Rezension zu Ein Junge namens Sue
Frauen beraten Frauen
Rezension von Bettina Zehetner
Wie erzählen wir die Geschichte unseres Lebens?
Entlang dieser Leitfrage werden in fünf Lebensgeschichten von
Transsexuellen ungewöhnliche Wege der Identitätsfindung
dargestellt. Menschen »haben« nicht einfach eine Identität, sondern
bringen diese permanent hervor – in Prozessen der
Auseinandersetzung mit anderen Menschen und kulturellen Normen, in
der Vermittlung zwischen innen und außen, Wünschen und
Anforderungen. In der sorgfältigen Analyse der narrativen
Interviews reflektiert die Autorin immer wieder den Prozess des
Erzählens sowie sich selbst als Teil der Gesprächsentwicklung.
Hautnah erlebbar wird hier die Konstruktionstätigkeit, sich eine
eigene Biografie zu erschaffen, rund um den Wunsch und die
Notwendigkeit, das körperliche Geschlecht der empfundenen
Geschlechtsidentität anzugleichen.
Die Eingangsfrage des Interviews »Wie bist Du zu der Person
geworden, die Du jetzt bist?« fordert die Herstellung einer
zielgerichteten Kontinuität der eigenen Lebenserzählung. Das
emanzipatorische Moment liegt im Aspekt der Gewordenheit, in der
Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit des eigenen Lebens. Die
sinnstiftende Vereinheitlichung und Interpretation, »immer schon«
(»eigentlich«) das andere Geschlecht gewesen zu sein, scheint
dagegen ein Zugeständnis an die gesellschaftliche Forderung, als
anerkanntes Subjekt notwendigerweise lebenslang genau eine
einheitliche Geschlechtsidentität zu haben – auch wenn die
empfundene Lebensrealität quer zu den Normen der
Zweigeschlechtlichkeit steht. Judith Butler zufolge ist jede
Geschlechtsdarstellung eine Kopie, die Nachahmung eines real nicht
existierenden Ideals und Identität somit ein nicht abzuschließender
Prozess.
Die Autorin versucht immer wieder den Blick der Leser_in auf den
gesellschaftlichen Hintergrund, die normativen Rahmenbedingungen
und somit auf die politische Seite der als privat präsentierten
individuellen Erzählungen zu lenken. Etwas Enttäuschung über die
Vereinzelung, die fehlende politische Perspektive der Erzählenden
klingt hier an. Die Infragestellung der Geschlechterdichotomie
selbst ist kein Anliegen der Erzählenden. Die Autorin ergänzt die
Interviews mit kritischen Kommentaren zur angeblichen
Notwendigkeit, den Körper der gelebten Geschlechtsidentität
»anzupassen«. Sie hinterfragt die manchmal stereotypen
Vorstellungen von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit«, ein
Interviewpartner stellt das Klischee des »falschen Körpers« von
Transsexuellen in Frage – diese Vielfalt an Positionen ist
erfrischend. Selbstverständliches in Frage zu stellen bedeutet,
neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen und so ist dieses Buch auch
ein Dokument über Menschen, die den Mut haben, sich zwischen dem
Bedürfnis nach Normalität und der Auflehnung gegen beschränkende
Normen neue Lebensräume zu erobern. Wünschenswert wäre etwas mehr
theoretischer Hintergrund zu den Themen geschlechtliche Identität,
Transsexualismus und Transgender, spannend wäre eine noch
eingehendere Metaphernanalyse. Insgesamt ein sehr gut lesbares,
materialreiches, lebendiges Werk über das Erzählen von
(Geschlechter)Geschichten und ihre identitätsstiftende Wirkung.
www.frauenberatenfrauen.at