der Jugend« (Herbst 2013)
– Bd. 7: »Trieb und Tradition im Jugendalter« (Herbst 2013)
– Bd. 8: »Sozialistische Pädagogik und Schulkritik« (Frühjahr
2014)
– Bd. 9: »Psychologie der frühen Kindheit« (Herbst 2014)
– Bd. 10: »Psychoanalyse und Psychologie« (Frühjahr 2015)
– Bd. 11: »Psychoanalyse und Psychophysiologie« (Herbst 2015)
– Bd. 12: »Studien zum Leben und Werk von Sigmund Freud« (Frühjahr
2016)
Die Werkausgabe ist nach Bernfelds Arbeitsschwerpunkten eingeteilt
und innerhalb der Bände chronologisch angelegt. So beginnt der 1.
Band mit seinen Versuchen zur Klärung des Jugendalters und der
Jugendkultur, die er von 1914-1938 publizierte. Das Jugendalter ist
für Bernfeld zum einen eine Zeit der sexuellen Identitätsdiffusion,
andererseits aber auch eine produktive politische Lebensphase, die
als Quelle sozialer Emanzipation genutzt werden kann. Er beschreibt
dabei die Unterschiede zwischen proletarischer und bürgerlicher
Jugend als verkürzte und verlängerte Pubertät und vermag aus dieser
Unterscheidung pädagogische Konsequenzen zu ziehen.
Der 2. Band umfasst Texte über Jugendbewegung und Jugendforschung
aus den Jahren 1913-1930. Bernfeld untersucht darin die
psychoanalytischen und jüdischen Grundfragen der deutschen
Jugendbewegung. So werden in dem Band u. a. seine Arbeiten zur
Schulreform und zur Gründung eines »Jüdischen Instituts für
Jugendforschung und Erziehung« in Wien dokumentiert. Seine
praktische Arbeit findet ihren Niederschlag in Beiträgen über einen
»Sprechsaal für Mittelschüler«, eine »Beratungsstelle für
jugendliche Angelegenheiten – Grüner Anker« und über das
»Akademische Komitee für Schulreform«. Auch seine Ansätze zur
biographischen Jugendforschung wurden in den Band aufgenommen.
Im 3. Band finden sich die Arbeiten aus Bernfelds »zionistischem
Jahrzehnt« 1914-1924, in denen er sich für die Errichtung eines
sozialistisch geprägten jüdischen Staates in Palästina einsetzte.
Er schrieb: »Palästina wird sozialistisch sein, oder es wird gar
nicht sein. Wir glauben so.« Dieses sozialistische Israel sollte
nach dem Vorbild der freien Schulgemeinden der Jugendbewegung
organisiert sein. Damit entwickelte Bernfeld wichtige Grundlagen
für die Kibbuzim als Basis des neuen jüdischen Staates. Sein
Erziehungsideal als Kern einer neuen Jugendkultur in Palästina
sollte die egalitäre Arbeits- und Gemeinschaftserziehung sein. Die
jüdische Jugendarbeit in Wien diente für ihn der Vorbereitung der
antiautoritären und sozialistischen Erziehung in Palästina.
Der 4. Band macht Bernfelds Arbeiten von 1919-1930 zur Theorie und
Praxis der Sozialpädagogik zugänglich, die angeregt waren durch
seine Erfahrungen im Kinderheim Baumgarten. Unter dem Begriff der
»Schulgemeinde« entwarf er 1928 ein Konzept für die Mit- und
Selbstbestimmung von Schülern und Heimkindern, wobei er auf eine
demokratische Ordnung der Fürsorgeinstitutionen als Rahmen der
Resozialisation abzielte. Als Ausgangspunkt der Sozialpädagogik
gilt Bernfeld 1929 der »soziale Ort«, der die soziale Determination
des seelischen Geschehens bei Kindern und Jugendlichen hervorhebt.
Bernfeld hält die Berücksichtigung des sozialen Ortes in der
psychoanalytischen Resozialisation für unverzichtbar, denn dieser
setze »für das bürgerliche und das proletarische Kind je eine
andere Chance der Entwicklung«. Resozialisationsinitiativen könnten
nur gelingen, wenn die Entwicklungschancen, die der soziale Ort
bietet, in der Heim- und Fürsorgeerziehung genutzt werden.
Mit dem Erscheinen des 12. Bandes im Frühjahr 2016 wäre ein
entscheidender Fortschritt in der Erschließung des Werkes von
Siegfried Bernfeld, dem einzigen deutschen linken Jugendforscher
und psychoanalytischen Pädagogen von Format, gelungen. Während die
dreibändige Auswahl-Ausgabe von 1969-70 rund 1000 Seiten umfasste,
präsentiert die neue Werkausgabe rund 6000 Seiten. An der früheren
Ausgabe wurde zwei Jahre gearbeitet, von einem einzigen
Herausgeber, an der neuen mindestens 20 Jahre, von einem mindestens
9-köpfigen Team. In den letzten 40 Jahren sind außerdem wichtige
Diskussionsbände zu Bernfeld und zuletzt die große
Bernfeld-Biographie von Peter Dudek (2012) sowie die Studie
»Kinderheim Baumgarten« (2011) von Daniel Barth erschienen, die
neue Forschungen zu Bernfelds Leben und Werk vorlegen. Auf solche
Vorarbeiten konnte sich die alte dreibändige Ausgabe nicht stützen;
in der neuen zwölfbändigen werden sie berücksichtigt.
Allerdings wurde jene frühe Ausgabe in den 68er Jahren vorgelegt.
Sie traf auf eine breite Jugendbewegung, eine erbitterte Diskussion
um die Schulreform und eine grundsätzliche Infragestellung der
Schüler-Lehrer-Beziehung. Damals wurden Bernfelds Ausgewählte Werke
mindestens 60.000-mal verkauft. Der neuen Werkausgabe ist ein
ähnlicher Erfolg zu wünschen. Bernfeld hätte es verdient. Denn
seine Anstöße zur Reform des Bildungswesens, zu weiteren
qualitativen Jugendforschungen, zur Verbesserung der
psychoanalytischen Ausbildung der Erzieher sind heute so aktuell
wie je. Selbst seine Idee des Aufbaus einer neuen Gesellschaft
durch Schulgemeinden ist als Idee der radikalen Demokratisierung
Europas von unten eine diskutable Anregung für die längerfristige
Bewältigung der gegenwärtigen Staats- und Schuldenkrise. Der
Utopist Bernfeld könnte sich im 21. Jahrhundert als Realist
erweisen. Dieser Realismus ist heute für Psychoanalytiker genauso
interessant wie für Pädagogen, Sozialpädagogen und Politiker.