Rezension zu Freud lesen
Psychologie heute 1/2012
Rezension von Anne Ev Ustorf
Expedition ins Seelenleben
Im Jahr 1988 ließ sich der Schweizer Psychoanalytiker Jean-Michel
Quinodoz auf ein interessantes Experiment ein. Als Lehranalytiker
der Schweizer Psychoanalytischen Gesellschaft beschloss er, mit
einer Gruppe von Kandidaten die gesamten Werke Freuds zu lesen. Sie
gingen dabei chronologisch vor, angefangen bei Freuds und Breuers
Studien über Hysterie von 1895 bis hin zu Freuds letztem Text »Der
Mann Moses und die monotheistische Religion« von 1939. Um das
Gesamtwerk Freuds wirklich durchdringen zu können, ging Quinodoz’
kleiner Lesekreis streng systematisch vor. Bei jeder der
vierzehntägig stattfindenden Sitzungen besprachen der
Psychoanalytiker und seine Kandidaten jeweils die biografische,
ideengeschichtliche und postfreudianische Perspektive des
studierten Werks. Drei Jahre dauerte das Experiment insgesamt.
Quinodoz und seine Kandidaten erlebten die Freud-Lektüre als höchst
stimulierend. »Die Freudschen Werke in der Reihenfolge ihres
Erscheinens zu lesen, ohne bei einzelnen länger zu verweilen,
erlaubt dem Leser, die Entwicklung des Freudschen Denkens über
Jahrzehnte hinweg nachzuvollziehen«, erinnert sich der
Psychoanalytiker. »Denn Freud hat nicht eine Entdeckung gemacht,
sondern im Laufe seines ganzen Lebens eine Abfolge von
Entdeckungen, von denen eine die nächste nach sich zog. Es handelt
sich also um den Bericht einer Expedition, der bei unseren eigenen
inneren Forschungen als Führer dienen kann, bis wir unseren eigenen
Weg gefunden haben.« Mit seinem knapp 500 Seiten umfassenden Buch
bietet Jean-Michel Quinodoz eine hilfreiche Stütze bei der Lektüre
des Freudschen Werkes. Basierend auf den Sitzungen seiner
Lesegruppe, kommentiert der Autor die gesammelten Werke Freuds auf
fachlich versierte und dennoch gut verständliche Art und Weise.
»Freud lesen« ist ein wertvoller Begleiter für all diejenigen, die
sich mit dem Werk Freuds und der Geschichte der Psychoanalyse
beschäftigen.
Anne-Ev Ustorf