Rezension zu Freud lesen
www.literaturkritik.de Nr. 6, Juni 2012
Rezension von Galina Hristeva
Nicht ex cathedra
Jean-Michel Quinodoz bietet eine »Gesamtschau des Freudschen
Werkes«
Von Galina Hristeva
Der Genfer Psychoanalytiker Jean-Michel Quinodoz ist dem
psychoanalytischen Leser mit Büchern wie »La Solitude Apprivoiseé:
L’angoisse de séparation en psychanalyse« (1991), »Les rêves qui
tournent une page. Rêves d’intégration à contenu paradoxal
régressif« (2001) und »Listening to Hanna Segal. Her Contribution
to Psychoanalysis« (2007) sowie mehreren Aufsätzen bekannt. Für
seinen herausragenden Beitrag zur Psychoanalyse erhielt der
jahrelange Redakteur für Europa der »International Journal of
Psychoanalysis« den Mary Sigourney Award 2010. Nachdem das im Jahre
2004 ursprünglich auf Französisch erschienene Buch von Quinodoz
»Lire Freud. Découverte chronologique de l’œuvre de Freud« in
mehrere Sprachen übersetzt wurde, ist es nun vom Gießener
Psychosozial-Verlag in seiner bisher sehr erfolgreichen Reihe
»Bibliothek der Psychoanalyse« auch auf Deutsch in der Übersetzung
Petra Willims veröffentlicht worden.
»Freud lesen« ist ein umfangreiches und sehr sorgfältig
strukturiertes Buch, das Sigmund Freuds Werk in drei Etappen
einteilt: I. Die Entdeckung der Psychoanalyse (1895-1910) II. Die
Jahre der Reife (1911-1920) und III. Neue Perspektiven (1920-1939).
Da Freuds Werk laut Jean-Michel Quinodoz »sich unentwegt
weiterentwickelt« hat, hat sich der Autor für die diachrone
Erläuterung der fundamentalen Texte, Begriffe und Konzepte Freuds
entschieden. Die »Erkundung der Texte« erfolgt in einzelnen, gut
nachvollziehbaren Schritten, wobei dem Leser durch Überschriften
jederzeit Orientierung geboten wird. Die Fokussierung auf die Texte
führt zu keiner Marginalisierung der biografischen Informationen
und der geschichtlichen Kontexte. Neben wichtigen biografischen
Stationen auf Freuds Lebensweg lassen sich in Quinodozs Buch auch
die Porträts einer Reihe weiterer »Pioniere« der psychoanalytischen
Forschung entdecken.
Der zweite Schwerpunkt des Buches neben der Besprechung der
Freud’schen Texte ist die am Ende jeden Kapitels zu findende Rubrik
»Postfreudianer«, in welcher der Autor kontroverse Probleme – oft
unter einer als Fragesatz formulierten Überschrift (»Sind in der
Gradiva Neurose und Psychose ineinander verwoben?«) – aufgreift und
die Stimmen der bedeutendsten Kritiker und/oder Fortentwickler der
Freud’schen Ideen vernehmen lässt. Auf diese Weise entsteht ein
Bild der Psychoanalyse als eine offene, aus einer »Vielzahl
unterschiedlicher Standpunkte« zusammengesetzte Wissenschaft.
Bemängeln könnte man die Ausrichtung des Buches fast ausschließlich
an den postfreudianischen Entwicklungen und die weitgehende
Vernachlässigung der vorfreudianischen Einflüsse, Texte und
Kontexte. Ablesen lässt sich dies etwa daran, dass ein ›Vorläufer‹
der Psychoanalyse wie Arthur Schopenhauer, auf den sich Freud auch
explizit bezieht, bei Quinodoz gar nicht vorkommt und Nietzsche nur
einmal in einer nicht völlig korrekten Behauptung genannt wird.
(»Der Ausdruck ›Es‹ war zunächst von Nietzsche verwendet worden,
ehe ihn Groddeck in seinem Buch vom Es aufgriff«.) Die Ignorierung
der vorfreudianischen Tiefenpsychologie verstärkt den auch sonst
von mehreren Bemerkungen vermittelten Eindruck einer Überbetonung
der Genialität, der Exklusivität und der »revolutionäre[n]
Neuerung[en]« Freuds (vergleiche etwa »geniale[r] Entschluss«,
»eine meisterhafte klinische Beschreibung« oder »mit unerhört
feinem Beobachtungssinn«).
Freud ist für Quinodoz ein Entdecker und Künstler zugleich: »Freud
schreibt wie ein Entdecker, der ein bislang unbekanntes Gebiet
erforscht, im Vorübergehen seine Eindrücke notiert, in seinem
Notizheft eine Skizze davon entwirft und manchmal etwas länger
Station macht, um seine Staffelei aufzustellen und die Landschaft
in einem Meisterwerk festzuhalten.« Das Werk des Begründers der
Psychoanalyse wird von Quinodoz als ein »offenes Kunstwerk« im
Sinne Umberto Ecos betrachtet, weshalb der Genfer Autor »mehrere
Arten der Freud-Lektüre« konturiert und die reichhaltige Ernte der
postfreudianischen Psychoanalyse präsentiert.
Die von Quinodoz dargebotene Vorstellung des Freud’schen Werks in
Form einer »chronologische[n] Reise« soll Freuds eigene
Entdeckungsreise wiederholen, es dem Leser ermöglichen, Freud »für
sich selbst [zu] entdecken« und ihn ermutigen, auch nach der
Lektüre dieses Buches Freuds Schriften zu erschließen: »Zu guter
Letzt möchte ich dem Leser eine gute Reise wünschen und ihn daran
erinnern, dass die Lektüre eines Reiseführers niemals die Exkursion
selbst ersetzt!«
Auf dieser Reise versteht sich Quinodoz lediglich als Begleiter –
eine Rolle, die meist wohltuend ist und dennoch nicht immer
befriedigt. Angesichts so vieler strittiger Fragen und manch
brisanter Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie und
Therapie ist die Distanzierung des Autors, die zwar verhindern
soll, dass bei der Freud-Lektüre »[nur] ein einziger Sinn sich
aufdrängt« (Mallarmé), der Klärung der aufgezeigten
Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen wenig förderlich.
So wird man bei der heiklen Frage »Wie wären Jung und sein Werk
heutzutage einzuordnen?« nur auf die Meinung Eugene Taylors (2002)
und auf ihre Gegenüberstellung der diesbezüglichen Positionen der
»Historiker des 20. Jahrhunderts« und der »neuere[n] historischen
Forschungen« verwiesen. Stellenweise bleibt der Autor seinem Leser
auch Erklärungen schuldig wie in folgender Bemerkung bezüglich der
Frage »Sind alle Psychoanalytiker Atheisten?«: »Mit Blick auf ihre
eigene religiöse Überzeugung sowie auf die ihrer Patienten ist es
für Psychoanalytiker, die doch so viel von Freud gelernt haben,
heute noch immer schwierig, eine von Freud unabhängige Meinung zu
vertreten.« Auf die Gründe dieses schwer wiegenden Befunds geht der
Autor jedoch nicht weiter ein. Vage ist Quinodoz auch bei der nicht
unerheblichen Mitteilung, Breuer und Freud hätten in den »Studien
über Hysterie« »in ihrem Enthusiasmus den Bericht über ihre
klinischen Fälle ein wenig geschönt«.
Das Buch besticht zweifellos mit dem sehr breiten Spektrum der
diskutierten Texte und Themen, worunter auch sämtliche Beiträge
Freuds zur Literatur- und Kulturwissenschaft zu finden sind. Was
die Auswahl der besprochenen Texte anbetrifft, bleibt die Frage
ungeklärt, welche Texte Freuds von Quinodoz zu den »Haupttexte[n]«
gezählt werden, bemerkt er doch, dass der »Entwurf einer
Psychologie« (1895) beispielsweise nicht dazu gehöre, und nach
welchen Kriterien diese Auswahl erfolgt. Relativ wenig Beachtung
findet im Buch die turbulente Geschichte der psychoanalytischen
Bewegung und besonders die Geschichte der psychoanalytischen
Institutionen, weshalb ein so hoch explosiver Text Freuds wie »Zur
Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« (1914) keine spezielle
Berücksichtigung findet. Die Brüche mit Carl Gustav Jung und Alfred
Adler und die Abfallsbewegungen werden zwar angesprochen, doch die
Einbeziehung dieses Textes hätte zusätzlich zur Beleuchtung der
institutionellen Geschichte und der »Geschichte der Widerstände«
(Freud) gegen die Psychoanalyse Freud auch als Historiografen
profiliert. Einige längere Auszüge aus Freuds Texten, die über die
von Quinodoz eingefügten kurzen Zitate hinausgehen, hätten die
»Lust am Lesen« und an der Erkundung des Freud’schen Universums
erhöht.
Aus dem »verrückten Unternehmen« von Jean-Michel Quinodoz, Freuds
mehrbändiges Opus in einem einzigen Buch darzustellen, ist trotz
seines Verzichts auf eine Darstellung ex cathedra etwas sehr
Solides geworden – ein ausführliches, meist tiefgründiges, sehr
kenntnisreiches, kompetent geschriebenes und zudem sehr
übersichtliches Nachschlagewerk, das einen Zugang zu Freuds Werk
durch viele Tore eröffnet. Ob damit Quinodoz selbst ein »offenes
Kunstwerk« gelungen ist, lässt sich allerdings bezweifeln: Der
Rücktritt vom Katheder an sich kann die »selbständige Mitwirkung
des Rezipienten« noch nicht auslösen und noch keine »Akte bewußter
Freiheit« (Eco) im Leser hervorrufen.
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