Rezension zu Die transzendierte Frau

Transgenderradio (Alex Radio)

Rezension von Andrea Bronstering

Die transzendierte Frau

Die Idee eines Geschlechtswechsels ist alt. Aus der europäischen Antike stammt das Beispiel des blinden Sehers Teiresias, der zur Frau wurde und nach sieben weiblichen Jahren ins männliche Geschlecht zurückkehrte, nachzulesen in den »Metamorphosen« des Ovid. Das Konzept eines hormonell-chirurgischen Geschlechtswechsels, der juristisch-sozial sanktioniert wird, ist eine Geburt des frühen 20 Jahrhunderts, vom deutschen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld trassiert. Das routinierte Management eines Geschlechtswechsels unter dem Titel Transsexualität ist in Deutschland gerade 30 Jahre alt, das Transsexuellengesetz und die Kostenübernahme für Hormone und Operationen durch die Krankenkassen markieren den Nullpunkt der transsexuellen Moderne. Doch lange vor der Zeit einschlägiger Foren im Internet, boomender Gender und Queer Studies an den Universitäten und einer Antidiskriminierungskampagne der Bundesregierung gab es Menschen, die ohne eine erkennbare Infrastruktur ihr Geschlecht wechselten, wagemutig und in Eigenregie zumeist. Ein bewegendes Zeugnis eines solch frühen Weges liegt nun unter dem sprechenden Titel »Die transzendierte Frau« vor, im Frühjahr 2012 im Gießener Psychosozial-Verlag erschienen.

Jean Lessenich wird 1942 in Remagen geboren. Nach einer Ausbildung im Grafischen Design, ersten Arbeiten im Layout, einer gescheiterten Ehe und einem Intermezzo auf dem Strich geschieht 1973 der chirurgische Wechsel vom männlichen zum weiblichen Geschlecht. Es folgen Jobs als Art Direktorin bei Werbeagenturen in Düsseldorf und Frankfurt, später als freie Illustratorin für Magazine in Hamburg und München. 1985 nimmt Jean die männliche Rolle wieder an, um der japanischen Lebensgefährtin via Heirat ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu verschaffen. Nach deren Tod 1996 lebt Jean zölibatär und geschlechtlich neutral, der jahrelange Verzicht auf Hormongaben führt schließlich zu gravierenden gesundheitlichen Problemen. Heute, mit 70 Jahren, sieht Jean Lessenich sich als Transfrau im Frieden mit sich selbst. Sie lebt in einem Dorf in der Eifel und arbeitet als bildende Künstlerin. Das geschlechtlich Changierende ihrer Person ist wunderbar aufgehoben im Vornamen – französisch ausgesprochen (Jean Gabin) ist er männlich, englisch ausgesprochen (Jean Harlow) ist er weiblich.

Lessenichs Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht ergreifend unorthodox. Sie macht sich in den 1960er Jahren auf den transsexuellen Weg, als Transfrauen bestenfalls die trübe Perspektive eines Lebens zwischen Nachtclub und Prostitution haben. In jenen Jahren ist Casablanca ihr Mekka, dort operiert der französische Gynäkologe Dr. Burou nach einer Methode, die für die Schaffung einer Neovagina noch heute vorbildlich ist. Jean Lessenich gehört in Deutschland zu den Pionierinnen, international zählt sie nach Christine Jorgensen, April Ashley, Coccinelle und Ian Morris zur zweiten Generation der Transfrauen. Beruflich kann sie reüssieren, sie arbeitet in den 1970er Jahren bei der legendären Agentur GGK in Düsseldorf. In jenen Jahren wird Werbung sexy, mutieren die Grafiker und Texter zu Popstars der Wirtschaft – und Jean Lessenich wird nach eigenen Worten »die erste transsexuelle Junior- und später vollwertige Art Direktorin der Werbe- wie der Transsexuellen-Geschichte.« Nicht zuletzt macht sie durch zwei langjährige Beziehungen prägende Erfahrungen mit außereuropäischen Kulturkreisen und deren Verständnis von Geschlechtlichkeit. Gemeinsam mit ihrer Freundin Grey hält sie sich länger in den Indianerreservaten der USA auf, mit ihrer Freundin Mori reist sie mehrfach nach Japan.

Lessenich nimmt wohltuend Abstand von den hartnäckigen transsexuellen Stereotypen, »immer schon« eine Frau gewesen zu sein oder eine weibliche Seele in einem männlichen Körper zu haben. Ihr Buch versteht sie als Rechenschaftsbericht über ihr Leben, als Versuch, im Sinne einer gelungenen Psychosynthese ihre Kindheit als Junge ebenso in ihre Biografie zu integrieren wie die Enttäuschungen, die sie ihren Eltern und ihrer Ehefrau mutmaßlich bereitet hat. Zwar kennt sie die frühkindliche Sehnsucht, ein Mädchen zu sein; zu ihren maskulinen Attributen entwickelt sie eine deutliche Distanz und spaltet sie imaginär ab. Ihren Penis aber hasst sie nicht direkt, er erscheint ihr einfach überflüssig zum Frausein. Sie beneidet die Nicht-Transsexuellen um die Selbstverständlichkeit, in einer dual organisierten Geschlechterwelt sich in genau einem Geschlecht fraglos zu hause zu fühlen. Das Gefühl geschlechtlicher Einsamkeit wird sie auch Jahrzehnte nach der Operation nicht verlassen, die verweigerte Anerkennung durch Teile der Frauenbewegung hat sicher das Ihre zu dessen Verfestigung beigetragen. Auf der Suche nach ihrer Identität sind die Begegnungen in den Indianerreservaten für sie sehr wichtig: »Nie hatte ich mich bis dahin als transsexueller Mensch von anderen Menschen so angenommen gefühlt wie bei den Native Americans.« So existieren bei den Navajo etwa die Nadleehe, wörtlich »die, die sich wandeln«, körperliche Männer, die durch die Übernahme weiblicher Tätigkeiten als Frau identifiziert und als solche akzeptiert werden. Die Praxis des japanischen Zen-Buddhismus hilft ihr, das Denken in statischen Polaritäten zu überwinden. So liegt die Lösung eines Koans im Aufgeben der Suche nach ihr. Auf die absurde Frage »Wie klingt das Klatschen mit einer Hand?« kann es keine kausale Antwort geben, nur die Einsicht, dass die Dinge sich wandeln, unabhängig vom Willen des Menschen: »Im Schnee bedecken die Zweige des Winters die Blüte des Frühlings.« Diese heitere Gelassenheit Lessenichs bei der Benennung ihrer Seele schwingt auch im fabelhaften Titel ihres Buches mit: Eine »transzendierte«, zurück gelassene, überwundene Frau ist eine, die annimmt, dass sie keine ist und den Schmerz über dieses Schicksal aushält. Zum Ende ihrer Geschichte kommt Lessenich in der transsexuellen Postmoderne an. Sie hat ja selbst als Transgender gelebt, mit einem verweiblichten Körper in der männlichen Rolle, in der Partnerschaft mit ihrer Freundin als Butch. Sie kennt die bleibende Trauer um die fehlenden Mädchenjahre, ebenso wie die Lust, sich als junge attraktive Frau zu inszenieren. Träumte sie früher davon, wie Brigitte Bardot auszusehen, orientiert sie sich heute an Rollenmodellen à la Susan Sontag. Schließlich attestiert sie heutigen Transfrauen, die ein frühes Coming-Out schaffen, die Chance, von ihrem ersehnten Gender assimiliert zu werden. Aber auch bei ihnen riecht sie die »Mischung aus Östrogenen, Parfum und Angst, die wir ausdünsten, wenn wir uns in die Öffentlichkeit wagen.« Spöttische, beleidigende oder gar bedrohliche Reaktionen sind nicht verschwunden, eine ordentliche Portion an Resilienz bleibt unabdingbar in einer verfestigt transphoben Gesellschaft. Lessenich empfindet Genugtuung darüber, dass sie nun zu den Veteraninnen zählt, ohne allerdings dadurch der Lösung des Rätsels Geschlecht näher gekommen zu sein. Ganz sicher ist ihre Erzählung wichtig für das kollektive transsexuelle Gedächtnis. Sie ist eine Einladung an die Nachgeborenen, ihr zuzuhören. Zu sagen hat sie allemal genug.

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