Rezension zu Politische Psychologie heute?
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Rezension von Axel Bernd Kunze
Markus Brunner, Jan Lohl u.a. (Hrsg.): Politische Psychologie
heute?
Emanzipation, nicht Sozialtechnologie noch Politikberatung
Die Gestalt des Faches Psychologie hat sich zu Beginn des
einundzwanzigsten Jahrhunderts grundlegend gewandelt.
Geisteswissenschaftliche oder sozialphilosophische
Theorietraditionen sind stark an den Rand gedrängt worden, aus der
Disziplin ist eine nahezu ausschließlich empirisch arbeitende
Sozialwissenschaft geworden. Verschwunden sind aber auch Ansätze
einer kritischen Gesellschaftswissenschaft, die zu Zeiten der
Achtundsechzigerbewegung – erinnert sei nur an die
Sozialpsychologie der Frankfurter Schule – eine große Rolle
spielten. Ein an der Universität Hannover entstandener Sammelband
hat sich der Aufgabe gestellt, diese Traditionslinien wieder neu zu
bergen und auf heutige Herausforderungen hin fortzuschreiben – und
zwar unter dem Stichwort »Politische Psychologie«. Anders als in
den USA gehört diese Disziplin hierzulande nicht zum etablierten
Kern des Faches Psychologie.
Die Herausgeber und Autoren des Bandes verstehen sich selbst – im
Anschluss an Adornos Subjekttheorie – als Vertreter der Kritischen
Theorie. Die Frontstellung, die daraus folgt, wird bereits in der
Einleitung klar benannt: Es geht um einen »emanzipativen
Erkenntnisanspruch« (S. 10), nicht um eine bloße Psychologie der
Politik, eine Sozialtechnologie oder Politikberatung.
Herausgeber
Die fünf Herausgeber sind Koordinatoren der Arbeitsgemeinschaft
Politische Psychologie an der Leibniz Universität Hannover, lehren
und forschen aber an verschiedenen Universitäten zu psychosozialen
Themen.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung im Dezember 2009 in
Hannover zurück, auf der eigene Traditionslinien des Faches
aufgewiesen und im Blick auf neuere Theorien und Begründungen einer
Politischen Psychologie fortgeschrieben werden sollten. Eingeladen
waren Vertreter des Faches aus dem gesamten deutschsprachigen Raum
und aus verschiedenen Forschergenerationen. Die Tagung wurde
gefördert durch das Graduiertenkolleg, das Institut für Soziologie,
den Allgemeinen Studierendenausschuss, die Basisdemokratische
Fachschaft Sozialwissenschaften, Campus Cultur e. V. und den
Freundeskreis an der Leibniz Universität sowie der Kritischen
Universität Hannover, des Weiteren durch die Rosa Luxemburg
Stiftung Niedersachsen.
Eine die Tagung abschließende Podiumsdiskussion wurde zusammen mit
einigen Vorabdrucken bereits 2010 im Journal für Psychologie
publiziert.
Autorinnen und Autoren
Autoren des Bandes sind Karola Brede (Fachbereich
Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt), Gudrun Brockhaus (Psychoanalytikerin), Hans-Joachim
Busch (Sozialpsychologe an der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt), Guido Follert (Lehrbeauftragter an der Fachhochschule
Hannover), Lilli Gast (Professorin für Theoretische Psychoanalyse,
psychoanalytische Subjekt- und Kulturtheorie an der International
Psychoanalytic University Berlin), Isabelle Hannemann (Doktorandin
an der Leibniz Universität Hannover), Anke Kerschgens
(Gruppenanalytikerin), Christine Kirchoff (Projektmitarbeiterin am
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin), Hans-Dieter
König (Psychotherapeut und Psychoanalytiker mit eigener Praxis),
Julia König (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Allgemeine Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang
Goethe-Universität Frankfurt), Alfred Krovoza (Hochschuldozent am
Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover), Mihri
Özdogan (Soziologe und Sozialpsychologe), Samuel Salzborn
(Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen),
Christoph Heiner Schwarz (Lehrbeauftragter an der Fachhochschule
Frankfurt am Main), Greta Wagner (Mitglied der
Nachwuchsforschungsgruppe »Krise und normative Ordnung –
Variationen des ›Neoliberalismus‹ und ihre Transformation« im
Frankfurter Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer
Ordnungen«) sowie Michael Zander (Mitarbeiter am Institut für
gerontologische Forschung in Berlin).
Aufbau
Der Band gruppiert die Beiträge – im Anschluss an eine gemeinsame
Einleitung aus der Feder der Herausgeber – zu sechs Blöcken.
– Den Auftakt bilden zwei »Positionsbestimmungen« zu Notwendigkeit
und Stellenwert einer Politischen Psychologie.
– Der zweite Block beleuchtet »Traditionen, Brüche und
Neubewertungen« einer sich so verstehenden Psychologie, im Fall des
vorliegenden Bandes in Tradition der Psychoanalyse.
– Im dritten Block werden die Konzepte einer psychoanalytischen
Sozialwissenschaft aktualisierend mit weiteren Theorieangeboten
verknüpft, genauer mit dem Poststrukturalismus, der Queertheorie
und dem Habituskonzept von Pierre Bourdieu.
– Die beiden Blöcke im Mittelfeld des Bandes widmen sich konkreten
Anwendungsfeldern einer Politischen Psychologie, und zwar den
Themen Integration und Ausgrenzung sowie Geschlecht und
Sexualität.
– Den Abschluss bilden drei Beiträge zu konzeptionellen und
methodologischen Fragen einer psychoanalytischen
Sozialwissenschaft.
Ausgewählte Inhalte
Warum brauchen die Sozialwissenschaften die Psychoanalyse? –
Hans-Joachim Busch vertritt im zweiten Beitrag des Bandes –
gekennzeichnet als »Zwischenbilanz und Perspektiven« (S. 33 – 50) –
die Überzeugung, dass eine psychoanalytisch orientierte Politische
Psychologie den Reflexionsmöglichkeiten der verschiedenen
Individuen und Gruppen, sei es in der Berufswelt, in der Politik
oder im bürgerschaftlichen Engagement, zugutekäme. Die Politische
Psychologie stelle damit so etwas wie eine nichttherapeutische
»Beratungsgruppe« dar. Bereits zu Beginn wird damit der
wirklichkeitsverändernde Anspruch dieser Forschungsrichtung
deutlich.
Gudrun Brockhaus (S. 53 – 77) erinnert zu Beginn des zweiten Blocks
an Adornos Klassiker »The Authoritarian Personality« und beklagt,
dass sich die Fronten zwischen Kritischer Theorie, empirischer
Forschung und Psychoanalyse heute verhärtet hätten. Die Psychologie
bildet hier keine Ausnahme, was vielleicht nur ein schwacher Trost
sein mag – … gelingt doch auch in anderen Fächern ein Diskurs
zwischen stärker empirisch und stärker hermeneutisch arbeitenden
Richtungen immer weniger gut. Brockhaus sieht weiterhin gewichtige
Gründe, emotionale Determinanten, beispielsweise im Blick auf
»Faschismusanfälligkeit«, nicht außer Acht zu lassen. Die
Politische Psychologie könne vor monokausalen Erklärungen bewahren
und die Bedeutsamkeit unbewusster Motive im politischen und
sozialen Verhalten offenlegen. Damit dies gelingt, seien die Arbeit
an Quellenmaterial und ein interdisziplinärer Ansatz
unerlässlich.
Alfred Krovoza, dessen Beitrag (S. 79 – 91) sich unmittelbar
anschießt, geht ebenfalls vom autoritären Syndrom aus. Er
unterstreicht, dass in der gesellschaftlichen Realität das
Imaginäre und Symbolische, mit dem sich nicht zuletzt die
Psychoanalyse befasst, weiterhin einen entscheidenden Einfluss
behalte. Hierüber gesellschaftlich aufzuklären im besten Sinne des
Worte, stelle eine wichtige Aufgabe der Politischen Psychologie
dar.
»Alfred Lorenzers historisch-materialistische Psychoanalyse meets
Judith Butlers Queer Theory« (S. 119). Indem Julia König beide
Ansätze gegeneinander stellt, will die Diplompädagogin, die
Voraussetzungen für die Möglichkeit des Subjekts zu
Widerständigkeit und Emanzipation aufweisen. Beide Ansätze lassen
sich allerdings aufgrund ihres unterschiedlichen
Naturverständnisses nur begrenzt miteinander vermitteln. So lehnt
die Queertheorie die frühere Dialektik von Natur und Sozialität ab,
damit bestehende Machtverhältnisse und Zuschreibungen nicht weiter
perpetuiert werden (im vorliegenden Beispiel am »Heterosexismus«
näher erläutert. Dennoch sieht König Chancen, die
historisch-materialistische Gesellschaftstheorie Lorenzers
weiterzuentwickeln und mit einer politischen Sexualitätsanalyse zu
verbinden: eine Aufgabe, die im begrenzten Rahmen des Beitrags
allerdings eher als Möglichkeit angesprochen, nicht aber ausgeführt
wird.
Dies gilt auch für den Beitrag von Michael Zander (S. 145 – 160),
der sich mit der Habitustheorie bei Pierre Bourdieu beschäftigt.
Diese könne in Verbindung mit psychoanalytischer Sozialforschung
weiter differenziert werden: So vermutet Zander, dass
psychologische Ansätze dazu beitragen könnten, die Entstehung und
Tradierung einzelner Mentalitätsformen weiter auszuleuchten.
Ungefähr in der Mitte des Bandes wandeln sich die Beiträge: Waren
die bisherigen Beiträge vorrangig konzeptionell ausgerichtet, geht
es nun um konkrete Anwendungsfelder. So beschäftigt sich Samuel
Salzborn mit der Politischen Psychologie des Antisemitismus (S. 163
– 181) und plädiert für frühe Präventionsmaßnahmen: »Denn legt man
zugrunde, dass es sich beim Antisemitismus um Weltanschauung und
Leidenschaft handelt, die beide zwar von einer bestimmten
psychologischen, in der frühen Kindheit prädominierten Basis
ausgehen, sich allerdings erst entwicklungspsychologisch zu einem
geschlossenen Weltbild formen, dann liegt die mikrotheoretische
Perspektive zur Prävention von Antisemitismus vor allem in der
frühen Kindheit: in der Förderung der Fähigkeit zu abstraktem
Denken und konkretem Fühlen und damit der Stärkung authentischer
und situationsadäquater Artikulation eigener Bedürfnisse und
Interessen […]« (S. 176).
Guido Follert und Mihri Özdogan untersuchen das jüngere, mit dem
Aufbrechen der bipolaren Weltordnung verbundene Phänomen der
»Muslimenfeindlichkeit« (S. 183 – 221). Als einen Ausdruck dieser
Haltung verurteilen sie das Schweizer Minarettverbot. Für die
beiden Autoren trägt die »Muslimenfeindlichkeit«
verschwörungstheoretische Züge und richtet sich nicht allein gegen
eine bestimmte Religion. Vielmehr werde so die Verfassung der
Gesamtgesellschaft substanziell in Frage gestellt.
Christoph Heiner Schwarz beleuchtet Adoleszenzerfahrungen in einem
Flüchtlingscamp in der Westbank (S. 223 – 240). Das »Narrativ der
Rückkehr« sei für die Jugendlichen dort ein wichtiges Moment der
politischen Sozialisation; es habe seit Mitte der Neunzigerjahre
zunehmend an Bedeutung gewonnen, und zwar als zentraler
Bezugspunkt, um den herum widerstreitende Interessen und
Differenzen im politischen Selbstbild verhandelt werden.
Das zweite Anwendungsfeld betrifft die politische Sexualforschung.
So stellt Anke Kerschgens in ihrem Beitrag (S. 271 – 292) dar, wie
Eltern kleiner Kinder ihre Geschlechterverhältnisse heute
aushandeln müssten. Der Beitrag reiht sich ein in die neuere
Debatte um die Fürsorgearbeit von Frauen. Der gesellschaftliche
Wandel der Arbeitsteilung verlaufe durchaus widersprüchlich.
Bearbeitet werden könnten die Widersprüche nur dann, wenn sich
beide Geschlechter in der Paarbeziehung gemeinsam dieser Aufgabe
stellten.
Im abschließenden Block des Bandes rekonstruiert Hans-Dieter König
die Wirkungsweise politischer Inszenierungen, z. B. »politischen
Neusprech« in orwellscher Tradition, am Beispiel des »Krieges gegen
den Terrorismus«, den George W. Bush ausgerufen hatte (S. 295 –
320). Die Verteidigung des »American Way of Life« sei zugleich ein
Kampf gegen den Umweltschutz gewesen. Letztlich – so das Fazit des
Beitrags – habe der »Weltanschauungskrieg« gegen den Terrorismus
abgelenkt von sich verschärfenden Klassengegensätzen und
Klimawandel.
Diskussion
Gewiss, wer gesellschaftspolitische Phänomene wie zum Beispiel
Extremismus, Antisemitismus oder Gewalt umfassend erfassen will,
wird um einen interdisziplinären Zugang nicht herumkommen. Daher
ist es ein durchaus lohnenswertes Unterfangen, die politische und
gesellschaftstheoretisch orientierte Saite der Psychologie wieder
zum Klingen zu bringen. Aus Datenbeständen allein lassen sich noch
keine Erkenntnisse gewinnen, dies verlangt nach entsprechender
sozialphilosophischer Differenzierung und hermeneutischer
Vermittlung: Fragen, die viele Vertreter einer einseitig empirisch
orientierten Sicht auf psychische Phänomene kategorisch ablehnen.
Gleichwohl werden in der (gesellschafts-)politischen Debatte immer
wieder politische Schlüsse aus dem vorliegenden Datenmaterial
gezogen. Wo diese aber nicht hinreichend hermeneutisch verantwortet
werden, laufen entsprechende Schlussfolgerungen schnell Gefahr,
naiv, konventionell oder beliebig zu werden. Insofern ist es
durchaus Zeit, die politische Verantwortung der Psychologie und der
in ihr Tätigen wiederzuentdecken. Der vorliegende Band ist in
diesem Sinne ein längst überfälliger Stachel im Fleisch der
gegenwärtigen Psychologie.
Das gesamte Spektrum Politischer Psychologie deckt er hingegen
nicht ab, auch wenn der Titel »Politische Psychologie heute?« so
etwas möglicherweise suggeriert. Die Beiträge sind disziplinär wie
politisch klar und unzweideutig positioniert: Die Beiträge sind,
wie der Untertitel offenlegt, durchweg psychoanalytisch
ausgerichtet und stehen in Tradition der Frankfurter Schule. Auch
der politische Fokus liegt offen zu Tage, wenn man sowohl die Liste
der Unterstützer des Tagungsprojektes als auch die
Forschungsschwerpunkte (z. B. Ideologiekritik, Kritische
Sexualforschung oder Muslimenfeindlichkeit) im Autorenspiegel
durchsieht. Dies stellt in keiner Weise die Legitimation eines
solchen Projektes in Frage, doch wäre es wünschenswert, wenn sich
die Bandbreite einer politisch interessierten und engagierten
Psychologie künftig noch weiter erhöhen würde.
Die Themen, die zu bearbeiten wären, liegen auf der Hand, wenn man
bedenkt, in welchem Ausmaß langjährige politische Gewissheiten
gegenwärtig in Frage gestellt oder über Bord geworfen werden. Die
damit verbundenen sozialpsychologischen Folgen werden kaum bedacht
– doch gab es schon einmal andere Zeiten: Der Tod Margarete
Mitscherlichs hat erst vor Kurzem daran erinnert, dass es auch in
Deutschland einmal bedeutende Vertreter einer politisch engagierten
Psychologie gab, die keinesfalls ohne Einfluss waren.
Fazit
Politische Psychologie heute? – Sollte das Fragezeichen im Titel
auf die Notwendigkeit eines solchen Unterfangens abzielen, kann
darauf getrost mit Ja geantwortet werden. Der vorliegende Band
macht einen Neuanfang. Doch wäre es wünschenswert, wenn er weitere,
auch in der Ausrichtung durchaus gegensätzliche Gesprächspartner
finden würde. Erst im pluralen Konzert einer Politischen
Psychologie könnte diese ihr Profil schärfen und an neuer Größe
gewinnen.
Rezensent
Dr. theol. Dipl.-Päd. Axel Bernd Kunze
Privatdozent am Arbeitsbereich für Bildungswissenschaft der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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