Rezension zu Internet-basierte psychotherapeutische Nachsorge (PDF-E-Book)
Fokus Beratung. Informationen der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V. 20. Ausgabe
Rezension von Barbara Schneider
Die neuen Medien als Lebensräume – Virtuelle Neoheimaten und
Fluchten
Schwerpunktthema von psychosozial 122
Das Schwerpunktthema dieses psychosozial Heftes beschäftigt sich
damit, »welche Sichtweisen und Möglichkeiten die neuen Medien
bieten, welche Risiken und Gefahren sie bergen und welcher
Fähigkeiten und Strukturen sie bedürfen« (13). In ihrer Einleitung
bemerken die Herausgeber P. Laszig und Gerhard Schneider, wie
fragmentarisch ihr Unternehmen ausgefallen sei (15). Dies macht
aber auch den Reiz des Heftes aus. Das Fragmentarische erlaubt, von
mehreren Seiten sich den »neuen« Medien zu nähern und anzuknüpfen,
wo eine/r sich in der eigenen beruflichen Praxis befindet. Angenehm
empfand ich, dass es in fast allen Beiträgen in erster Linie darum
geht, Informationen zu vermitteln, Zusammenhänge zu erkennen,
Ähnlichkeiten und Unterschiede zu »offline« Beziehungen zu zeigen
und Ambivalenzen in den Blick zu bekommen, weniger darum, Urteile
abzugeben. In diesem Sinn empfinde ich die von den Herausgebern
genannten Stichworte für die weiterführende Reflexion einerseits
nützlich, aber auch verführerisch. Die Herausgeber sprechen von
»Kreativität vs. Entgrenzung und Omnipotenz«, »Entwicklungsort vs.
psychischer Rückzugsort«, »Omnipräsente Kommunikation vs.
Fähigkeit, allein zu sein«. (16)
Im Einzelnen wird die Rolle des Fernsehens beschrieben am Beispiel
des Films »Free Rainer – dein Fernseher lügt« (Weingärtner). Vier
Beiträge beschäftigen sich mit dem Internet als
Kommunikationsplattform: Liebes- und Sexpartner (Döring);
Krankheitsmetaphern (Tuschling); ProAna-Kult (Ettl); Cyberbullying
(Schultze-Krumbholz und Scheithauer). Zwei Beiträge handeln von
Spielen im Internet: ein therapeutisches Fallbeispiel mit einem
Jungen (Günter); Fantasy-Rollenspiele und Computerspiele (Janus und
Janus). Zwei Beiträge beziehen sich auf das Thema Psychotherapie
und Internet: Ist Psychotherapie im Internet möglich (Martin) und
Internet-basierte psychotherapeutische Nachsorge (Moessner, Zimmer
und Kordy). Im Rezensionsteil wird der psychotherapeutische Roman
»Eliza im Netz« von Wolf-Detlef Rost besprochen (Däuker).
Ich greife im folgenden einige der Beiträge heraus, die mich
besonders interessiert haben:
Nicola Döring untersucht »beiläufiges Kennenlernen von Paaren« und
»gezielte Partnersuche« im Internet. Durch das Internet sind neue
Möglichkeiten zum Kennenlernen entstanden (Online-Chats mit der
Tendenz – oft nach Altersgruppen und Themen differenziert –, sich
ungeschminkter zeigen zu können). Kennzeichen für Internet Kontakte
ist das »Kennenlernen von innen nach außen« (36) Bei
»Offline«-Kontakten ist der erste Filter das äußere
Erscheinungsbild, bei Online-Kontakten sind es Gesprächsthemen. Sie
eröffnen einen breiteren Fantasieraum. Wie bei »Offline«-Kontakten
sind aber auch hier soziale Kompetenzen erforderlich, und der
Übergang zu verbindlicheren Paarbeziehungen verlangt die Wahl
anderer Medien (Foto, Telefon).
Die Online Partnersuche stellt die Einzelnen vor die
Herausforderung, aktive Partnersuche und Verbindungsanbahnung zu
verbinden (Verbindlichkeitsansprüche weder zu früh noch zu spät
eingehen). Generell unterscheide sich die Online-Partnersuche nicht
von der »Offline«-Partnersuche, sie verstärkt aber eher die auch
sonst vorhandene Chancenungleicheit und hat die Tendenz,
Misserfolgserfahrungen zu vertiefen (dagegen das Angebot für
bestimmte Gruppen). Konventionelle Regeln für die Kontaktanbahnung
mischen sich mit dem Versuch, Konventionen zu überwinden (z. B.
ältere Frauen suchen jüngere Partner). Die Ambivalenz zwischen
Autonomie und Bindung ist nicht durch das Internet entstanden, wird
aber dort sichtbarer.
Anna Tuschling, Krankheitsmetaphern im Internet, beschäftigt sich
nur am Rande mit Gesundheitsinformationen durch das Internet sowie
deren Auswirkungen auf das Gesundheitsbewusstsein und die
Arzt-Patient-Beziehungen, sondern vor allem mit der Bedeutung von
Krankheitstagebüchern (Krebs, man denke auch an die früheren
Tuberkulosetagebücher) im Internet. Tuschling geht davon aus, dass
das Internet nicht Schwierigkeiten mit Anwesenheit hat, sondern mit
den geringen Differenzierungsmöglichkeiten zwischen den
symbolischen Gegensätzen von Abwesenheit und Anwesenheit. Die
fehlende Abwesenheit müsse markiert werden (50). Sie meint, dass an
diesem Punkt die Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod in ein
neues Licht gerät – der Tod als endgültige Abwesenheit. Sie zitiert
aus zwei Online Krebstagebüchern, die unterschiedliche Metaphern
für die Auseinandersetzung mit dem tödlichen Ausgang der Krankheit
wählen: Ivan Noble (52 ff.) betrachtet ihre Geschichte als Kampf
gegen den Tod – nach der Ansicht von Tuschling habe sich diese
Metapher aus dem militärischen Denken gelöst und sei ein Ausdruck
für die Arbeitsgesellschaft geworden. Ruth Picardie (56 ff.) dient
das Schreiben von Emails als Mittel, gegen das Schweigen über das
Sterben anzugehen und auf diese Weise die Tabuisierung des Todes
aufzuheben und die Imagination über die Krankheit zu verändern.
Interessant ist, dass es einen Wunsch nach Fortsetzung der tödlich
ausgegangenen Geschichte gibt und damit zu ihrer Beendigung: Noble
hat selbst einen Text verfasst, der ins Netz gestellt werden
sollte, wenn sie nicht mehr die Kraft zum Schreiben hat. Picardies
Mann und Schwester antworten mit zwei Nachworten auf die vielen
Email-Anfragen, als die Kranke nicht mehr in der Lage ist zu
schreiben.
Anja Schultze-Krumbholz und Herbert Scheithauer gehen in ihrem
Beitrag über Cyberbullying aus von untauglichen Strategien zur
Verhinderung wie das Verbot von Handys in der Schule: Das Opfer ist
jederzeit erreichbar, das potentielle Publikum ist groß, der Täter
kann anonym bleiben, und ein Feedback ist nicht möglich. Die
meisten Forschungen übersähen die Gruppe der sogenannten Bullys/
Victims, die sowohl Täter als Opfer sind bzw. »Offline«-Opfer sind
und im Internet Bullys werden. Nicht beachtet wird oft, dass auch
die Täter wie die Opfer unter den Folgen ihres Tuns leiden.
Cyberbullying verletzt das Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören,
besonders wenn ein Opfer von einer Gruppe Cyberbulling erfährt
statt von einem Einzelnen. Die Autoren sehen dringenden
Handlungsbedarf, der von der Vermittlung eines sinnvollem Umgangs
mit dem Internet ausgehen muss (ich erinnere mich an eine
Supervisionsgruppe mit Lehrerinnen. Eine Lehrerin erfuhr durch
Zufall von sexistischem Cyberbullying ihrer Person im Internet und
vermutete, von wem es ausging. Sie hatte vor, diesen Vorfall in der
betreffenden Klasse offen zu legen – mit Unterstützung einer in
Mediation erfahrenen Kollegin – und wollte sich mithiife der
Supervision klar werden, wie sie vorgehen und z. B. mit ihren
eigenen Schamgefühlen umgehen könne. Ihr Handeln gab der Klasse die
Möglichkeit, sich mit Cyberbullying auseinanderzusetzen, BS).
Ulrich und Ludwig Janus beschäftigen sich mit Computerspielen,
besonders mit »World of Warcraft«. Sie verstehen solche Spiele, die
sie als aus Fantasy-Rollenspielen entstanden sehen, als
Projektionsräume für Selbstbehauptungs- und Entwicklungskämpfe von
Jugendlichen und definieren ihre Struktur als eine
individualisierte Heldenreise. Sie lehnen sich dabei an das Konzept
der Individuation bei C. G. Jung an. Der in eine andere Welt
versetzte Held muss sich gegen Gefahren aller Art behaupten und
gewinnt dadurch an Autonomie und Selbstvertrauen. Die Autoren
bedauern, dass in der Regel eher die Wiederholung von traumatischem
Stress in den aggressiven Inszenierungen thematisiert wird und
nicht auch die konstruktive entwicklungsfördernde Aggression und
eine Einübung der Trennung von Fantasie und Realität. Letzteres ist
notwendig, um Strategien für den Missbrauch der Spiele (und der
Unterscheidung verschiedenartiger Spiele?, BS) zu entwickeln.
Rupert Martins Auseinandersetzung mit dem wachsenden Angebot von
Online-Therapie nutzt diese als Herausforderung, sich der eigenen
Professionalität zu vergewissern wie z. B. Beziehung als
Hauptfaktor gelingender Therapie, Kohärenz des Therapeuten mit
seiner eigenen Methode, Installierung eines Arbeitsbündnisses,
Mentalisierung von Affekten. Die (dabei verständlichen)
Abwehrtendenzen und Ängste der Therapeuten gegenüber dem Faktum
Therapie im Internet werden aber kaum thematisiert und von daher
werden auch keine Überlegungen angestellt, wie mit diesem Medium im
Bereich Therapie umgegangen werden kann. Eine Möglichkeit dafür
schildern Markus Moessner, Benjamin Zimmer und Hans Kordy in ihrem
Beitrag über online-basierte Nachsorge von stationär behandelten
Patienten. Sie beschreiben sowohl ein auf SMS basierendes
Selbstmonitoring-Programm zur Selbstauseinandersetzung mit den
Symptomen und weisen auf ein Programm hin für die Begleitung
chronisch verlaufender Krankheitsprozesse mit der Möglichkeit, eine
Behandlung bei Verschlechterung des Zustandes der Patienten in
Betracht zu ziehen. Außerdem berichten sie über ein Projekt mit
therapeutischen Gruppensitzungen im Chat. Diese Art der Nachsorge
ist gedacht als Brücke entweder zur Stärkung der
Behandlungsergebnisse bzw. des Transfers des in der Klinik
Erlernten im Alltag. Oder aber es dient als Überbrückung für die
Wartezeit bis zu einer anschließenden ambulanten Behandlung.
In allen Beiträgen geht es um die Frage, wie und ob die
Anforderungen durch die elektronischen Medien in die
beraterische/therapeutische Arbeit aufgenommen werden können. Wir
selbst haben mit ihnen zu tun, gleichgültig, mit wem wir in der
konkreten Arbeit oder im privaten Umfeld umgehen, welcher
Generation wir angehören oder wie sehr neue Entwicklungen uns
reizen oder eher ängstigen.