Rezension zu Die Macht der Emotion im Unterricht
Unsere Jugend. Die Zeitschrift für Studium und Praxis der Sozialpädagogik, September 2012
Rezension von Frank Winter
Margit Datler, 2012: »Die Macht der Emotion im Unterricht eine
psychoanalytisch-pädagogische Studie«
»Emotionen beeinflussen unser Wahrnehmen, unser Denken, unsere
Entscheidungsfindung [und] unser Handeln..., wenngleich wir uns
dessen nicht immer bewusst sind. ... Emotionen haben ... einen
bedeutenden Anteil daran, ob schulische Prozesse gelingen oder
misslingen« (11).
Diese Thesen nutzt Datler als Ausgangspunkt ihrer Studie. Sie
beginnt ihre 2012 vorgelegte Monografie mit Fallbeispielen
emotionaler Verstrickungen und Konflikte, wie sie im Feld Schule
alltäglich vorkommen. Die institutionellen Rahmenbedingungen der
heutigen Schule, die Persönlichkeitsstrukturen von SchülerInnen und
Lehrkräften treiben immer mehr PädagogInnen in den Krankenstand und
in die Frühpension und SchülerInnen in Resignation, Gewalt oder
Sucht. Insofern findet es Datler »erstaunlich, dass in einer
Vielzahl pädagogischer Publikationen der Bereich des Erlebens kaum
behandelt wird« (15), und sie geht den Fragen nach, welche
Einflüsse die Gefühle der Lehrkräfte auf die pädagogische Beziehung
haben und welcher Zusammenhang zwischen deren Emotionen und denen
der SchülerInnen bestehen mag.
Als Aufgabe des im Psychosozial-Verlag erschienen Bandes hat sich
Datler einerseits gesetzt, »Periodika der Psychoanalytischen
Pädagogik auf die Fragestellung der Bedeutung der Emotionen im
schulischen Bereich hin« zu untersuchen und gleichzeitig, »sich mit
der Frage [zu] beschäftig[en], was professionelle Kompetenzen im
Lehrberuf auszeichnet und wie sie entfaltet werden können«
(23).
Die auf die Erarbeitung dieser Fragen ausgerichteten
Literaturrecherchen des Buches sind umfangreich. Seine Gliederung
in sechs Kapitel ist überwiegend historisch, weniger thematisch
begründet. Gründlich geht Datler jedoch auch bei der Auswahl von
Fallbeispielen immer wieder auf die Kernfragen ihrer Untersuchung
nach der Bedeutung der Emotionen im schulischen Geschehen ein. Ein
Resümee und eine systematische Aufbereitung ihrer Ergebnisse
schließen jedes Kapitel ab. Im ausführlichen Anhang (231ff) findet
der/die interessierte Leserln Publikationen mit schulbezogenen
Darstellungen aus den elf Jahrgängen der Zeitschrift für
psychoanalytische Pädagogik, aus dem Jahrbuch für psychoanalytische
Pädagogik sowie aus der Buchreihe Psychoanalytische Pädagogik. Ein
umfassendes Personenregister schließt den ansprechenden,
informativen und fundiert verfassten Band ab (241ff).
Datler ist Psychoanalytikerin und Hochschullehrerin in Wien, sie
kennt Theorie und Praxis der Behandlungstechniken und in
zwischenmenschlichen Bindungen entstehende Verstrickungen ebenso
wie die pädagogischen Konfliktfelder und Fallstricke. So
präsentiert sie im zweiten Kapitel ihrer Studie einen umfassenden
Überblick über die Anfänge der psychoanalytischen Pädagogik (27).
Dabei verbindet sie die klinischen Gedanken aus den
psychoanalytischen Publikationen Freuds, Ferenczis, Jones u.a. mit
den Gründungsideen der psychoanalytischen Pädagogik und erzählt die
Geschichte der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, die
neben anderen von Paul Federn und Anna Freud herausgegeben wurde.
Später gesellten sich August Aichhorn und Hans Zullinger als
Mitherausgeber hinzu. Da sich insbesondere Zullinger immer wieder
mit dem Feld Schule befasste, untersucht Datler dessen Beiträge
ausführlicher (38ff), ehe sie ihren Blick auf solche Beiträge
erweitert, die sich expliziter mit dem emotionalen Erleben von
Lehrkräften und SchülerInnen befassen (44ff). Bei ihrer historisch
angelegten Reflexion findet Datler jeweils Fallvignetten, die eine
fast universelle Gültigkeit zu haben scheinen.
Für unsere heutige, von der Forderung nach Chancengerechtigkeit und
dem Inklusionsideal geprägten Schule scheinen die Arbeiten
Aichhorns mit dissozialen Adoleszenten besonders aktuell (50ff): In
Lehrkräften »entsteht den Verwahrlosten gegenüber häufig eine
Abwehrtendenz, die zuerst eine ›gefühlsmäßige, affektive Reaktion‹
ist, weil Dissoziale stören, die Disziplin untergraben etc.« (51).
Die Auszüge aus den frühen Artikeln Aichhorns können ermutigen,
seine frühen Schriften zum Verwahrlosungsproblem und seine
Monografie »Verwahrloste Jugend« wieder zu lesen, die ungebrochen
aktuell erscheinen.
In ihrem dritten Kapitel recherchiert Datler psychoanalytische
Literatur »zur Bedeutung des Erlebens von therapeutischen
Situationen von Psychoanalytikerinnen« aus der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, um zu verstehen, wie »in der Zwischenkriegszeit
[ein] Bild von psychoanalytisch gebildeten Lehrerinnen entstanden
ist« (63) und welche Bedeutung die Position Freuds für dieses Bild
psychoanalytisch geschulter Lehrkräfte hatte (80). Im vierten
Kapitel geht es um die »Bedeutung des Erlebens von therapeutischen
Situationen von Psychoanalytikerinnen« aus der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Mehrere nahezu wortgleiche lange
Kapitelüberschriften machen diesen Teil des Buches leider etwas
unübersichtlich, weil die inhaltlichen Bedeutungsunterschiede der
Kapitel sicher in griffigeren Fachtermini hätten erfasst werden
können als in einer recht künstlichen Teilung des letzten
Jahrhunderts in zwei Hälften.
Die »psychoanalytische Theorieentwicklung in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts ist komplex und differenziert« (89), und Datler
geht auf für den Schulalltag besonders relevante Aspekte in der
psychoanalytischen Betrachtung der Beziehungsdynamiken zwischen
AnalytikerIn und Analysandln ein. Sie ergänzt dies mit einem Blick
auf die Veränderungen bzw. Entwicklungen der psychoanalytischen
Behandlungstechniken und erwähnt dabei auch das Zerwürfnis zwischen
Freud und Ferenczi: Ferenczi hatte im Gegensatz zu Freuds strenger
Abstinenzregel seine Kollegen dazu aufgefordert, den PatientInnen
durchaus auch eigene tiefe Gefühle zu zeigen (100). In jedem
Lehrerzimmer könnten sich ähnliche Diskurse über eine angemessene
Nähe-Distanz-Regulierung zwischen Lehrkräften und SchülerInnen
entwickeln; nicht zuletzt an der Frage, ob es nicht problematisch
ist, wenn Lehrkräfte ihre SchülerInnen in sozialen Netzwerken als
Freunde posten.
Datler stellt in dieser Phase auf auch für PädagogInnen
verständliche Weise verschiedene psychoanalytische Leitbegriffe und
ihre Bedeutung für den Schulalltag dar und erklärt diese pointiert.
Sie erklärt »das Konzept der Rollenübernahme und des Mitagierens«
(122ff), »Containing und projektive Identifizierung« (128ff) und
das »szenische Verstehen« (135ff), deren reflektierte Nutzung im
Schulalltag nicht erst im Konfliktfall professionelles Handeln und
professionelle Distanz leichter herstellen lassen können.
Im 5. Kapitel untersucht Datler die jüngere Literatur
psychoanalytischer Pädagogik auf die Bedeutung der Emotionen (147)
und auf schulbezogene Beiträge, insbesondere das Jahrbuch für
Psychoanalytische Pädagogik und die Buchreihe Psychoanalytische
Pädagogik (151ff). Fortbildungsorientierte Aspekte wie die
Reflexion der jeweils eigenen affektiven Beteiligung am
Beziehungsgeschehen zwischen Lehrkräften und SchülerInnen und eine
eher an therapiebezogenen psychoanalytischen Positionen orientierte
Lehrkrafthaltung (197) geraten dabei zunehmend in den Fokus. Doch
das Buch bliebe fragmentarisch, hätte Datler daraus nicht gleich
pragmatische Konsequenzen für psychoanalytisch-orientierte
Weiterbildungsstrategien und supervisorische Praxisreflexion
entwickelt.
Die Erfüllung vielfältiger professioneller Anforderungen ist für
viele Lehrkräfte eine deutliche Last. Eine Gefahr besteht für
PädagogInnen darin, angesichts eigener enttäuschter Ideale und der
geringen eigenen Wirkmächtigkeit innerlich zu verhärten und im
Blick auf eigene Opferpositionen zu verharren: also ihre
Beziehungsfähigkeit zu den SchülerInnen zu verlieren. Datler möchte
mit ihrer Monografie dem entgegenwirken, ohne der Fantasie zu
verfallen, dass dieses einfach sei. Sie schließt:
,»Psychoanalytisch-orientierte LehrerInnen verfügen nicht über die
Macht, schulische Situationen überhaupt nicht mehr als belastend zu
erleben, aber sie eröffnen vielleicht sich und den SchülerInnen
Wege des Verstehens und des sinnvollen Intervenierens. Dies kann
der erste Schritt hin zu einer Entlastung, zu einer
Berufszufriedenheit und auch zum Erleben von Freude in der Schule
sein« (212).