Rezension zu Freud lesen
psychosozial 128
Rezension von Christina Kurz
Jean-Michel Quinodoz (2011): Freud lesen. Eine chronologische
Entdeckungsreise durch sein Werk.
Jean-Michel Quinodoz, ein Genfer Psychoanalytiker, Mitglied der
International Psychoanalytic Association (IPA) und langjähriger
europäischer Herausgeber des International Journal of
Psychoanalysis (IJPa), hat mit dem vorliegenden Buch eine
gewaltige, über viele Jahre entstandene Arbeit vorgelegt, die sich
weit über die Begleitung durch das Werk von Freud hinaus als
spannende Lektüre erweist. Der Psychosozial-Verlag in Gießen hat in
seiner Reihe »Bibliothek der Psychoanalyse«, sieben Jahre nach
Erscheinen der französischen Originalausgabe, die sehr gute
Übersetzung dieses Werkes herausgegeben, für die ihm alle
deutschsprachigen an der Psychoanalyse Interessierten, vom Anfänger
bis zum Ausbildner, dankbar sein müssen.
Entstanden ist das vorliegende Buch aus einem 1988 begonnenen
dreijährigen und mehrmals wiederholten Ausbildungsseminar zur
chronologischen Lektüre des Freud’schen Werkes.
Zur Einführung lässt uns Quinodoz teilhaben an seinen vorgängigen
Überlegungen, dem Setting und den Erfahrungen mit diesem
mehrjährigen Seminar. Diese einführenden Seiten (S. 12–19) sind
jedem psychoanalytischen Ausbildner zu empfehlen. Eine dreiseitige
Zeittafel, in der Freuds biografische Daten den zeitgleichen
Veröffentlichungen gegenübergestellt werden, beschließt die
Einführung.
Von Anfang an konzipierte Quinodoz seine »chronologische
Entdeckungsreise« durch das Werk Freuds als »Vernetzung der Texte«,
aus den verschieden Perspektiven des »Biographischen«, der
»Ideengeschichte« und der »postfreudianischen Entwicklungen« – was
das Buch zu einer sehr anregenden und auch für gute Kenner des
Werkes von Freud beglückenden Auseinandersetzung mit der
Freud’schen Psychoanalyse macht. Diese Vernetzung und die
zahlreichen eingefügten Exkurse machen das Buch denn auch im
Vergleich zu bisherigen Begleittexten durch das Werk Freuds
besonders wertvoll und eröffnen neue Perspektiven auf den vom Autor
bevorzugten klinischen und technischen Ansatz der
Psychoanalyse.
Die Werke Freuds teilt Quinodoz in drei Hauptgruppen ein: I. Die
Entdeckung der Psychoanalyse (1885–1910), II. Die Jahre der Reife
(1911–1920) und III. Neue Perspektiven (1920–1939).
Jede der behandelten Freud’schen Schriften, seien es Bücher oder
Artikel, bilden ein eigenes Kapitel, teilweise zu Gruppen
zusammengefasst, mit aussagekräftigen Untertiteln und einer knappen
Einführung, die das behandelte Werk in den Gesamtzusammenhang der
Freud’schen Schriften stellt. Die jeweiligen Werke werden
anschließend ausführliche und pointiert dargestellt, verknüpft mit
vielen anregenden Gedanken und Bemerkungen des Autors.
Sehr lesenwert und als eine wahre Fundgrube für alle an der
Psychoanalyse Interessierten erweisen sich die zahlreichen
eingefügten Beiträge:
– Unter der Überschrift »Diachrone Entwicklung der Freudschen
Begriffe« wird dem Leser das Werden einiger zentraler Begriffe
nahegebracht, die eine längere Entwicklungszeit im Werk Freuds
beanspruchten, wie unter anderem der »Ödipuskomplex« und die »
Übertragung«.
– Unter »Biographien und Geschichte« liefert uns der Autor
biografische Angaben zu Freud, aber auch zu den wichtigsten
Patienten Freuds und zu wichtigen Psychoanalytikern nach Freud, wie
auch zu zeitgeschichtlichen Ereignissen, im Kontext des
besprochenen Werkes.
– Unter den Überschriften »Postfreudianer« stellt Quinodoz in
eigenständigen Beiträgen die Weiterentwicklung wichtiger Konzepte
aus den besprochenen Freud-Texten vor. Es werden bevorzugt
klassische, gewisse kleinianische und, aus dem Sprachraum von
Quinodoz, französische Autoren berücksichtigt. Auch das Denken
Lacans wird in mehreren Beiträgen vorgestellt und in seinen
Abweichungen von der klassisch freudianischen Anschauung in
Theorie, Technik und Ausbildung auch klar kritisiert. Dagegen wird
erstaunlicherweise die »Allgemeine Verführungstheorie« von
Laplanche mit ihrem Neuentwurf der Triebtheorie mit keinem Wort
erwähnt (außer in der Literaturliste).
– Unter »Chronologie der Freudschen Begriffe« werden zu jedem
besprochenen Freud-Text die wichtigen Stichworte aufgeführt. Diese
»Chronologie« erweist sich als große Hilfe, falls der Leser einen
Terminus durch die verschieden Schriften Freuds verfolgen
möchte.
– Eine Literaturliste aller zitierten Werke und ein hilfreiches
Namen- und Sachregister beschließen das Buch.
Mit belebter Neugierde wird sich der Leser bei der Lektüre von
Freud lesen in neue Leseabenteuer stürzen wollen, sind doch einige
Literaturempfehlungen mit dem dem Autor eigenen Humor und seiner
Liebe zu Bildern und Metaphern so verführerisch nahegebracht. Da
gibt es viele Leckerbissen zu entdecken – die hier jedoch nicht
verraten werden sollen.
Wenn es an diesem sehr bereichernden Buch etwas zu mäkeln gibt,
dann ist es die immer wieder durchscheinende und unhinterfragte
Begeisterung für die Ausbildungs- und Machtstrukturen der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA). Damit lässt
Quinodoz alle Kritiker aus den eigenen Reihen und auch alle
engagierten Reformer einer psychoanalytischen Ausbildung außen vor,
allzu sorglos um die eher düstere Zukunft der Psychoanalyse in der
heutigen Gesundheits- und psychotherapeutischen
Versorgungspolitik.
Dagegen ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er in natürlicher
Sprache tatsächlich »die Lektüre Freuds zum Ausgangspunkt einer
Selbstbefragung« werden lässt, es uns ermöglicht, mit den Texten
Freuds in einen persönlichen Dialog zu treten, und uns zur
vielschichtigen Trauerarbeit um Freud und sein Erbe auffordert –
wie Jean-Michel Quinodoz es sich in seinem Nachwort wünscht.