Rezension zu Geschwisterdynamik (PDF-E-Book)
EZI Korrespondenz Nr. 25 (Evangelisches Zentralinstitut für Familienberatung)
Rezension von Ruth Gnirss-Bormet
Hans Sohni
Geschwisterdynamik
Die Reihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie« des
Psychosozial-Verlags greift grundlegende Konzepte und
Begrifflichkeiten der Psychoanalyse auf und thematisiert sowohl
ihre Geschichte wie ihre heutige Bedeutung für die Therapie. Dabei
wird der Versuch unternommen, den betreffenden Gegenstand jeweils
zunächst mit seinen historischen Wurzeln vorzustellen, um dann
seine Veränderungen über die Zeit deutlich werden zu lassen,
indem die maßgeblichen Einflüsse von Klinik und Forschung
diskutiert werden, die zu dieser Veränderung beigetragen haben.
Zudem wird versucht, das zum Verständnis des jeweiligen Begriffes
notwendige Basiswissen zusammenzutragen und in knapper und lesbarer
Form zusammenzustellen, um Psychotherapeuten aller Schulen sowie
Studierenden und Ausbildungskandidaten eine Möglichkeit zur
eigenen vertieften Auseinandersetzung auf dem neuesten Stand der
wissenschaftlichen Diskussion zu geben.
Im 4. Band dieser Reihe geht es nun um das spannende Thema der
»Geschwisterbeziehungen«, und mir scheint das oben vorgestellte
Anliegen des Verlags von Dr. med. Hans Sohni vorbildlich umgesetzt.
Hans Sohni ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Kinder-
und Jugendpsychiatrie und Psychoanalyse sowie Psychoanalytiker und
Familientherapeut. Er leitet ein Institut für Paar- und
Familientherapie und arbeitet als Supervisor und Dozent sowie in
eigener Praxis. Das Buch ist von Anfang bis zum Ende spannend
geschrieben, es ist informativ und klar gegliedert. Mit vielen
klinischen Beispielen gelingt es dem Autor, den LeserInnen die
Chancen einer neuen ressourcenorientierten Sichtweise auf die
Geschwisterbeziehungen deutlich werden zu lassen. Als LeserIn
beginnt man, die Bedeutung der eigenen Geschwisterbeziehungen zu
reflektieren und zu überlegen, wie dieser neue »Blick durch die
Linse« Einzeltherapien, die Arbeit mit Paaren und Familien wie auch
die Arbeit mit Gruppen verändern kann. Sohni sensibilisiert für
die historisch eher auf das negative Potential (Neid, Rivalität)
von Geschwisterbeziehungen eingeschränkte Sichtweise. Er zeigt
auf, wie neue Erkenntnisse der Objektbeziehungstheorie, der
Säuglingsforschung, der Bindungstheorie wie auch der
Resilienzforschung eine Erweiterung des Blickes hin auf die
Ressourcen von Geschwisterbeziehungen ermöglicht, aber auch
einfordert und notwendig macht.
Hans Sohni sieht im Geschwisterstatus eine eigenständige
Lebenserfahrung, eine horizontale Beziehungserfahrung, die sich im
vertikalen Zusammenspiel mit den Eltern entwickeln kann und in der
Individualität ebenso entwickelt wird wie soziale
Interaktionsfähigkeit, Empathie und Zugehörigkeit. Er
verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Geschwisterbeziehung für
die Entwicklung von Bezogenheit und Bindungsfähigkeit einerseits
wie für die Fähigkeit zu Auseinandersetzung und Abgrenzung
andererseits. Er beschreibt, wie intensiv – auch zeitlich – sich
Geschwister miteinander beschäftigen, in der Kindheit, aber in
Variationen oft über die gesamte Lebensdauer.
Sohni macht auf Ängste aufmerksam, die mit unbewussten, aus
Geschwisterkonflikten resultierenden Konflikten zusammenhängen. Er
zeigt auf, wie diese genauso bedeutsam wie Konflikte aus den
triadischen Beziehungserfahrungen mit Vater und Mutter bei der
Partnerwahl oder bei Paarkonflikten eine wichtige Rolle spielen
können. Unbewusste konflikthafte Beziehungserfahrungen aus
Geschwisterbeziehungen können auch aktiviert werden, wenn die
Gründung einer Familie geplant wird. So können Ängste, die mit
Geschwisterkonflikten in Zusammenhang stehen, verantwortlich sein
für die Angst vor einem Kind oder die Ablehnung eines Kindes, wenn
im Kind der geschwisterliche Rivale oder die Rivalin aus der
eigenen Ursprungsfamilie gefürchtet wird. Diese Ängste können
Ursache eines unerfüllten Kinderwunschs sein bzw. Ursache dafür,
dass die Schwangerschaft abgebrochen wird.
Wichtig ist Sohni die Feststellung, dass sich die triadische
Beziehungsfähigkeit des Babys wie auch die horizontale
Beziehungserfahrung in der Geschwisterbeziehung nur dann entfalten
kann, wenn die Eltern dafür geeignete Rahmenbedingungen bieten
können. Er möchte Eltern dafür sensibilisieren, die Wichtigkeit
des geschwisterlichen Miteinanders wahrzunehmen, einschließlich der
Notwendigkeit, Kinder ihre Konflikte austragen lernen zu lassen,
ohne dauernd einzugreifen.
Sohni stellt Forschungsgebnisse und Konzepte der Kinderanalytikerin
Francoise Dolto wie des Säuglingsforschers D. Stern vor. Beide
beschreiben, wie wichtig das kindliche Spiel und das gemeinsame
Erleben von Geschwistern für die Individuation, die
Differenzierung und für das Gefühl von Zugehörigkeit ist. Kinder
brauchen Kinder, brauchen Gefährten für eine ungestörte
Entwicklung. Sie brauchen sie auch als Schutz vor Einsamkeit, vor
Wertlosigkeit und vor Verlassenheit, wenn sie im Streit mit den
Eltern sind. Horizontale Beziehungserfahrungen und Gefährten sind
für die Entwicklung so wichtig, dass ungefähr 20–30 % aller
Kinder, bei Einzelkindern sogar bis zu 40 %, von der Vorschulzeit
bis zur frühen Adoleszenz einen imaginären Spielgefährten haben,
mit dem sie ihre Gedanken und ihr Spiel teilen. Geschwister,
Freunde und Freundinnen, aber auch diese imaginären GefährtInnen
helfen, sich in der Welt zurechtzufinden, wie sie bei der
allmählichen Ablösung von den Eltern helfen können. Geschwister
partizipieren wechselseitig an den Erfahrungen der anderen und
durch die Identifizierung mit den anderen, auch wenn es
möglicherweise zeitweilig zu einer Polarisierung in der
Entwicklung kommt.
Sohni verweist auf die Ergebnisse der Resilienzforschung.
Geschwister helfen einander z.B. bei Trennung wie auch bei
Krankheit oder Tod der Eltern, indem sie einander Geschwister
bleiben und ihr Subsystem Bestand hat.
Sohni beschreibt die Veränderungen und Wirkungen von
Geschwisterbeziehung über die Lebenszeit. Geschwistererfahrungen
können Wirkung entfalten bei der Partnerwahl, in der Ausgestaltung
des Paarlebens wie bei der Familiengründung.
Geschwistererfahrungen bereiten uns vor auf das Leben in neuen
Bezugsgruppen, in der Arbeit wie in der Freizeit. Im Alter suchen
viele Geschwister wieder die räumliche Nähe zu ihren
Geschwistern, manche sogar in einen gemeinsamen Haushalt – und
nutzen die Chance, sich gegenseitig zu unterstützen und
Erinnerungen auszutauschen, die bis zu den Anfängen ihres Lebens
zurückreichen. Geschwisterbeziehungen sind für viele Menschen die
Beziehungen in ihrem Leben, die die größte Dauer besitzen. Sohni
ermutigt, diese Ressource zu sehen und zu nutzen.
Die Bedeutung der Geschwisterbeziehung für das Verstehen von
Ü̈bertragung und Gegenübertragung in der Psychotherapie ist ein
weiteres spannendes Thema, mit dem Hans Sohni sein lesenswertes
Buch abschließt.
Ruth Gnirss-Bormet
Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin und
Psychotherapeutische Medizin, Sexualtherapeutin, eigene Praxis mit
dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie in Kassel, langjährige
Gastdozentin am EZI