Rezension zu »Er war halt genialer als die anderen«
Jüdische Allgemeine vom 30. August 2012
Rezension von Roland Kaufhold
Biografie
Jugendbewegt
Der Zionist, Reformpädagoge und Psychoanalytiker Siegfried
Bernfeld
»Er war halt genialer als die anderen.« So erinnerte sich Edith
Kramer, österreichische Exilantin und Begründerin der
Kunsttherapie, im hohen Alter an Siegfried Bernfeld. Sie war
verwandt mit ihm, hatte sich in Wien und später dann in den USA
durch sein rhetorisches Talent inspirieren lassen – für die junge
Psychoanalyse, für die zionistische Bewegung, die Jugendbewegung.
Edith Kramer erinnerte sich: »Ein großartiger Redner, irgendwo ein
Schauspieler. Ein faszinierender Vortragender. Er hat damit den
größten Erfolg gehabt; und hat wirklich die Psychoanalyse
beibringen können.«
Diese lebendigen Erinnerungen an den 1892 in Galizien geborenen, in
Wien aufgewachsenen Zionisten und Freud-Schüler Siegfried Bernfeld
teilte sie mit vielen Weggefährten, die durchgehend begeistert an
diesen intellektuellen Himmelsstürmer zurückdenken. Dokumentiert
ist dies in einer monumentalen, mehr als 600 Seiten umfassenden
Biografie, die dem Leser das imposante Gesamtwerk dieses
undogmatischen Linken und kritischen Freud-Schülers in eingängiger
Weise nahebringt.
Viele Jahre lang war der 1953 im Exil in San Francisco viel zu früh
Verstorbene vergessen. Erst die 68er-Bewegung entdeckte Bernfeld
und seine zahlreichen Beiträge zu einer kritischen Pädagogik
wieder, vor allem seinen 1925 geschriebenen »Sisyphos« oder »Die
Grenzen der Erziehung«. Eine Auswahl seiner Schriften erschien
anfangs in Raubdrucken, dann in den 70er-Jahren im S. Fischer
Verlag. Das Projekt einer Werkausgabe, immer wieder angekündigt,
scheiterte. Erst heute, wo die Begeisterung für die
psychoanalytisch-sozialreformerische Tradition der Psychoanalyse
schon lange versandet ist, legt der Gießener Psychosozial-Verlag
eine auf zwölf Bände angelegte Gesamtausgabe vor. In diese Reihe
gehört auch die hier besprochene, von dem Erziehungswissenschaftler
Peter Dudek verfasste Bernfeld-Biografie.
Progressiv
Bernfeld war während seines Studiums in Wien einer der maßgeblichen
Protagonisten der Jugendbewegung. Diese hatte, so wird heute
geschätzt, etwa 3.000 Anhänger, stieß jedoch wegen ihrer
progressiven Ausrichtung auch auf vehementen Widerstand. Bernfeld
war zeitgleich Redner, Impulsgeber und »wissenschaftlicher
Interpret« (Dudek). Vor allem jedoch wird uns Bernfeld als
Protagonist der zionistischen Bewegung vorgestellt: Infolge der
jüdischen Fluchtbewegung aus Galizien nach Wien im Ersten Weltkrieg
– »1914 lebten bereits 150.000 Kriegsflüchtlinge aus Galizien und
der Bukowina in der Stadt« – engagierte sich Bernfeld in seinen
theoretischen Schriften, aber auch als Organisator sowie konkret
handelnd 1918/19 in dem von ihm aufgebauten »Kinderheim Baumgarten«
für den linken Flügel der zionistischen Bewegung. Das Kinderheim
Baumgarten war ein kurzlebiges, aber bis heute vielfältig
dokumentiertes Modellprojekt einer jüdischen Erziehung für etwa 240
Kinder und Jugendliche.
Bernfelds Vorträge fanden Anklang. Im Januar 1918 bemerkte die
Jüdische Zeitung: »Bernfeld gilt uns, man darf es offen sagen, als
einer der Talentiertesten des Nachwuchses: als Mann von starker
geistiger Prägung«. »Ganz nebenbei« legte der produktive
Theoretiker 1919 die utopische Schrift Das jüdische Volk und seine
Jugend vor.
Bernfeld war zeitlebens von einer imponierenden Produktivität. Er
war Mitherausgeber der »Blätter aus der jüdischen Jugendbewegung«
sowie der Zeitschrift »Jerubbaal«. 1918 leitete er in Wien,
gemeinsam mit Martin Buber, den österreichisch-jüdischen
Jugendtag.
Produktiv
1920 ging Bernfeld für ein Jahr als Sekretär Bubers nach Heppenheim
sowie Heidelberg und war in dieser Funktion Herausgeber der
Zeitschrift »Der Jude«. Die Zusammenarbeit stand jedoch unter
keinem guten Stern. Bernfeld war kränklich, objektiv durch seine
zahlreichen Engagements überfordert. »Ein kurzes Intermezzo: Als
Sekretär bei Martin Buber« ist dieses Kapitel demgemäß betitelt.
Das Angebot der Zentrale der zionistischen Organisation, 1920 in
Palästina ein jüdisches Institut für Jugendforschung aufzubauen,
musste Bernfeld wegen seines labilen Gesundheitszustandes ablehnen.
Buber war von der Zusammenarbeit enttäuscht. Nach einem Jahr kehrte
Bernfeld nach Wien zurück.
Dort wurde er innerhalb kürzester Zeit trotz seines noch jungen
Alters zu einem zentralen Mitglied der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung. Und er publizierte weiter Buch auf Buch, engagierte
sich bei der Entstehung der Kindertherapie. 1925 ging Bernfeld,
sein Sisyphos war soeben erschienen, für sieben Jahre nach Berlin
und suchte neue Wirkungsfelder – zugleich eine Phase der
politischen Radikalisierung und einer sich noch steigernden
literarischen Produktivität. Bernfeld fand neue Mitstreiter; mit
dem ungestümen Wilhelm Reich verband ihn, trotz ihrer
thematisch-politischen Nähe, eine zutiefst ambivalente
Zusammenarbeit.
Exil
In der Phase der Emigration – Bernfeld floh 1934 nach Frankreich,
1937 emigrierte er in die USA – zerbrach diese Zusammenarbeit auf
tragische, bis heute nur schwer zu entwirrender Weise. Auch in
dieser Biografie finden sich keine überzeugenden Antworten auf
dieses Drama.
Bernfeld, der dreimal verheiratet war, emigrierte mit seiner
Familie über Frankreich nach Amerika. Der größte Teil seiner
Angehörigen vermochte sich zu retten, sein Bruder Manfred kam im
Konzentrationslager um. Bernfeld fand in San Francisco eine neue
Wirkungsstätte. Dort arbeitete er noch 16 Jahre lang. Als
Laienanalytiker wurde ihm eine psychotherapeutische Tätigkeit
untersagt, so arbeitete er als Lehranalytiker, Dozent und
Publizist. 1944 war er an der von Ernst Simmel organisierten
Konferenz über Antisemitismus – an der auch Max Horkheimer und
Theodor W. Adorno mitwirkten – beteiligt; sein Vortrag wurde im
Tagungsband nicht berücksichtigt.
Bernfeld kämpfte auch in den USA für die Laienanalyse und fand
weiterhin Schüler. Der 20 Jahre jüngere, ebenfalls in Wien
aufgewachsene Psychoanalytiker Rudolf Ekstein erinnert sich an ihn
als einen scharfsinnigen, sehr skeptischen Intellektuellen. Im
Zentrum von Bernfelds Engagement standen seine Entwürfe einer
Freud-Biografie. Viele Freud-Biografen zehrten noch Jahrzehnte
später von Bernfelds Forschungen, ohne dies immer angemessen zu
würdigen. Auf Deutsch erschienen sie erst 1981, 28 Jahre nach
seinem Tod.
»Siegfried Bernfeld und sein umfangreiches Werk sind weder
vergessen noch verdrängt«, konstatiert Peter Dudek in seinem
Epilog, nicht frei von Pathos. Seine Biografie verdient viele
Leser.
Peter Dudek: »›Er war halt genialer als die anderen.‹ Biografische
Annäherungen an Siegfried Bernfeld«. Psychosozial, Gießen 2012, 646
S., 59,90 €
www.juedische-allgemeine.de