Rezension zu Knastmauke (PDF-E-Book)
»Die Tagespost«, Würzburg den 16. Juni 2012, Nr. 72, Seite 12
Rezension von José García
»Die Tagespost«, Würzburg den 16. Juni 2012, Nr. 72, Seite 12
Die Leiden der politischen DDR-Häftlinge
Über die heutige Situation ehemals Inhaftierter: Sybille Plogstedt
liest aus ihrem Buch »Knastmauke«
Von José García
»Mit den Stones fing alles an«. Die 15-jährige Angelika Hartmann
lebte 1965 in Berlin-Falkensee, als sie vom geplanten Auftritt der
britischen Rockband Rolling Stones in West-Berlin erfuhr. Das
wollte sie sich auf gar keinen Fall entgehen lassen, auch wenn sie
dafür durch die innerdeutsche Grenze musste, die damals noch nicht
aus einer Sperrmauer, sondern aus Stacheldraht bestand. Zusammen
mit einer Freundin schaffte sie es denn auch: Blutüberströmt
wurden die beiden 15-Jährigen von einer Westberliner
Polizeistreife aufgegriffen. Angelika konnte das Konzert besuchen,
blieb einige Monate in West-Berlin bei ihrem Vater und seiner neuen
Freundin. Sie kehrte jedoch nach einem halben Jahr nach Falkensee
zurück, ganz offiziell.
Als Angelika Hartmann 16 Jahre alt und damit strafmündig wurde,
erhielt sie eine Vorladung nach Nauen – vielleicht hing das damit
zusammen, dass sie einer Mitschülerin auf einem Zettel die Details
ihrer Flucht geschildert hatte und dann der bei der Stasi
beschäftigte Vater dieser Mitschülerin den Zettel fand. Oder kam
die Vorladung einfach deshalb, weil sie »die Klappe nicht richtig
halten« konnte? Dass sie zu einer Gerichtsverhandlung geladen
worden war, erfuhr sie nicht, weshalb ihr auch kein Verteidiger zur
Seite stand. Wegen »Anstiftung zur Republikflucht« wurde Angelika
Hartmann zu 17 Monaten Haft verurteilt. Heute, mehr als vier
Jahrzehnte danach, ist sie in psychologischer Behandlung. Sie
leidet insbesondere an Platzangst: Als sie vor Jahren einmal in
einem U-Bahn-Zug zwischen zwei Stationen stehen blieb, das Licht
ausging und ihre Haut etwas Pelziges streifte, kamen ihr die
Erinnerungen an die winzige, dunkle Arrestzelle und die Ratten
darin. Sie dachte, sie »würde sterben«.
Angelika Hartmann gehört zu den 802 politischen Häftlingen der
DDR, deren Lebenssituation nach der Wiedervereinigung Sybille
Plogstedt untersucht hat. Die Ergebnisse der 24 ausführlichen,
»qualitativen« Interviews mit Betroffenen und die Auswertungen von
mehr als 800 Fragenbogen hat die Publizistin in ihrem Buch
»Knastmauke – Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR
nach der deutschen Wiedervereinigung« zusammengetragen. Für die
472 Seiten starke Publikation wurde die promovierte Soziologin 2011
mit dem »einheitspreis – Bürgerpreis zur deutschen Einheit« der
Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet. Aus ihrem
Buch, das einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
leistet, las Sybille Plogstedt am Dienstagabend in der Berliner
Stiftung Berliner Mauer in der geschichtsträchtigen Bernauer
Straße. Die Journalistin und Autorin macht kein Hehl daraus, dass
ihr die Beschäftigung mit den »Knastmauken«, den Macken aus der
Haftzeit, der politischen DDR-Häftlinge dazu half, ihre eigene
Vergangenheit aufzuarbeiten: Die West-Berlinerin war selbst
zwischen 1969 und 1971 infolge ihres politischen Engagements im
Prager Frühling inhaftiert. Zwar leiden alle ehemaligen
politischen DDR-Häftlinge sowohl an physischen als auch an
psychischen Schäden.
Aus den Ergebnissen ihrer Studie stellt Sybille Plogstedt jedoch
einen Unterschied zwischen den Häftlingen der fünfziger
beziehungsweise sechziger und denen der siebziger und achtziger
Jahre fest: Überwogen zunächst die physischen Misshandlungen, so
setzt ab den 1970er Jahren die psychische Folter nach
»wissenschaftlich erprobten Methoden« ein. Die Folgen sind
verheerend: Unter den DDR-Häftlingen der 1980er Jahren nehmen die
Suizidtendenzen sprunghaft zu. Außerdem reagieren Frauen stärker
auf psychologische Folter – zwischen Frauen und Männern gibt es
signifikante Unterschiede, was Sybille Plogstedt anhand
selbsterstellter Grafiken illustriert. Allen gemeinsam ist
allerdings die Schwierigkeit, sich im Leben zurechtzufinden, sowohl
in familiärer als auch in beruflicher Hinsicht: Die meisten sind
kaum fa hig, eine dauerhafte Beziehung zu führen noch einer
regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Im anschließenden Gespräch mit
Jens Hüttmann von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur geht Sybille Plogstedt auch auf die finanzielle
Komponente ein: Ein großer Teil der DDR-Häftlinge lebt heute von
Hartz IV. Die Opferrente von 250 Euro im Monat ist da lediglich der
sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.
Die ehemaligen politischen DDR-Häftlinge hätten sich die Einheit
anders vorgestellt, so die Autorin. Aber: »Sie stehen dahinter.
Kaum einer wünscht sich die DDR zurück.« Rund 200.000 Menschen
wurden in der DDR zwischen 1949 und 1989 aus politischen Gründen
inhaftiert: einige, weil sie in den Westen fliehen wollten, andere,
weil sie nicht systemkonform dachten oder handelten. Dass viel mehr
Menschen als die in Plogstedts »Knastmauke« zu Wort Kommenden an
den Folgen der DDR-Haft bis heute leiden, macht etwa auch eine
Wortmeldung nach der Lesung deutlich. Ein Mann mittleren Alters
erzählt von seinen eigenen Erfahrungen. Dabei fällt es auf, wie
schwer er sich tut, sein eigentliches Anliegen vorzutragen: Eine
Adresse zu erhalten, wo er psychologische Hilfe in Anspruch nehmen
kann. Die Aufarbeitung der Traumata aus der DDR-Haft wird noch viel
Zeit in Anspruch nehmen. »Die Zeit heilt keine Wunden. Ganz im
Gegenteil: Das Haft-Trauma wächst, wenn es nicht therapeutisch
begleitet wird.« Schließlich habe bei den Opfern des
Nationalsozialismus die Aufarbeitung mindestens 30 Jahre gedauert.
Nach der Einheit sind aber erst 20 Jahre vergangen.