Rezension zu Zionismus und Jugendkultur

SLR – Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Gesellschaftspolitik 1/2012

Rezension von Burkhard Müller

Ein anderer Bernfeld?

Der Band versammelt Schriften Bernfelds aus den Jahren 1915 – 23, die wenig bekannt sind, weil sie in den Herausgaben des in den 1960er und 70er Jahren wiederentdeckten Bernfeld nur sehr begrenzt Aufnahme fanden. Dem Psychosozial-Verlag ist sehr zu danken, dass er in seine »BIBLIOTHEK DER PSYCHOANALYSE«, neben zu wenig beachteten Klassikern und Dissidenten der Psychoanalyse wie Otto Fenichel, Sandor Ferenci und Otto Rank auch Siegfried Bernfeld aufgenommen hat. Dies ermöglicht – hoffentlich – dass die von Ulrich Herrmann 1991 im Beltz Verlag begonnene und 1996 vorläufig abgebrochene Ausgabe Sämtlicher Werke Bernfelds doch noch zum guten Ende geführt wird. Der Band ist der dritte einer auf 12 Bände geplanten Werkausgabe, welche jene Edition mit einem erweiterten Herausgeberkreis wieder aufgenommen hat und ersetzen soll. Die Bände 1 und 2 zur Theorie des Jugendalters und zu Jugendbewegung und Jugendforschung seit Januar 2011 bereits erschienen – im Wesentlichen als Reprints der Beltz-Ausgabe. Der Band 4 der Schriften zur Sozialpädagogik, der in der Beltz-Ausgabe als Band 11 vorgesehen war, aber als einziger weiterer Band seit 1996 vorliegt, soll zu Jahresanfang 2012 neu erscheinen.

Der zu besprechende Band zeigt freilich weder den Sozialpädagogen noch den Psychoanalytiker Bernfeld; und als bekannter Vorkämpfer und Pädagoge der Jugendkulturbewegung erscheint er hier nur in einem besonderen politischen Kontext. Es ist die zionistische Bewegung vor und nach dem ersten Weltkrieg, der sich Bernfeld in jenen Jahren verschrieb. Seine Polemik gegen eine sich in der Assimilation an die westliche Kultur und ihren Humanismus erschöpfende jüdische Emanzipation – und für einen eigenen jüdischen Staat – scheint nicht so recht zum Bild des universalen Werten verpflichteten Sozialisten, psychoanalytischen Pädagogen und Jugendforschers zu passen. Es ist also erst noch der Stellenwert zu zeigen, den dieser Lebensabschnitt im Werk eines der bedeutendsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts hat. Bedenkt man, dass die Vernichtungspolitik der Nazis und ihren Konsequenzen mit und nach der Gründung des Staates Israel völlig veränderte Bedingungen für eine »zionistische« Politik geschaffen hat, so ist auch die Frage, ob Bernfelds »Zionismus« nicht nur als historisch gescheiterte Utopie von Interesse ist.

Bernfeld ist in der Phase vom Ende des 1. Weltkriegs bis ca. 1923 nicht mehr nur der von Gustav Wyneken inspirierte Anführer der Wiener Jugendbewegung und Theoretiker wie auch und Pionier einer empirischen Jugendforschung; aber noch nicht der kühle Analytiker der Pädagogik und Pionier einer gesellschaftswissenschaftlich und psychologisch fundierten Erziehungswissenschaft, der er mit dem Sisyphos (1925) wurde; auch noch nicht der Theoretiker eines »Freudo-Marxismus«, der die psychoanalytische Theorie des Jugendalters vorantreibt, indem er sie mit gesellschaftstheoretischen Analysen verknüpft, wie ihm das in seinem Schriften der späten 20er und frühen 30er Jahre gelingt (Müller, 2011). All dies klingt in den hier versammelten Schriften zwar an, bleibt aber als Argumentationshilfe dem zionistischen Anliegen untergeordnet. Dieser Band zeigt einen politischen Bernfeld, für den all jenes der Hauptaufgabe dient, der er sich in diesen Jahren widmet: Als Vorkämpfer und Vordenker einer Bewegung, die das westeuropäische Judentum bewegen will, die Sammlung eines jüdischen Volkes und Aufbau eines Staates in Palästina zu unterstützen und sich dabei gegen eine bedingungslose Assimilation in die westeuropäischen Völker kritisch zu positionieren. Dieser »zionistische« Bernfeld taucht in seinen mehr rezipierten Schriften kaum auf. Und wenn er darin sichtbar wird, – z.B. in »Kinderheim Baumgarten« (1921), wo die Untergliederungen der sich entwickelnden »Schulgemeinde« die Namen zionistischer Jugendorganisationen tragen – dann spielte das in fachlichen Rezeptionen dieser Schrift kaum eine Rolle, sondern wurde als nur historisch aber nicht inhaltlich bedeutsam behandelt.

Dieser Band könnte eine solche Sichtweise korrigieren. Er beginnt als erstem Teil mit dem Buch »Das jüdische Volk und seine Jugend« (1919), das in den Bernfeldausgaben von 1969 bzw. 1974 (Bd.3) nur mit seinem zweiten Teil unter dem Titel »Im Anfang war die Utopie« (1974) aufgenommen wurde, eingeordnet unter »Beiträge zur sozialistischen Erziehung«. Der übrige Band sammelt Vorträge, Aufsätze in Zeitschriften der zionistischen wie der jugendkulturellen Bewegung um deren Verknüpfung es Bernfeld vor allem ging. Dazu kommen Dokumente zu politisch-organisatorischen Aktivitäten. Interventionen und Aktionspläne. Theoretisch anspruchsvoll ist vor allem der mit »zionistische Beiträge« überschriebene Teil, der die Kritik am westlich assimilierten Judentum in einzelnen Aufsätzen entfaltet. Der folgende Teil zu »Zionismus und Jugendkultur« zeigt, wie Bernfeld diese Position in den Richtungskämpfen der jüdischen Jugendbewegung zur Geltung zu bringen sucht, vor allem in den österreichischen, vor allem Wiener Debatten um eine nach dem Ende des Habsburgerreiches zu entwickelnde Verbandspolitik. Der anschließende Teil über »Jüdische Erziehung« sammelt Vorträge und kleinere Aufsätze zu Schul- und Erziehungsfragen, während der letzte Teil Programmentwürfe und Organisationsskizzen zu drei Projekten jüdischer Jugend- und Erwachsenenbildung enthält, an denen Bernfeld im Wien der Jahre 1917 bis 18 führend beteiligt war.

Zu den Teilen im Einzelnen: Am ausführlichsten ist hier »Das jüdische Volk und seine Jugend« (1919) zu referieren, weil es schon die zentralen Gedanken enthält, die auch die kleineren Aufsätze und Kampfschriften des Bandes prägen, vor allem in dem erst hier wieder edierten ersten Teil dieses Buches. Er lässt sich nicht wie der bekannte zweite Teil unter die Utopien »sozialistischer Erziehung« einordnen. Bernfeld schlägt darin einen großen erziehungsphilosophischen Bogen, der passagenweise in brillanter Rhetorik die Argumentation des Sisyphos vorwegnimmt, aber auch immer wieder mit Tönen, die heutigen Ohren befremdlich klingen.

Er beginnt mit der Frage, was jüdisch sein, »Judenheit« eigentlich heute heiße, wenn sie in der Geschichte jüdischen Lebens unter fremden Völkern – bis hin zur »Tragikomödie unserer modernen Assimilationsbewegung« (20) – in der Paradoxie bestand: »Selbst im Aufgeben der Eigenart bleiben wir eigenartig« (ebd) – im Blick der andern, wie dem eigenen. Diese jüdische »Eigenart« zerfalle aber jetzt in zwei nicht akzeptable Alternativen: In die Transformation des »deutschen Juden« in einen »wesenlose(n) und wertfreie(n) Typus Mensch« (20): »Er macht sich breit, gelangt zu Macht, und weil ihn nur Geld und Bequemlichkeit über das Nichts seiner Existenz hinweghebt, nur geistiges Spielertum den Aufruhr zurückgedrängter Überreste edleren Seins verhindern kann, macht er diese beiden zum erstrebenswerten Ideal« (21 f.). Die Alternative dazu sieht er in der jüdischen Orthodoxie, die ihre Lebensweise »als Endziel für die Gesamtheit« (22) fordere und doch nur als »Untyp Mauschel«(21) öffentlich wahrnehmbar ist. Der Leser muss erst mal schlucken, wenn er Bernfeld hier mit heute nur noch als antisemitisch wahrnehmbaren Klischees operieren sieht, um seine zionistische Argumentation davon abzuheben. Diese polemisiert aber gleichermaßen gegen die platte Forderung nach einem jüdischen Staat im Sinne des Mottos: »Das jüdische Volk soll werden, wie alle andern sind« (25).

»Denn was möchte ungeheuerlicheren Aufwand an Geist und Kraft, an Mitteln und Werken verlangen, als die restlose Sammlung der ganzen Judenheit auf einer Scholle, ihre Verknüpfung mit einer ausschließlichen Sprache, ihre Organisierung in einem europäisch zivilisierten, bürgerlich-kapitalistischen Staatchen mit Ambassadeuren, Generälen und Advokaten, mit Liberalismus, Demokratie und imperialistischen Gebärden? Und was würde mehr an einzig gegebener Möglichkeit zu Geist und Erfüllung, zu wahrer Ordnung des Lebens, der Dinge und der Gemeinschaft vernichten als solche Untat am Judentum?« (25)

Ein »bürgerlich-kapitalistisches« jüdisches »Staatchen« wäre als Ergebnis der zionistischen Bewegung für Bernfeld eine Katastrophe. »Geist und Erfüllung« des Judentums könne dagegen nur aus einer inneren Bindung an sein »Zentrum« (vgl. 23) erwachsen. Als dieses bestimmt Bernfeld aber nicht die jüdische Religion, deren Verständnis und Stellenwert ja strittig ist, sondern die jüdische Geschichte, vor allem die der jüdischen Diaspora (Galuth), in der »das Zentrum aus einem Gegenwärtigen ein wehmütig erinnertes Vergangenes oder ein inbrünstig erhofftes Künftiges wurde« (23). Diese Bindung an die eigene Geschichte und »dieser Wille zum künftigen Judentum ist das Kriterium der Judenheit« (24). Was Juden zu Juden mache sei also nichts anderes als ein aus dem Eingedenken jüdischer Geschichte erwachsener utopischer Entwurf.

»So schwer halbassimiliertem Denken es sein mag, wir müssen es erfassen in seiner ganzen Folgenschwere, daß Judenheit nicht ein Volk ist, wie andere durch irgend ein äußeres Band, durch irgend ein inhaltliches Merkmal einheitlich, sondern daß ihr alle Gruppen zugehören, die sich binden an das jüdische Zentrum, es sei das vergangene oder das künftige« (24).

Da aber Bernfeld sich nicht damit begnügen will, Judentum als durch Erinnerung und Hoffnung geprägte geistige Verbundenheit zu fassen, muss er die Frage stellen: Wie kann dies Judentum aus einer geschichtsgebundenen ideellen Gemeinschaft zu einer real gelebten Gegenwart werden, wenn der Judenstaat als solcher das nicht bewirkt? Fasst man Bernfelds Antwort aufs Kürzeste zusammen, so lautet sie erstens: Durch Erziehung der Jugend. Da er aber der Überzeugung ist, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse die eigentlich bestimmenden Erziehungsmächte seien, ist diese Antwort notwendig durch eine zweite zu ergänzen: Eine Erziehung für jenes Ziel ist nur in einem eigenstaatlichen Gemeinwesen möglich. Beides zusammen ist die Grundfigur des Bernfeld/'schen Zionismus.

Er führt seine Argumentation in drei Gedankengängen. Zunächst analysiert er »Das europäische Vorbild und die jüdische Gegenwart« (27 ff.), fokussiert dabei aber nicht die europäischen Zustände im Allgemeinen, sondern das durch diese Zustände geprägte Erziehungswesen. Die entsprechenden Gedanken aus dem »Sisyphos« sind hier schon klar vorformuliert. Entscheidend präge »die Wirtschaft« (38) und die durch sie bedingte Klassengesellschaft Erziehung.

»Das europäische Erziehungswesen bietet eine langdauernde, bewußte und systematische Erziehung nur einer Klasse der Jugend; und dieser auch mehr einen Unterricht als eine Bildung: Nirgends handelt es sich um Kultur, um Menschenbildung; nirgends wird allgemeine Erfassung des Menschen erreicht; nirgends ist ein großes Ziel, das vor allen Maßnahmen schwebt, eine Idee vom Menschen, ein Bild einer Ordnung der Gesellschaft. Alles dient der Vorbereitung für das gegenwärtige Bürgerleben, seiner Privilegierung, seiner Erhaltung.«

Die unterprivilegierte Klasse dagegen werde, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz,

überhaupt nicht erzogen außer durch die Zwänge materieller Not (vgl. 36).

»Das charakterisiert dieses Zeitalter im pädagogischen Sinne, daß es zugleich ganz scharf und durchdacht, vielleicht sogar übertrieben, die Notwendigkeit der Erziehung aufschreit und zugleich keine ausübt; daß es dem ›Leben‹ die Erziehungsstätte entgegensetzt und doch unvermögend ist, dem ›Leben‹ das Erziehungsmonopol zu entreißen« (38).

Wie im Sisyphos wird das ›Geschrei‹ um die ungeheure Bedeutung der Pädagogik mit ihrer realen Ohnmacht gegenüber den Lebensverhältnissen konfrontiert. Die Reformpädagogen Montessori, Otto, Wyneken u.a. wie auch die Jugendbewegung könnten daran nichts ändern. Sie seien nicht mehr und nicht weniger als »Lichter im Nebel, nicht erhellend aber doch erlösend als Ahnungen des an sich Möglichen. Sie erst zeigen die Trübe des Nebels, die Tiefe der Finsternis« (40). Dabei stehen zu bleiben heiße für das jüdische Projekt aber bei den Fleischtöpfen Ägyptens hocken zu bleiben (vgl. 44). Kritik der Pädagogik und Begründung des zionistischen Projekts sind in diesem Sinn für Bernfeld zwei Seiten derselben Medaille.

Im zweiten Gedankengang »von der Jugend« führt Bernfeld eine im engeren Sinn pädagogische Argumentation. Seine Ausführungen zur Kindheit greifen wieder einem zentralen Gedanken des Sisyphos vor, dass der psychoanalytisch belehrte Blick auf das Kind vor allem als Blick auf die Grenzen der Erziehbarkeit zu verstehen sei (vgl. 45 ff.). Eine ganz andere Tonlage schlägt er aber an, sobald er auf Jugend zu sprechen kommt. Was Bernfeld hier skizziert, klingt eher wie eine Jugendpsychologie vom Typus eines Eduard Spranger, die das ›Wesen‹ von Jugend zu ergründen sucht, ihren Idealismus, ihre »Sehnsucht nach Gemeinschaft«, ihr bedingungsloses lieben-wollen, das zugleich »asketisch« sei (vgl. 64 f.) – das volle Programm. Allerdings hält Bernfeld auch hier seine entscheidende soziologische Einsicht fest, »die empirische heutige Jugend steht weit ab von dem gezeichneten Bild« (65). Seine Pointe ist gerade, ›Wesen‹ der Jugend und vorhandene gesellschaftliche Verhältnisse als unversöhnbaren Gegensatz zu zeigen. Deshalb sei auch die »ewige Jugend« der Jugendbewegung nur Untergang in Schönheit, die ihren Gegenpol einer zur »Jugendlosigkeit« verdammten Mehrheit verkenne (vgl. ebd).

»Kein Zweifel: Europa lagert am Gegenpol menschlicher Größe: Es straft sich fürchterlich selbst an seinen Menschen; verschwindend ist die Zahl derer, die nicht zur Jugendlosigkeit verdammt sind« (65 f.).

Bernfeld fährt fort: »Aber ebenso wenig ist ein Zweifel: Dies ist nicht Weltgesetz und war es nie« (66). Mit diesem trotzigen »aber« wendet sich Bernfeld wieder der politischen Ebene und seinem dritten Argumentationsgang über »Kultur-Erziehung-Volk-Führer« (67 ff.) zu. Denn der Erzieher, jedenfalls der jüdische, müsse als »entscheidende Vorfrage« an sein Volk und dessen Führer richten:

»Wollt ihr eine Jugend haben? Soll die Jugendzeit so lange dauern und so tief lebendig sein, als die Natur es zu gewähren vermag? Von der Antwort hängt die Gestalt des gesamten Erziehungswesens ab, und zwar in jeder Beziehung: sein Umfang, sein Inhalt, seine Formen, seine Ziele und die Gesinnungen seiner Träger« (67).

Bernfeld scheint hier ein ideales psychosoziales Moratorium für das Jugendalter vorzuschweben. Dies zu gewährleisten setze aber nicht nur eine andere Pädagogik, sondern eine andere Politik und Gesellschaft voraus, ebenso wie es diese hervorbringe. Eben deshalb aber gilt: »diese wichtigste pädagogische Frage ist doch keine pädagogische Angelegenheit« (67). Denn, wer sie ernst nimmt mache aus Erziehung »Einreihung der Jugend als tätigste Kraft, als Mittel in die allgemeine Revolution der Werte, der Dinge, der Welt« (69). Bernfeld scheint hier die »Natur« von Jugend als ein »radikales Bedürfnis« im Sinne Agnes Hellers (1976) zu verstehen. Heller meint damit Bedürfnisse, die unter gegebenen kapitalistischen Verhältnissen notwendig aufbrechen müssen, aber wegen ihrer systemsprengenden Kraft ebenso notwendig kanalisiert und unterdrückt werden müssen. Genau in diesem Sinn macht Bernfeld die Erziehung von Jugend zum Kern seiner zionistischen Idee. Pädagogik ohne diese Wendung ins Politische sei dagegen nur eine »wunderliche Kunstlehre«, die »an ihren eigenen Widersprüchen in Verruf geraten« sei (vgl. 70). Pädagogischer Umgang mit Jugend sei zwar nichts anderes als »Kenntnis, Achtung, Liebe« (72), »beobachtende, verstehende Versenkung in das Objekt – und das heißt Lieben« (72). Aber ob eine Pädagogik, die sich darauf einlässt, jenen Widersprüchen entkommt, entscheide sich nicht nur am Umgang mit jenen jugendlichen Bedürfnissen als solchen, sondern vor allem an dem was Bernfeld die »Ausgangskrise« des Jugendalters nennt . Vor allem sie ist in beschriebenen Weise eine zugleich pädagogische und nicht mehr pädagogische Frage. Führt im Übergang zum erwachsen Werden die Erziehungsmacht des »Lebens« unvermeidlich dazu: »nun mündet das Begehren rauschend in den großen Strom der Durchschnittlichkeit« (75)? Oder ist »der Pädagoge und seine Wissenschaft« in der Lage, »an uns alle, an das jüdische Volk« die Frage zu richten:

»Wollt ihr eure Jugend haben? Braucht ihr sie? Könnt ihr in eurer Welt Raum schaffen für sie? Nachdrücklichst: Denn diese Frage heißt nichts anderes als: Soll im Judentum Erziehung sein oder nicht? Sollen in ihm Erzieher wirken oder nicht?« (77)

Das »Wirken« von Erziehung in diesem radikalen Sinn kann aber nicht mehr Wirkung der Pädagogen sein; aber auch nicht die von Politikern oder andern partikularen gesellschaftlichen Kräften. Wie ist dann dem Dilemma zu entkommen, dass solche neue Erziehung nur unter der Bedingung einer neuen Gesellschaft »wirken« kann, aber andererseits diese nur aus einer neuen Erziehung hervorgehen kann? Bernfeld sucht die Antwort mit einem Sprung ins Dunkle. Sie kann nur von einer erlösenden Kraft kommen, die größer ist als die pädagogischen und politischen Kräfte. So holt Bernfeld zum Entwurf eines mythischen, messianischen Führers aus.

»Die Menschheit hat oft Bewegungen bei unterschiedlichen Völkern in mannigfachen Formen, mit gegensätzlichen Inhalten gesehen, die alle darin eins waren, daß die seelenerschütternden Wirkungen, die von einem Manne ausgegangen waren und lange schon einen kleinen Kreis fest zusammengeschlossen hatten, Freunde und Feinde innig verbindend in der gemeinsamen Ehrfurcht, in dem über alles Trennende verpflichteten Gefühl, daß dieser groß, unfassbar groß und ihrer aller Meister, geboren zu Führer des Volkes und der Menschheit ist, die engen Grenzen überschritten und in ungeahnter Schnelle Männer jeden Alters und jeder Art – auch Frauen (sic!) – hingerissen vom Erleben dieser Größe, emporgehoben über sich selbst, sie weihend einem über alle Maße schönen und erhabenen Ziel. Alles schien dieser Menschenschaft unwesentlich: Familie, Liebe, Staat und Wirtschaft, Vergnügen und Leben; belanglos hinzuwerfen vor dem einen: dem Führer, seiner Lehre, seinem Fordern.« (79)

Und als wäre das nicht genug, fährt er mit dieser Rhetorik fort:

»Nur so viel wissen wir, daß Größe Größe zeugt, daß im Bannkreis der Vollkommenheit das Niedrige sich zu adeln pflegt, daß in der Sonne des geliebten Führers Keime fruchten, nie geahnt und nie gehofft. Und das wissen wir: daß im Bannkreis der geistigen Gewalt das längsterstarrte Alter jugendliches Fühlen und Umbilden erlebt. Das wäre Kultur in einem Volke, so entfernt vom heutigen Begriff, wie Reinheit von der Gegenwart, wenn jene Möglichkeiten, die in der Tatsache des Führers und seiner unmittelbaren Beziehung zu seiner Gemeinde, seinem Volke beschlossen sind, sich verwirklichen würden in der Ordnung aller Dinge zwischen den Menschen.« (80 f.)

Man kann das heute nicht ohne leichtes Frösteln lesen, obwohl Bernfeld selbstverständlich nicht an die späteren Pervertierungen dieses Mythos von Hitler bis zu Kim Jong Il denkt, sondern an prophetische, messianische Traditionen anknüpft, sowie an große Lehrer des Volkes, die er in seiner anschließenden Utopie des jüdischen Gemeinwesens mit der Figur des »Morenu« einführt .

Diese konkrete Utopie im 2. Teil des Buches, die das Modell einer sozialistischen Erziehungs- und Lebensgemeinschaft als Keimzelle des zionistischen Staates in Palästina entwirft, ist aus den bekannten drei Bernfeldbänden geläufig, so dass ich hier auf eine Zusammenfassung verzichte. Interessant allerdings die Frage, ob Bernfeld damit tatsächlich, angeregt vielleicht durch seine Kenntnis von der ersten Gründung eines Kibbuz (1911), ein »blueprint« der Kibbuzbewegung vorgelegt hat, wie sein Freund Willi Hoffer meinte. Starken Einfluss darauf hatte er jedenfalls (Melzer/Yitzehaki, 1992). Ausführlich beschäftigt sich damit, auch auf Grundlage eigener Zeitzeugen-Befragungen, das lesenswerte Nachwort der Herausgeber (bes. 640 ff.). Es bestätigt diesen starken und direkten Einfluss des Bernfeld/'schen Entwurfes, jedenfalls auf einen Teil der Gründergeneration der Kibbuzbewegung. Interessant ist allerdings, dass laut dieser Recherche gerade diejenigen Pioniere dieser Bewegung, die sich explizit auf psychoanalytische Argumente stützten, in einem entscheidenden Punkt von Bernfeld abwichen (vgl. 646 f.) Deren strenge – umstrittene und später fallen gelassene – Betonung von Kollektiverziehung anstelle von Familienerziehung schon im frühen Kindesalter, sollte zugleich der Neurosenprophylaxe dienen, was sicher kein adäquates Verständnis von Psychoanalyse verrät. Bernfeld hat diese Auffassung nicht geteilt, sondern sich bei seinen Konzepten der Gemeinschaftserziehung vor allem auf das Jugendalter konzentriert.

Das Nachwort wirft ihm allerdings vor, dass er dabei nicht nur auf die suggestive Massenwirkung von »Führern« gesetzt habe (wie er sie noch in seiner Schrift über das »Massenproblem in der sozialistischen Pädagogik« (1927) vertritt), sondern auch pädagogische Zwangsmaßnahmen befürworte, und nur stellenweise der Geistesfreiheit von Jugend das Wort geredet habe (vgl. Nachwort 646): »Was er gar nicht in Betracht ziehen möchte: Eigen-Sinn, Widerstand – also gerade dasjenige, was das Jugendkulturkonzept auszeichnete« (ebd.: 645 f.). Dies scheint mir eine Fehlinterpretation zu sein. Es ist zwar wahr, dass Bernfeld im pädagogischen Verhältnis von der Begeisterungsfähigkeit von Jugend und nicht von ihrem Widerstand redet. Dies liegt aber daran, dass er sich mit dem Widerstand von Jugend gegen die bestehenden Verhältnisse glaubte einig zu sein, also selbst vom Standort des Jugendführers und nicht dem des Pädagogen aus spricht. Gegen diesen Vorwurf der Herausgeber spricht auch, dass der Schlüsselbeleg für die These vom sozialistischen Zwangspädagogen Bernfeld im Text »Universität und Volkskultur« (243 ff.) völlig aus dem Zusammenhang gerissen wird. Zitiert wird, dass Bernfeld da eine »Planwirtschaft des Geistes (sic!)« erwägt, welche »rücksichtslos (sic!) durchzusetzen die Aufgabe unserer sozialistischen Notwehr des Geistes (sic!) sein wird« (Nachwort, 645). Wer die Stelle im Bernfeldtext (252) nachliest, wird finden, dass Bernfeld hier keineswegs über Zwangserziehung der Jugend, sondern über eine möglicherweise notwendige Beschlagnahmung von Büchern für die Volksbildung spricht! Eher könnte zu jenem Vorwurf passen, dass Bernfeld in dem 1917 entstandenen Aufsatz »die jüdische Wissenschaft und ihre psychologischen Aufgaben« (179 ff.) recht unbefangen von einer zu entwickelnden »Psychotechnik« (vgl. 184 ff.) der jüdischen Jugenderziehung spricht; aber die dafür genannten Bezugsautoren wie Hugo Münsterberg, William Stern und Sigmund Freud sprechen kaum dafür, dass damit die »rücksichtslose« Durchsetzung sozialistischen Gedankenguts gemeint ist.

Bernfeld ist sich im Übrigen der Pathetik seiner Argumentationsweise durchaus bewusst. In einer in diesem Band vorangestellten »Selbstanzeige« des Buches schreibt er, er habe sich bemüht, wissenschaftlichen Ergebnissen den Charakter eines »Aufrufes« zu geben, weil »keine Übertreibung stark genug sein kann gegenüber so fest eingewurzelten, so in der Seele und in der Wirtschaft begründetem Aburteil, wie nun das ist, was man heute europäische Erziehung nennt. Demgegenüber gilt es festzustellen, was Jugend ist, oder besser, was sie sein sollte, weil sie allein es könnte« (12). Als illusionäre Hoffnung kann man das sehen, als Neigung zur Zwangsbeglückung von Jugend aber nicht.

Nun also zu weiteren Schriften des Bandes. Man kann den ersten Block dieser Texte einerseits als Ergänzungen der vorangestellten Schrift sehen; etwa die Beiträge »Universität und Volkskultur« (1920), »Über den Begriff der sozialistischen Erziehung« (1921) und »Über die Lehrerbildung« (1922), die Elemente eines Volksbildungssystems in Palästina umreißen. Andererseits setzt sich Bernfeld vor allem in den Aufsätzen »Die Assimilation um der Menschheit willen«, sowie »Die Aufgabe« (beide 1917) ganz grundsätzlich mit der These auseinander, die Idee eines kosmopolitischen Menschheitsideals verlange »die Assimilation der Juden, die Auflösung ihrer nationalen Sonderart und -existenz« (196). Obwohl diese These Diskriminierung zu bekämpfen behauptet, laufe sie darauf hinaus, die Kultur anderer Völker (z.B. des deutschen) zum Maßstab des Menschheitsentwicklung zu machen, weshalb »aus der Idee der Menschheit die Vernichtung irgend einer Nation nicht verlangt werden kann, ohne jene in sich selbst aufzuheben« (198). Es gehe hier um die Humanisierung des »politischen Menschen« und der habe »Sinn und Aufgabe nur in seiner natürlichen Gruppe, seiner Nation« (203). »Denn worauf es einzig ankommt, ist, daß die Gruppen sich auf den Weg zur Menschheit machen. Von der Bestialität führt kein Weg zur Humanität als durch die Nationalität« (203). Bernfeld argumentiert mit dieser Position gegen einen Antisemitismus, der seine Ressentiments ebenso gegen den angeblich heimatlosen jüdischen Kosmopoliten wie gegen den unangepassten Ostjuden richtet, vor allem aber gegen die darauf hereinfallende jüdische Selbstaufgabe . Gleichzeitig wehrt sich Bernfeld damit gegen den Vorwurf, Zionismus bedeute Abkehr von weltbürgerlicher Humanität. Ergänzt wird dieser Teil durch Beiträge, die Bernfeld als politischen Akteur in der Umbruchsituation nach dem 1. Weltkrieg zeigen, z.B. als Organisator einer Bürgerwehr aber auch als Agitator der sozialistisch-zionistischen Bewegung, etwa eine (nicht gehaltene) Rede an die Chaluzim (zionistisch-sozialistische Pioniere) zur »Vorbereitung für Palästina« (223 ff.), die im ersten Jahrgang (1918) der Zeitschrift »Jerubbaal« erschien.

Bei solchen zeitgeschichtlich gebundenen Texten ist die Qualität der editorischen Kommentare entscheidend und die ist hier im Ganzen vorzüglich. Sie bestehen vor allem in den ausführlichen Anmerkungen Ulrich Herrmanns zu den Erstveröffentlichungen, archivarischen Quellennachweisen, Entstehungsbedingungen und Diskussionskontexten. Nicht nur wird der zeitgeschichtliche Kontext transparent durch Informationen zu den Organisationen, Anlässen und Personen mit denen Bernfelds Texte verbunden waren. Vielmehr werden auch die Positionen von Mitstreitern, z.B. von Martin Buber, wie von Kritikern dokumentiert; zu letzteren z.B. die von Heinrich Margulies, der ein von Bernfeld kritisiertes (vgl. 369 ff.) »Programm« für den österreichischen Dachverband jüdischen Jugendorganisationen verfasste und sich in offenkundiger Konkurrenz um Wortführerschaft seinerseits differenziert mit Bernfelds Position auseinandersetzt (vgl. bes. 576 ff): Die Debatte ist durchaus spannend und bezieht sich auf Fragen wie: Lässt Bernfeld mit seinem Fokus auf Jugend die Bedeutung familiärer Bindungen im Kindesalter außer acht? Vertritt er (und Buber) eine zur Mystifizierung von Jugend und auf messianische Hoffnungen setzende Position (vgl. 578 f. und 569 ff.)? Lässt Bernfelds Jugend- und Jugendpolitikbegriff noch ein klares Konzept politischer Erziehung und realistischer politischer Organisation erkennen (vgl. 584 ff.)? Hilfreich sind solche Referenzen auch, um Bernfelds Argumentation in den weiteren Texten dieses Teils nachvollziehen zu können, in denen er als praktisch tätiger Protagonist und Organisator sichtbar wird, der den Umbruch der jüdischen Jugendbewegung gestalten will, von einer Protestbewegung im Kaiserreich zu festen Verbandstrukturen, die aus einer zusammengebrochenen alten Gesellschaft heraus zu neuen Ufern tragen können.

Auch der folgende Teil mit Beiträgen über »Jüdische Erziehung« (von 1916 - 1919) spiegelt diesen Umbruch. Er gehört inhaltlich zu Vorarbeiten oder Ergänzungen der einleitenden Hauptschrift des Bandes. Der programmatische Aufsatz »Zum Problem der jüdischen Erziehung« (1916) spitzt dabei die Argumentation noch nicht so zu wie jene Schrift, sondern argumentiert noch im Rahmen der Möglichkeiten des europäischen Bildungssystems. Ebenso die Beiträge aus dem Jahr 1917 zur Frage, ob jüdische Schulen wünschenswert seien, was in allgemeinen Schulen die Rolle jüdischen Religionsunterrichts sein könne sowie zur besonderen Aufgabe jüdischer Lehrer. Deutlich klarer einem zionistischen Programm und der Vorbereitung auf seine Umsetzung verpflichtet ist dagegen eine Reihe von Artikeln, die 1918 in der »Jüdischen Zeitung« (Wien) erschienen sind und unter dem Titel »Jüdische Erziehungsfragen« in den Band aufgenommen wurden.

Der letzte Teil des Bandes über »Jüdische Bildungsarbeit in Wien« gibt vollends einen Einblick in die Werkstatt des rastlosen Aktivisten Bernfeld in dieser Zeit des Umbruchs. Er sammelt Dokumente, die Bernfelds praktische Bemühungen um jüdische Volksbildung gegen Ende des 1. Weltkrieges belegen: Die Organisation zionistischer Arbeitskreise zur jüdischen Erziehung, von pädagogischen Kursen und den Aufbau eines »Allgemeines jüdisches Pädagogium« genannten institutionellen Rahmens für solche Kurse (1917-18). Inhaltlich ging es dabei, wie die dokumentierten Curricula ausweisen, vor allem um Qualifikationen für Mitglieder der Wiener jüdischen Jugendbewegung für eine pädagogische Tätigkeit nach der Auswanderung. Hebräischunterricht, Landeskunde Palästinas aber auch Reformpädagogik des Kindes und Jugendalters hatten darin zentrale Bedeutung. In diesem Teil, wie auch an andern Stellen, geben als Faksimile eingefügte Dokumente (z.B. Veranstaltungsankündigungen) zusätzliche Anschaulichkeit.

Wer eine Bilanz des Bandes zu ziehen versucht, muss zur eingangs gestellten Frage zurückkehren: Wie verhält sich dieser »zionistische« Bernfeld zu dem bekannteren Jugendforscher, Erziehungstheoretiker, sozialistischen Gesellschaftskritiker und psychoanalytischen Pädagogen Bernfeld, dessen Gedanken immer noch Leitstern einer kritischen Erziehungswissenschaft sein können? Geriet diese Seite Bernfelds zu Recht mehr oder weniger in Vergessenheit oder ist sie nicht nur faktisch, sondern substanziell wesentlicher Bestandteil seines Gesamtwerkes?

Als erster und vielleicht bedeutendster Beitrag dieser Schriften zu jenem Werk ist festzuhalten, dass man den kritischen Erziehungswissenschaftler Bernfeld nicht unverfälscht haben kann, wenn man ihn nicht zugleich als jüdischen Denker und Kämpfer für die Sache seines Volkes wahrnimmt. Bernfelds Kritik an einer »Assimilation um der Menschheit willen« lässt sich auch auf die Rezeption seines eigenen Werkes beziehen. Wer Bernfelds Gedanken ohne deren Verankerung in seiner kämpferischen Teilhabe am jüdischen Schicksal aufgreift, macht ihn zu einem Pädagogen »der Menschheit« und missachtet einen entscheidenden Kontext, in dem seine Gedanken wurzeln. Dieser Kontext prägte nicht nur, wie offenkundig, seinen Zugang zur Psychoanalyse, sondern auch seine Radikalkritik des Erziehungssystems, und erst recht seine Rolle als Pionier der Jugendforschung und Vorkämpfer einer Pädagogik, welche die Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als aktive Partner im Erziehungsprozess zugleich zur organisatorischen und politischen Frage macht. Weder sein soziologischer Außenblick auf die pädagogischen Konsequenzen der Psychoanalyse, noch seine »sozialistische« Kapitalismuskritik, noch seine besondere, »linke« Position im Kontext von Jugendbewegung und Reformpädagogik sind ohne diesen »jüdischen« Standort richtig zu verstehen. Erst dieser bindet solche Elemente des Bernfeld/'schen Werkes zusammen und schützt vor den einseitigen Rezeptionen (als »antiautoritärer« Pädagoge und Erziehungskritiker, oder als Sozialist und Kollektivpädagoge, oder nur als psychoanalytischer Pädagoge). Am deutlichsten lässt sich das am Beispiel von Bernfelds einflussreichstem Hauptwerk, dem Sisyphos zeigen, dessen zentrale Gedanken vor allem in »Das jüdische Volk und seine Jugend« schon vorformuliert sind. Sie sind es aber in einem Kontext, der deutlich macht: Die gesellschaftskritische Folie vor der Bernfeld seine Radikalkritik der Pädagogik zu denken wagt, stützt sich nur indirekt auf Marx und Freud, obwohl er das selbst behauptet (vgl. 1925: 66 f.). Direkt aber stützt sie sich auf eine Analyse der jüdischen Existenz, insbesondere der jüdischen Jugend, für die es im europäischen Kontext des 20. Jahrhunderts keine Lösung zu geben schien als die Gründung einer neuen Gesellschaft.

Dennoch fällt es nicht leicht, die enthusiastische, wenn nicht gar jüdische, Existenz und deren Jugend mystifizierende Seite des »zionistischen« Bernfeld in sein Gesamtwerk zu integrieren. Tatsächlich hat ja dies Werk ab dem Sisyphos nichts mehr davon, zeichnet sich unbeschadet starker Rhetorik durch große wissenschaftliche Nüchternheit aus. Man kann jene Seite deshalb als später überwundene Phase eines radikalen, aber noch unreifen Denkers interpretieren. Es bleibt aber aus heutiger Sicht irritierend, dass Bernfelds Sprache in diesen Texten mit seinen Appellen an das jüdische »Volk«, an seine Erlösungssehnsucht, an Jugend als zentrales Hoffnungspotential und »Führer«, die die Hoffnung erfüllen sollen, nicht fern von einer Sprache ist, deren sich auch die nationalsozialistische Propaganda in ihrem verschwurbelten Idealismus bedienten – freilich ohne Bernfelds kritische Rationalität als Gegengewicht. Bedeutet das, solche Äußerungen Bernfelds in einem Zeitgeist zu verorten, der zugleich geistiger Wegbereiter für deren Ungeist wurde? Bernfeld und/oder den Zionismus in diesem Sinn mit haftbar zu machen – oder gar im Sinn der obskuren Rede von einem »Komplott« zwischen Zionismus und Nationalsozialismus (Polkehn, 1987) zu argumentieren – ist zweifellos absurd. Als alternative Interpretation bleibt dann allerdings nur die Annahme, dass in die Ideologie der Nazis nicht nur deutsch-nationales, sondern auch zionistisches Gedankengut eingeflossen ist und für deren Zwecke pervertiert wurde. Dies scheint mir nach dieser Lektüre eine durchaus plausible Möglichkeit, die genauer zu untersuchen wäre .

Schließlich ist der Band, ganz unabhängig von seinem systematischen Stellenwert im Werk Bernfelds, eine überaus wertvolle Sammlung von Dokumenten zu der, abgesehen vom Holocaust und seinen Folgen, wichtigsten Epoche des Zionismus und seinem Kampf um einen eigenen jüdischen Staat. Nicht die Ereignisse selbst in und um Palästina vor und nach dem ersten Weltkrieg werden hier sichtbar (vgl. dazu Sebag-Montefiori 2011 Teil IX), sondern deren Resonanz im intellektuellen jüdischen Milieu Österreichs und indirekt auch Deutschlands. Bernfeld als kämpferischer und klar Partei nehmender Protagonist dieses Milieus liefert mit diesen Texten ein sehr lebendiges Bild von den Auseinandersetzungen, die dort geführt wurden. Das im heutigen politischen Diskurs beliebte Bild von der »jüdisch-christlichen« deutschen Kultur, die nur durch Antisemitismus und Verfolgung im Nationalsozialismus zerstört wurde, aber heute als politische Leitidee wieder restauriert und maßgebend sei, wird dadurch gründlich in Frage gestellt.

Literatur

Bernfeld, S., 1921: »Kinderheim Baumgarten«. In: Bernfeld, S., »Sämtliche Werke Bd. 11«, Weinheim und Basel 1996: 9 – 154
Bernfeld, S., 1925: »Sisyphos oder die grenzen der Erziehung«. Neuaufl. Frankfurt a. M. 1967
Bernfeld, S., 1927: »Das Massenproblem in der Sozialistischen Pädagogik«. In: Bernfeld, S., »Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse 3«. Frankfurt a. M.: 234 – 245
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