Rezension zu Intersexualität kontrovers
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Rezension von Heinz-Jürgen Voß
Intersexualität: Varianzen der Geschlechtsentwicklung
Abstract: Den Herausgeber/-innen gelingt es mit ihrem Sammelband,
einen Einblick in die wissenschaftliche, insbesondere die
medizinische Debatte um ›Intersexualität‹ zu geben. Es kommen
Vertreter/-innen unterschiedlicher Disziplinen zu Wort, und es
werden auch einige neuere Forschungsergebnisse zur
Behandlungszufriedenheit und zu den anatomischen und funktionalen
Ergebnissen der medizinischen Interventionen vorgestellt, die der
Deutsche Ethikrat für seine im Februar 2012 vorgelegte
Stellungnahme »Intersexualität« nicht herangezogen hatte. Stimmen
von Intersexen und Eltern von Intersexen haben in den Band leider
nur sehr vereinzelt Eingang gefunden.
Einordnung des Bandes in die aktuellen Debatten
Als ›Intersexualität‹ wird in der Medizin bezeichnet, wenn sowohl
als ›weiblich‹ als auch als ›männlich‹ betrachtete geschlechtliche
Charakteristika an ein und demselben Menschen auftreten. Da in der
derzeitigen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland dem
Geschlecht der Menschen eine große Rolle zukommt und lediglich zwei
Geschlechter – weiblich bzw. männlich – weithin gesellschaftlich
akzeptiert sind, wird uneindeutiges Geschlecht als problematisch
betrachtet und zu beseitigen versucht. Der Medizin kam dabei
bislang die Bedeutung zu, im ›Zweifelsfall‹ genauere Untersuchungen
anzustellen und auf das ›wahre Geschlecht‹ des Menschen – weiblich
bzw. männlich – zu schließen. Seit den 1950er Jahren fanden bei
›Intersexualität‹ meist bereits im Säuglingsalter
geschlechtszuweisende Eingriffe statt, die darauf zielten, ein
eindeutig ›weibliches‹ oder eindeutig ›männliches‹ Erscheinungsbild
der Genitalien herzustellen. Hierzu wurde der jeweilige Mensch oft
wiederholten operativen Maßnahmen unterzogen und schlossen sich
weitere Behandlungen wie (lebenslange) Hormontherapien und ggf.
psychologische Betreuung an. Die geschlechtzuweisenden
medizinischen Interventionen sind von Seiten der so Behandelten,
die sich in verschiedenen Initiativen zusammengeschlossen haben, in
der Kritik. Sie werden als äußerst traumatisierend und gewaltvoll
beschrieben.
Seit den 1990er Jahren haben die Intersex-Initiativen eine Debatte
in Gang gebracht, die eine mediale Wirksamkeit und schließlich auch
medizinische Fachverbände erreichte. Durch die Aktivitäten der
Intersex-Initiativen ist auch der UN-Ausschuss zur Überwachung des
internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau auf die Situation von Intersexen in der
Bundesrepublik Deutschland aufmerksam geworden. Er hat die
Bundesregierung aufgefordert, die Menschenrechte von Intersexen im
Land sicherzustellen. Daraufhin hat die Bundesregierung den
Deutschen Ethikrat mit einer Stellungnahme beauftragt.
Vor diesem Hintergrund ist auch der von Katinka Schweizer und
Hertha Richter-Appelt herausgegebene Band »Intersexualität
kontrovers – Grundlagen, Erfahrungen, Positionen« einzuordnen. Auch
in der medizinischen Forschung wird mittlerweile die medizinische
Behandlung – ob und inwieweit sie erforderlich ist – intensiv
diskutiert. Der Band, dessen Beiträge insbesondere auf Hamburger
Symposien zu ›Intersexualität‹ in den Jahren 2006 und 2008
zurückgehen, der aber auch neuere Artikel enthält, gibt Einblicke
in den aktuellen Diskussionsstand.
Eröffnet wird er mit Beiträgen zur Begriffsbestimmung und zu
einigen biologischen Grundlagen. Es schließen sich
gesellschaftliche und rechtliche Einordnungen an, bevor Beiträge
aus medizinischen Disziplinen ins Zentrum gerückt werden.
Rechtliche, politische und ethische Betrachtungen, die auch einige
mögliche Perspektiven aufzeigen, beschließen den Band. Allerdings
lohnt es, hin und her zu blättern, weil sich Beiträge zu den
einzelnen Gebieten im Band verteilt finden.
Das medizinische Behandlungsprogramm
Der Fokus des Bandes ist auf das seit den 1950er Jahren verbreitete
medizinische Behandlungsprogramm zu Intersexualität gerichtet.
Dieses wird zunächst in seinen Grundzügen und auch in den von den
Intersex-Initiativen problematisierten Punkten vorgestellt. Das
gelingt durch den Beitrag von Katinka Schweizer und Hertha
Richter-Appelt (»Behandlungspraxis gestern und heute«). Dabei
werden auch die neueren Behandlungsempfehlungen seit der Chicago
Consensus Conference, die im Jahr 2005 stattfand, vorgestellt. In
diesen werden eine stärkere Einbindung der Eltern in den
Entscheidungsprozess und insbesondere ihre ausreichende Aufklärung
sowie die Verbesserung der medizinischen Behandlungen thematisiert.
Von der medizinischen Definitionsmacht über Intersexualität und der
Darstellung von Intersexualität als behandlungsbedürftiger
Erkrankung wurde dort – und bislang – hingegen nicht abgerückt (S.
109). So einigte man sich in Chicago auch auf den neuen Begriff
disorders of sex development (Abkürzung: DSD, »Störungen der
Geschlechtsentwicklung«), der von Intersex-Initiativen als
pathologisierend kritisiert wird.
In der bisherigen Behandlungspraxis wurde insbesondere Wert darauf
gelegt, dass sich bei Intersexen eine eindeutige
Geschlechtsidentität – ›weiblich‹ oder ›männlich‹ – ausprägen
sollte. Das bedeutete, dass die jeweiligen Menschen eine eindeutige
gesellschaftliche Geschlechtsrolle annehmen sollten, orientiert an
Geschlechterstereotypen. Beispielsweise wurde angenommen, dass
Homosexualität ein Hinweis darauf sei, dass sich keine eindeutige
Geschlechtsidentität ausgeprägt habe. Die Hamburger
Forschungsgruppe Intersexualität konnte für ihre untersuchte
Stichprobe zeigen, dass dieses ohnehin fragwürdige Ziel nicht
erreicht wurde, dass sich ›trotz‹ der Behandlungen oft keine in
diesem Sinne ›eindeutige Geschlechtsidentität‹ ausgeprägt hatte. So
ermittelte die Forschungsgruppe für die Hälfte der Befragten eine
Verunsicherung der Geschlechtsidentität – wie Schweizer und
Richter-Appelt im Beitrag »Die Hamburger Studie zur
Intersexualität« darstellen. Dort geben die Autor/-innen auch
Ergebnisse an, die bisher unveröffentlicht sind und in die sie
einen ersten Einblick gewähren: »Weitere Ergebnisse beziehen sich
auf Aspekte der Lebensqualität in verschiedenen Lebensbereichen.
Insgesamt fällt eine hohe Beeinträchtigung des körperlichen und
seelischen Wohlbefindens auf. So litten über 60% der Teilnehmenden
sowohl unter einer hohen psychischen Symptombelastung als auch
unter einem beeinträchtigten Körpererleben. […] Die psychische
Symptombelastung, die z.B. anhand depressiver Symptome, Angst und
Misstrauen erfasst wurde, entsprach bei 61% der Befragten einem
behandlungsrelevantem Leidensdruck […]. Auch hinsichtlich
Partnerschaft und Sexualität zeigte ein Großteil der Befragten
einen hohen Belastungsgrad. […] Fast die Hälfte (47%) der
Befragten, die an den Genitalien operiert wurden, berichteten sehr
viel häufiger über Angst vor sexuellen Kontakten und Angst vor
Verletzungen beim Geschlechtsverkehr als die nicht-intersexuelle
Vergleichsgruppe« (S. 196 f., Hervorhebungen ausgelassen; vgl. auch
den Beitrag von Verena Schönbucher et al.).
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse empfehlen die Autor/-innen:
»[I]ntersexuellen Personen [sind] verschiedene Umgangsformen
anzubieten […]. Diese können medizinische Behandlungen umfassen,
müssen es aber nicht, solange keine zwingende vitale oder
gesundheitsbezogene Indikation vorliegt.« (S. 199) Sie raten ein
intensives Aushandeln der bestmöglichen Behandlung im Gespräch mit
dem jeweilig betroffenen Menschen und/oder den Eltern an. Warum sie
vor dem Hintergrund ihrer Ergebnisse, die auf massive Misserfolge
der Behandlungen hinweisen, nicht ein Ende oder zumindest ein
Moratorium – bis noch mehr Daten vorliegen – der
geschlechtszuweisenden medizinischen Eingriffe fordern, weil
Schäden für die Behandelten zu erwarten sind, begründen die
Autor/-innen nicht.
Auch an anderer Stelle im Band kommen Folgen der medizinischen
Behandlungen in den Blick. So werden etwa eine hohe Suizidneigung
von Intersexen thematisiert (Schweizer/Richter-Appelt, S. 189),
wird die sexuelle Lebensqualität diskutiert (Schönbucher, S. 207
ff.) und werden für Untergruppen der medizinischen Indikation
Ergebnisse von Behandlungen ausgeführt (Brunner, S. 233 und 236
ff.).
Rechtliche und ethische Aspekte
Zur juristischen Dimension von Intersex liegen bereits ausführliche
Betrachtungen von Konstanze Plett, Angela Kolbe und Oliver Tolmein
vor. Alle drei sind auch in diesem Band mit einem jeweils sehr
guten Beitrag vertreten. Zusammen vermitteln sie eine umfassende
Einordnung relevanter rechtlicher Fragen zu Geschlecht und
Intersexualität. Plett und Kolbe zeigen Wege auf, dass und wie eine
binäre Einordnung von Geschlecht im Recht überwunden werden kann
oder wie Geschlecht möglicherweise gänzlich aus dem Recht
gestrichen werden könnte. Tolmein berichtet aus der praktischen
juristischen Begleitung von Intersexen – unter anderem davon, dass
einige Krankenkassen Operationen zur Revision eines zugewiesenen
Geschlechts, wenn es eine/-r der Behandelten forderte, in
Einzelfällen nicht erstatten wollten.
Gleichzeitig rücken Fragen der Haftung durch Ärztinnen und Ärzte in
den Blick – unter anderem im Beitrag von Tolmein wie vor allem in
dem aus dem Englischen übersetzten Aufsatz von Garry L. Warne. Der
Autor beschreibt, wie eine mögliche Haftung die Entscheidung der
Ärztinnen und Ärzte bedroht, so dass sich diese in Australien
bereits genötigt sähen, vor einer vorgesehenen
geschlechtszuweisenden medizinischen Intervention juristischen Rat
einzuholen. Warne betrachtet vor dem Hintergrund gesellschaftlicher
Normen eine geschlechtliche Zuweisung – auch mit medizinischen
Eingriffen – als notwendig und fordert, dass diese in direkter
Aushandlung zwischen Mediziner/-innen und Patient/-innen bzw. den
Eltern geschehen müssten. Er verweist auf neue Erkenntnisse und
eine verbesserte Behandlungspraxis, wenn er schreibt: »Heute
versprechen beeindruckende wissenschaftliche Fortschritte […] eine
akkurate Diagnose bei einem Großteil der Patienten mit DSD. Die
Ergebnisse von Langzeitstudien fangen allmählich an, nützliche
Hinweise für den Umgang mit Behandlungsentscheidungen zu liefern,
die Nomenklatur und Klassifizierung wurde völlig modernisiert und
verbessert und die Krebsrisiken auf molekularer Ebene werden besser
verstanden.« (S. 306) Die übrigen Autor/-innen des Bandes sind hier
nicht so ›optimistisch‹ – und so erinnert das Verweisen von Warne
auf eine zukünftige Verbesserung der medizinischen Interventionen
an eine Diskussionspraxis, die Michel Reiter bereits im Jahr 2000
in einem Vortrag bei der wissenschaftlichen Fachtagung der European
Federation of Sexology skizzierte und kritisierte: »Werden Kritiken
an den geschlechtlichen Assimilationsmethoden laut, wie in den USA
seitens der Intersex Society of North America (ISNA) oder der AGGPG
[Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie,
gegründet 1996; Anm. HV] in Deutschland formuliert, versucht man
diese zuerst zu Spinnern zu erklären; und nützt dies nichts, werden
Übernahmeangebote an die Aktivisten getätigt, indem man ihnen eine
wissenschaftliche Karriere in Aussicht stellt und sie an einer
Modifikation ihrer Behandlungen beteiligt. Gleichfalls versichert
man, vor allem gegenüber der Öffentlichkeit, die Eingriffe humaner
zu gestalten, indem die Quantität der chirurgischen Eingriffe
reduziert, ihre Qualität und eine psychotherapeutische
Hilfeleistung dagegen expandiert werden. Beweise für diese
Behauptungen werden nicht geliefert. Man spricht von Fehlern in der
Vergangenheit und den technischen Weiterentwicklungen heute und in
Zukunft. Daß es dabei ungebrochen um des Gärtners Vorstellungen
geht, um viel Geld und Forschungsmaterial, um Prestige und Macht,
aber niemals um den Menschen, fällt dort nicht weiter auf«
(http://www.gigi-online.de/intervention9.html).
Kathrin Zehnder und Jörg Streuli stellen fest, dass die Debatten
von Seiten der Medizin oftmals nicht für kritische Einwände offen
sind (S. 396 f.). Änderungen seien notwendig, die tatsächlich auch
kritische Perspektiven aufnehmen, anstatt auf eine schwammige
Zukünftigkeit – die nicht einmal mit Quellen belegt wird – zu
verweisen und damit Kritiken auszuweichen. Ein solcher
respektierender Umgang mit aktueller Kritik wäre auch in den
medizinethischen Diskussionen nötig. So zeigte sich die
Stellungnahme des Deutschen Ethikrates nicht als unparteiisch und
weitreichend informiert, sondern von deutlichen Setzungen geprägt,
die nach außen aber nicht eindeutig kenntlich gemacht wurden. Dort
wurde – wie auch von der Grundanlage dieses Bandes – die Medizin
zentral gesetzt und Intersex ausgehend von dieser diskutiert. Dass
es eine ganz andere Sicht bedeuten könnte, Intersex nicht als
medizinisches behandlungsbedürftiges ›Problem‹, sondern als
individuelles wertzuschätzendes Merkmal anzusehen, bleibt damit
ausgeblendet.
Erst auf einer entsprechend weit aufgespannten Basis wäre eine
ethische Diskussion sinnvoll möglich, da nicht von vornherein
wesentliche Sichtweisen ausgeblendet würden. Gleichzeitig ist es
ethisch nicht sinnvoll, weiterhin ausgehend von dem
Behandlungsprogramm zu diskutieren, wenn sich herausgestellt hat,
dass es in vielen Fällen die Patient/-in dermaßen schädigt, wie es
bezogen auf die geschlechtszuweisenden Interventionen bei
Intersexualität der Fall ist. Das widerspricht wichtigen
medizinethischen Prinzipien; diese setzen zentral, dass der
Patient/-in zu nützen und nicht zu schaden sei. Gleichzeitig wird
der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen (›der Patient/-in‹)
mittlerweile immer breiterer Raum zugestanden. Katharina Woellert
führt im Band allgemein in die ethischen Prinzipien ein. Einen in
diesem Sinne weit aufgespannten Diskussionsbeitrag liefert Michael
Groneberg. Er stellt »Empfehlungen zum Umgang mit
Zwischengeschlechtlichkeit« auf, die nicht in der derzeitigen
starren Logik bleiben, nur das aktuelle Behandlungsprogramm und
mögliche Verbesserungen zu diskutieren. Er kommt zu dem Schluss:
»Zu fragen, welche spezifischen Eingriffe zur Geschlechtsanpassung
zu vermeiden sind, folgt der falschen Logik. Vielmehr gilt: Kein
Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes zum Zweck der
Geschlechtsanpassung oder -zuweisung ist erlaubt. Ausnahmen wie die
Abwendung von Gefahr für Leib und Leben sind klar zu regeln und zum
Teil bereits geregelt. […] Auch die UN-Kinderrechtskonvention
stellt die Geschlechtsidentität unter Schutz und setzt der
Entscheidungsgewalt der Eltern eindeutige Grenzen« (S. 498).
Beiträge mit kurzen Einführungen in historische und begriffliche
Fragen zu Intersex sowie kritisch zu diskutierende Einschätzungen
zu biologischen Fragen – in denen beispielsweise die Herausbildung
›weiblichen Geschlechts‹ als passiver Vorgang beschrieben wird,
eine Sicht, die so in der Biologie seit den Einwänden von Eicher
und Washburn in den 1980er Jahren nicht mehr vertreten wird – sind
dem Band vorangestellt. Eingebunden finden sich auch zwei Beiträge
von Müttern von Intersex-Kindern, die von ihrem Umgang mit den
gesellschaftlichen Normen und der medizinischen Diagnose
berichten.
Fazit
Im Band werden zahlreiche Stränge der medizinischen Debatte und
hierbei auch einige Kontroversen vorgestellt, insbesondere auch
einige neuere Studien zu den Behandlungsergebnissen der
medizinischen Interventionen, die für die weitere Debatte sehr
aufschlussreich sind. Im Sinne des Titels und der Ankündigung des
Bandes wäre es gewesen, Kontroversen deutlicher herauszuarbeiten,
um der Leser/-in den Zugang zu den unterschiedlichen Positionen zu
erleichtern. Hierfür wäre es auch wichtig gewesen,
Intersex-Initiativen zur Mitwirkung zu gewinnen; dass dies nicht
gelungen ist, bedauern die Herausgeber/-innen des Bandes in der
Einleitung.
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