Rezension zu Angst
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Nr. 6/2012
Rezension von Thomas von Salis
Die in diesem Sammelband wiedergegebenen Kongressbeiträge beziehen
sich nur teilweise auf das Kongressthema Angst.
Man findet Übersichten, klinische Arbeiten, Beschreibung von
Forschungsprojekten und Foren zu verschiedenen Themen, wie
Gruppenanalyse, Psychosomatik, Kinder- und Jugendlichenanalyse,
Aus- und Weiterbildung. Vieles wird geboten – der Natur einer
Tagung mit viel Publikum entsprechend sind es manchmal Vorträge mit
didaktischem Anspruch und wenig Erkenntniswert.
An einem etwas abgelegenen Ort im Buch (S. 243) erscheint Peter
Möhrings Arbeit »Zur psychoanalytischen Anthropologie der Angst«
wie eine unerwartete Perle. Er gräbt den alten Zürcher Lincke
wieder aus, der sich von uns viel zu früh verabschiedet hatte, und
fügt ihn mit anderen anthropologisch-psychoanalytischen Autoren
zusammen, um uns ein originelles Verständnis der menschlichen Angst
zu vermitteln. Es ist ein eigenes Buch im Buch, in Kapitel
unterteilt, in denen die Angst unter verschiedenen Blickwinkeln
untersucht wird, kurz die Freud’schen Angsttheorien, dann die
Devereux’schen Ansätze wiedergebend: Grund- oder Ur-Angst, »wenn
die Antwort des Gegenübers ausbleibt« (S. 246 und 258), das ist,
wie einleuchtend ausgeführt wird, die Angst vor dem Verlust der
Kultur. Dann schreitet der Autor zur Existenzphilosophie fort,
nennt Kierkegaard, Heidegger, Jaspers, Sartre: »Angst vor dem
Weltverlust«; es folgt das Unterkapitel »Angst und Sozialisation«,
wo die Faktoren der Umwelt untersucht werden – sie werden in
Übertragungen reaktiviert, die nicht nur im engeren
Beziehungsleben, sondern auch im Berufsfeld eine Rolle spielen
(Rollen und Bindungsmuster), wo die Anpassungsmechanismen (Parin)
der Angstbewältigung dienen – Angst wird eigens zu
Sozialisationszwecken erzeugt (Adoleszenzrituale); da wird sogar
mit induzierten Todesängsten operiert. Damit werden nicht zuletzt
die »in der Adoleszenz potenziell wirksam werdenden revolutionären
Kräfte« sozusagen eingefroren (Erdheim). »Bedrohung mit Isolation,
mit Verlust von Gruppenzugehörigkeit oder mit Tod« wird zur
Durchsetzung von Normen verwendet. In »Religion, Militär und
anderen Herrschaftssystemen … werden durch Ritualisierungen
reflexives Denken sowie Möglichkeiten zur Veränderung verhindert.«
– Hier mag noch hinzugefügt werden, dass Isabel Menzies-Lyth schon
in den 1940er Jahren die dysfunktionalen Angstabwehrformen in
Spitälern beschrieben hat.
Lincke (1981) beschrieb ein Moment der Angst, das aufgrund einer
phylogenetisch bedingten, spezifisch menschlichen Lücke entsteht,
nämlich zwischen dem Verlust des Instinkts und der Bildung einer
symbolischen Ordnung.
Lang (1996) bezog sich darauf in seinem Buch »Das Phänomen der
Angst« mit der Formulierung, »dass der instinktverarmte Mensch
einer radikalen Orientierungslosigkeit ausgesetzt sei« (S. 254 im
hier besprochenen Buch). Die so erzeugte Grundangst verlange nach
einer kommunikativen Ordnung und führe zur absoluten Abhängigkeit
von Bezugspersonen.
Die Konsequenzen für die Psychopathologie formuliert Möhring
anschaulich und unter kundigem Verweis auf die Psychoanalyse unter
dem Titel »Selbstverlust und Weltverlust in der Psychopathologie«
(S. 255f.).
Die Therapieforschung wird u.a. im Beitrag »Keine Angst vor
Psychotherapie (und Psychotherapieforschung)« beleuchtet, einem gut
lesbaren Forschungsbericht, der sich auf Telefoninterviews mit
einer repräsentativen Stichprobe in beiden Teilen Deutschlands
stützt. Die Ergebnisse deuten auf ein »hohes qualitatives Niveau
der psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland, dem aber
insgesamt ein quantitatives Versorgungsdefizit gegenübersteht« (S.
197).
Eine kurz angedeutete Schlussfolgerung verdient Aufmerksamkeit: »Es
bleibt kritisch zu hinterfragen, ob vorrangig Störungsspezifität
ein sinnvolles Paradigma und ein hinreichendes Kriterium für die
Differenzierung therapeutischen Vorgehens ist.« – Wie soll auch in
der ambulanten Praxis eine Differenzierung des Störungsbildes im
Voraus, bevor ein genügender Prozess zwischen Patienten und
Therapeuten in Gang gekommen ist, überhaupt möglich sein?
Im nächstfolgenden Forschungsbeitrag wird festgestellt, dass
»störungsspezifische Behandlungsansätze … innerhalb der
psychodynamischen Psychotherapie bislang wenig Tradition« hätten,
dass sich dies aber ändere, »wie die störungsbezogenen
psychodynamischen Manuale zur Behandlung von Angststörungen
dokumentieren« (S. 200). Dieser Artikel enthält eine gute
Beschreibung der Panikattacken, einschließlich des mit ihnen
einhergehenden Krankheitsgewinns (S. 203f.).
Der dritte Beitrag dieses Forschungsteils präsentiert manualisierte
Vorgehensweisen im Detail. Hier gilt es wie immer die Warnung vor
dilettantischer Anwendung zu beherzigen: Das größte Hindernis für
eine gute Psychotherapie sind nicht mangelndes Wissen oder eine
unzureichende Theorie, sondern die eigenen neurotischen und
psychotischen Mechanismen, die im Therapeuten selbst am Werk sind.
Die eigene Analyse und analytische Gruppenerfahrungen sind da
lohnenswerte Investitionen!
Thomas von Salis, Zollikon
www.sanp.ch