Rezension zu Psychotherapiewissenschaft
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Rezension von Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum
Gottfried Fischer: Psychotherapiewissenschaft. Einführung in eine
neue humanwissenschaftliche Disziplin.
Thema
»Bisher gilt die Psychotherapie als Teilgebiet der Medizin und
Psychologie. Oft wird sie als Spezialdisziplin der experimentellen
Psychologie oder der biologischen Psychiatrie angesehen. Dem stehen
aktuelle Tendenzen gegenüber, die die Psychotherapie als originäre
Wissenschaft etablieren möchten. Dazu muss nachgewiesen werden,
dass sie über ein eigenständiges Profil verfügt, das sie kritisch
von anderen Fachbereichen abgrenzt. Im vorliegenden Buch entfaltet
der Autor die Begrifflichkeiten der neuen Disziplin. Gestützt auf
Sigmund Freunds Idee der ›Laienanalyse‹ sollen
psychotherapeutisches Wissen und psychotherapeutische Praxis mit
Erkenntnissen aus Psychologie, Pädagogik, Philosophie, aus
Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften verbunden werden.
Psychoanalytische Konzepte übernehmen dabei eine wichtige
Orientierungsfunktion, wobei zugleich der Raum für kreative
Beiträge aller psychotherapeutischen Richtungen geöffnet wird. Mit
zahlreichen Beispielen aus der Praxis eröffnet das Buch
Wissenschaftlern anderer Disziplinen wie interessierten Laien einen
Zugang zur Psychotherapiewissenschaft«. (U4-Klappentext des
Verlags)
Autor
Gottfried Fischer, Prof. Dr. phil. Habil., Dipl.-Psych., ist
Psychoanalytiker (DPV), psychologischer Psychotherapeut, Leitender
Direktor des Instituts für Psychotherapeutische Forschung,
Methodenentwicklung und Weiterbildung (IPFMW) in Köln sowie
Direktor des Instituts für Psychologie und
Psychotherapiewissenschaft (IPPTW) der Steinbeis-Hochschule Berlin.
Er zählt zu den Begründern der Psychotraumatologie in Deutschland.
Von 1994-2009 war er Direktor des Instituts für Klinische
Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln.
Entstehungshintergrund
Gottfried Fischer gründete konsequent bereits vor einigen Jahren
die »Deutsche Gesellschaft für Psychotherapiewissenschaft« (DGPTW),
das vorliegende Buch stellt eine systematische Darstellung seiner
Bemühungen dar, Psychotherapie als eigenständige
Wissenschaftsdisziplin zu etablieren.
Aufbau
Das Buch ist in neun Hauptabschnitte gegliedert:
A Das Wunder heilender Gespräche
A1 Für ein besseres Verständnis vom Menschen
B Wie die Forschungsmethode den wissenschaftlichen Gegenstand
bestimmt
C Gibt es einen Stil des Denkens oder der Erkenntnis, welcher der
Therapiewissenschaft angemessen ist?
C1 Behandlungsbeispiel eines Patienten mit psychosomatischen
Beschwerden
D Was heisst eigentlich ›normal‹?
E Vom Symptom zur Ursache – Wege zur Überwindung
psychotherapeutischer Uniformitätsmythen
F Psychotherapeutische Forschung
F1 Geltungskriterien psychotherapiewissenschaftlicher Forschung
F2 Empfehlungen für den Aufbau wissenschaftlicher Arbeiten nach der
Logik unterschiedlicher Forschungsstrategien
G Von der Evaluationsforschung zur Qualitätssicherung in der
Praxis
H Tätigkeitsfelder und Institutionalisierung der
Psychotherapiewissenschaft
H1 Bachelor
H2 Master
H3 Integrativer Doktoratsstudiengang PTW
I Die Identität der Psychotherapiewissenschaftlerin
Inhalt
Anliegen des Autors ist es, hier Abhilfe zu schaffen und
Psychotherapie als eigenständige Wissenschaft zu etablieren und den
interessierten Leser auf ein spannendes Denkabenteuer einzuladen,
wo sich die Begrifflichkeiten einer neuen wissenschaftlichen
Disziplin gleichsam vor seinen Augen entfalten. Er bezieht sich
dabei auch auf den Umstand, dass viele Studierende, die später
Psychotherapeuten werden wollen, lieber gleich Psychotherapie
studieren würden statt erst einmal fünf Jahre lang Psychologie ein
einseitig an der Experimentalpsychologie ausgerichtetes Wissen zu
erwerben, das als Grundlage für die angestrebte
psychotherapeutische Berufstätigkeit ungeeignet ist.
Den Nachweis, dass Psychotherapie als eine Behandlungswissenschaft
über ein eigenständiges Profil verfügt, führt Gottfried Fischer,
Direktor am Kölner Institut für Psychologie und
Psychotherapiewissenschaft der Freiherr von Steinbeis-Hochschule,
Psychoanalytiker und Mitbegründer der Psychotraumatologie in
Deutschland. Er lädt die Leserinnen und Leser zur kritischen
Abgrenzung der Psychotherapie von Psychologie und Psychiatrie ein –
eine Abgrenzung, die befreiend wirkt und der neuen Disziplin einen
Weg ihrer »Emanzipation« weist, der mit dieser Konsequenz bisher
noch nirgends gegangen wurde. Sigmund Freuds Idee der
»Laienanalyse« ist das historische Vorbild, psychotherapeutisches
Wissen und psychotherapeutische Praxis mit Erkenntnissen aus
Psychologie, Pädagogik, Philosophie, aus Geistes-, Kultur- und
Sozialwissenschaften zu verbinden und andererseits das implizit
psychotherapeutische Wissen dieser Disziplinen in die PTW
einzubeziehen.
Das erste Kapitel setzt sich mit dem »Wunder heilender Gespräche«
auseinander, definiert Psychotherapie als »Dialog und
therapeutische Beziehungsgestaltung« und grenzt sich von
Placeboeffekten, therapeutischen Manipulationen und dem Narzissmus
mancher Therapeuten ab: Nicht der Therapeut heilt den Patienten,
sondern dieser heilt sich mithilfe des Therapeuten selbst – für
manchen Therapeuten eine nicht zu unterschätzende Kränkung. Zu
dieser »Selbstheilung« ist in erster Linie Vertrauen notwendig, und
zwar gegenseitiges Vertrauen. Dieses kann nicht immer vorausgesetzt
werden kann. Dies trifft vor allem auf traumatisierte Menschen zu,
die das Vertrauen in ihre Mitwelt, in andere Menschen und in die
Sicherheit ihrer Umwelt verloren haben. Solch negative
Vorerfahrungen werden in der Regel auf den Therapeuten übertragen –
eine grundlegende frühe Entdeckung von Sigmund Freud. Nur wenn
diese Dynamiken beachtet und verstanden werden, kann eine
vertrauensvolle Zusammenarbeit im Sinne eines therapeutischen
Arbeitsbündnisses entstehen – der Therapeut muss hierzu allerdings
eine Vielzahl von »Vertrauenstests« aushalten und das
Arbeitsbündnis immer wieder mit sich selbst erneuern, wenn der
Heilungsprozess als »mäeutischer Dialog« gelingen soll. Es muss in
der Psychotherapie also um das Wissen des Patienten gehen, nicht um
das des Psychotherapeuten. Seine Aufgabe besteht im Sinne eines
Geburtshelfers darin, das unbewusste Heilungswissen und damit auch
die Selbstheilungskräfte des Patienten ans Tageslicht zu befördern,
dem Patienten zur Verfügung zu stellen und in der Ätiopathogenese
die verborgene salutogene Lösung zu finden.
Interessant lesen sich auch die Ausführungen zum biologisch
determinierten Modell des Verhaltensbiologen Konrad Lorenz und der
Frustrations-Aggressions-Hypothese von Dollard und Miller – zwei
Theorien, die bereits jeder Psychologiestudent kennt, denen der
Autor aber schlechte Abstraktheit unterstellt und wo er der Frage
nachgeht, welchen wirklichen Erklärungswert solche Annahmen haben
und ob sie nicht am Nachweis von Nicht-Trivialität scheitern
müssen. Der Autor verdeutlicht diese Diskussion am Beispiel der
Aufhebung der deutschen Spaltung 1989, wo er darauf hinweist, dass
vermutlich »unbewusstes Wissen« über das praktizierte Unrecht nicht
nur bei der Bevölkerung, sondern auch bei den Machthabern
schließlich zum Zusammenbruch und der Aufhebung der Spaltung
führten. Und natürlich kommt hier auch Hegel mit seiner Definition
von »Geist« zu seinem Recht, wenn die Demonstranten »Wir sind das
Volk« skandierten und dabei Hegels Vorstellung von »Ich, das Wir
ist« sehr nahe kamen. Aber auch in dem Hegelschen »Wir, das Ich
ist« bewiesen sie, dass sie weder als Chaoten noch als ichlose
»Masse« unterwegs waren. Die freie Assoziation kommt hier ebenfalls
zu ihrem Recht, wenn Fischer darauf hinweist, dass ein zentrales
Merkmal psychischer Störungen die Unterdrückung der »freien
Assoziation« und dementsprechend in einer dialogisch-dialektischen
Psychotherapie die Möglichkeiten bestehen, die »innere Diktatur« in
Demokratie (zurück-) zu verwandeln.
Als sehr spannend und erhellend empfand der Rezensent das Kapitel
über Forschungsmethodik, Forschung im Kontext von Entdeckung und im
Kontext der Beweissicherung, ganz besonders aber die Ausführungen,
die erschreckend deutlich machen, wie sehr in vielen Bereichen die
Forschungsmethode den wissenschaftlichen Gegenstand bestimmt – und
nicht umgekehrt. Hier weist Fischer immer wieder auf den
gemeinsamen »vorwissenschaftlichen« Gegenstand von experimenteller
Psychologie, biologischer Psychiatrie und Psychotherapie hin, macht
aber anhand des Konzepte der »intentionalen Systeme« und
»unbewusster Intentionalität« auch sehr deutlich, worin sich diese
Disziplinen unterscheiden und weshalb sich auch ihre
Forschungsmethodik grundlegend unterscheiden müsste. In der
Auseinandersetzung damit wird sehr schnell klar, dass biologische
Psychiatrie und experimentelle Psychologie einen anderen
wissenschaftlichen Gegenstand haben als die Psychotherapie und dass
gesicherte Wissensbestände in experimenteller Psychologie oder
biologischer Psychiatrie das Wissen der Psychotherapie zwar
begrenzen, aber deren eigene Bemühungen um Beweissicherung nicht
ersetzen können. Umgekehrt können Ergebnisse von experimenteller
Psychologie und biologischer Psychiatrie gesicherten Erkenntnissen
der Psychotherapiewissenschaft nicht widersprechen, weshalb diese
auf ihre eigenen Methoden vertrauen muss.
Auch im folgenden Kapitel lässt sich anhand eines
Behandlungsbeispiels von einem Patienten mit psychosomatischen
Beschwerden das bereits in anderen Publikationen dargestellte
dialektisch-ökologische Denken Fischers als die angemessene
Denkweise der Humanwissenschaften und insbesondere der
Psychotherapiewissenschaft gut nachvollziehen – ein Denken, das
verständlicherweise den Naturwissenschaften nicht angemessen ist.
Der Autor führt dabei aus, dass Psychotherapie als Wissenschaft von
der menschlichen Intentionalität und den Möglichkeiten autonomer
Selbst-Veränderung sich nicht, wie z.B. der klassische
Behaviorismus, auf äußerliche Verhaltensbeobachtung beschränken
kann: »Von dieser objektivistischen Position unterscheidet sich
eine wissenschaftliche Psychotherapie durch systematische Rücksicht
auf die Subjektivität ihres Gegenstandes (…) Mit dialektischem
Denken erfassen wir die innere Logik und die Entwicklungsgeschichte
des subjektiven Systems« (S. 46). Die dargestellte Therapie lässt
eine mäeutische Form der Beziehungsgestaltung erkennen, wo sich der
Therapeut darauf verlässt, dass der Patient eine Art »unbewusstes
Wissen« über seine Störung besitzt, das nicht durch Belehrung
erzeugt, sondern durch Therapie lediglich gefördert werden
muss.
Das Kapitel zum Normalitätsprinzip, zu geltenden Normen, dem
Verhältnis von Leib und Seele bzw. »Körpersein« und »Körperhaben«,
sog. »Aufwärts«– und »Abwärtseffekten« und der Machtwirkung bei der
Vergabe von Diagnosen ist in seinen Grundzügen andernorts von
Fischer bereits dargestellt worden, wird hier aber nochmals
dezidierter auf die Psychotherapie als Behandlungswissenschaft
bezogen und konzentriert sich in der Aussage: »In der Konsequenz
von dialektisch-ökologischem Denken liegt vielmehr die Frage nach
den Ursachen und der Entstehungsgeschichte psychischer Störungen,
die Frage nach ihrem determinierenden und spezifizierenden Kontext«
(S. 83). Weshalb die rein klassifikatorische Diagnostik etwa der
ICD weit von dialektisch-ökologischem Denken entfernt ist und sich
auf einem eher vorwissenschaftlichen bzw. vor-paradigmatischen
Niveau bewegt, denn der ökologische Kontext bleibt darin
abgeschnitten.
Dementsprechend und logischerweise widmet sich Fischer dem Weg »Vom
Symptom zur Ursache« und stellt im Sinne ökologischen Denkens die
Forderung auf, den determinativen Kontext eines jeden
Krankheitsbildes anzugeben, die Störung als einen Prozess des
Krank- bzw. Gesundwerdens und nicht als ein statisches
Krankheitsbild zu verstehen. Auch die Systematik der verschiedenen
Ätiologien (Über-, Untersozialisation, biologisch / erworben,
traumatisch) zusammen mit der »Nosologischen Pyramide« findet sich
bereits in früheren Veröffentlichungen, wird hier aber ebenfalls
nochmals unter dem Aspekt des für eine Psychotherapiewissenschaft
wichtigen salutogenetischen Denkens vertieft.
Dementsprechend muss sich im Sinne kausaler Heilung eine
Psychotherapie an der Ätiologie und Pathogenese orientieren und
darf nicht beim Symptom stecken bleiben. Aus dieser
ätiologie-orientierten Betrachtungsweise folgt logischerweise auch
die Forderung, dementsprechend unterschiedliche Interventionslinien
einzusetzen und nicht den in den meisten Therapieschulen seit ihrer
Gründung unverändert bestehenden Universalitätsmythen verhaftet zu
bleiben, wo eine Ätiologie, ein zentrales Krankheitsbild und ein
Therapiestil als ausreichend für alle Störungsbilder und alle
Menschen betrachtet werden.
In diesem Zusammenhang weist Fischer auch daraufhin, dass die
Patienten ein Recht darauf haben, die Philosophie ihres Therapeuten
auch explizit zu erfahren, nicht nur indirekt über die
therapeutischen »Techniken«, die er verwendet, zumal diese selten
»theoriefrei« sind. Als Endstation des Diskurses bezeichnet Fischer
die vielfach angepriesenen Positionen zum »Menschenbild« einer
Schule und meint hierzu in erfrischender Klarheit: »In der
Konkurrenz der therapeutischen Schulen ist das beanspruchte
›Menschenbild‹ oft kaum mehr als eine ›Werbesendung‹ – die
Argumentation verbleibt deutlich beim vorwissenschaftlichen
Gegenstand der Psychotherapie, ähnlich wie bei den angeblich
›theoriefreien‹ therapeutischen ›Techniken‹«. Anders als die von
Fischer ausführlich dargestellte Veränderungstheorie und
Veränderungslogik, die sich als wesentliche Bestimmung im
wissenschaftlichen Gegenstand der Psychotherapie erwiesen
haben.
Im zweiten Teil des Buches widmet sich der Autor sehr ausführlich
Fragen der psychotherapeutischen Forschung, bemüht Umberto Eco bei
der Frage von Erkenntnisgewinnung und intersubjektiver
Nachprüfbarkeit und beschreibt sehr amüsant das »Detektivmodell der
Forschung«. Man lernt in Anlehnung an Charles Sanders Peirce den
Unterschied zwischen Deduktion, Induktion und Abduktion und
versteht, wie schwer es nicht nur sorgfältig arbeitende
Psychotherapeuten, sondern auch Kriminalkommissare bei der
Hypothesenfindung haben. Karl Poppers Falsifikationsmodell wird dem
»hermeneutischen Exklusionsverfahren« und einer Forschung im
Kontext von Entdeckung und Beweissicherung gegenübergestellt, wobei
Fischer ausführlich auch auf die Aspekte von qualitativer und
quantitativer Forschung eingeht. Nicht immer sei klar, was in der
experimentellen Psychologie eigentlich gemessen werde, auch wenn
dort seit Langem die Vorstellung propagiert werde, dass alles
Seiende messbar sei und umgekehrt nur das wissenschaftlich von
Bedeutung, was messbar ist: »Das Was entspricht der Kategorie der
Qualität. Sie ist jeder Quantifizierung vor- oder übergeordnet« (S.
115), weshalb die qualitative Untersuchung am Anfang des
Forschungsprozesses und an seinem Ende stehen muss: »Sie ist das A
und O der Forschung« (a.a.O.), weshalb die Quantifizierung als ein
Hilfsmittel im qualitativen Prozess von Forschungsfrage und Antwort
auftritt und nicht den Stellenwert einer eigenständigen »Methodik«
einnimmt.
Am Beispiel des Begriffes Stress diskutiert der Autor sehr
anschaulich die Problematik der Variabilität von Variablen und
zeigt, wie »transmarginaler Stress« eine Grenze überschreitet und
von Hoch-Stress in die Qualität »Trauma«, also eine seelische
Verletzung, übergeht und folgert: »Würde man die Intensität von
›Stress‹ wie eine mathematische Variable behandeln, wäre der
tatsächliche, inzwischen auch neurobiologisch nachgewiesene
Unterschied zwischen Stress und Trauma unentdeckt geblieben« (S.
116). Auch hier wiederholen sich die Unterschiede zwischen
biologischer Psychiatrie, experimenteller Psychologie und einer
wissenschaftlich fundierten Psychotherapie.
Sehr erhellend sind die Ausführungen zu den drei wichtigsten
Methoden der Psychotherapieforschung: Erstens den Randomized
Controled Trials (RCTs, salopp als »Pharma Type Studies«
bezeichnet), zweitens den naturalistischen Studien (auch als
Feldstudien bekannt) und drittens systematischen Fallstudien, die
sich auf den Einzelfall beschränken oder fallvergleichend
verfahren. Die Vor- und Nachteile der Verfahren werden systematisch
dargestellt und diskutiert. Deutlich wird, dass RCTs durch ihre
künstliche Untersuchungssituation die deutlichste Distanz zur
psychotherapeutischen Praxis aufweisen, womit die »ökologische
Validität«, also die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Praxis,
bei diesem Studientyp am stärksten infrage steht. Wieder stellt
sich die Frage der Angemessenheit von Methode und Inhalt, von
Forschungsdesign und Psychotherapie als Wissenschaft. Am
Negativbeispiel »Contergan« wird aufgezeigt, wohin die sog.
»evidenzbasierte Medizin« führt, wenn ihre »Ratingagenturen« weiter
allein auf die »Pharma Type Studies« setzen, welche die RCTs als
höchste »Evidenzstufe« bewerten. Nach dieser Methodik war Contergan
durchaus fachgerecht getestet worden, bevor es auf den Markt kam,
ein in Wirklichkeit vielfach toxisches, schädliches Präparat. Da
die sog. »evidenzbasierte Medizin« bis heute aus unerfindlichen
Gründen die Einzelfallstudien herabstuft, blieb die an Einzelfällen
durchaus belegte toxische Wirkung bei der Entscheidung über die
Zulassung von Contergan unberücksichtigt. Ähnlich wie die
»evidenzbasierte Medizin« funktionieren offenbar auch die
»Rating-Agenturen« der Finanzindustrie, die »toxische Wertpapiere«
immer noch mit den höchsten »Evidenzstufen« versehen, was wir bis
heute auszubaden haben.
Am Beispiel von Pawlows »gefesseltem Hund« stellt der Autor in
eindrucksvoller, aber auch erschreckender Weise dar, wie im
Forschungsbereich aus falschen Prämissen falsche Schlüsse gezogen
werden – eigentlich ein nahe liegendes Gesetz der Logik. Er weist
darauf hin, dass Forschungslogik in der experimentellen Psychologie
ein eher stiefmütterlich behandeltes Thema ist und die meisten
Experimentalpsychologen ihre Forschung und Theoriebildung lieber
als »rein empirisch« verstehen. Empfohlen wird statt dessen, die
Voraussetzungen zu explizieren und zu begründen, auf denen ein
Schluss beruht: »Erst wenn theoretische Begründung und empirische
Forschung konvergieren, kann im Sinne logisch-empirischer
Konvergenz von einem gesicherten Forschungsergebnis ausgegangen
werden« (S. 126). Mit Pawlows »gefesseltem Hund« wird ein besonders
gravierendes Beispiel für Pseudoempirie aufgezeigt, das auf der
Divergenz von Logik und Empirie beruht. Denn die Tatsache, dass der
Hund gefesselt ist, bleibt in der Theoriebildung völlig
unberücksichtigt. Dementsprechend dürften die Gesetze des
klassischen Konditionierens nur für das Lernen von gefesselten
Hunden, vielleicht auch gefesselter Tiere überhaupt, gelten. Der
empirische Gegenbeweis ist unschwer zu führen: Man muss den Hund
nur von seinen Fesseln befreien, um festzustellen, dass er die
Glockentöne und Lichtsignalen ignorieren wird und sich vielmehr auf
seine Nase verlässt, um festzustellen, ob Fütterung angesagt ist
oder nicht. Entsprechend plädiert der Autor dafür, den von Immanuel
Kant aufgezeigten apriorischen Bedingungen der Erkenntnis mehr
Aufmerksamkeit zu widmen. Diese apriorischen Voraussetzungen für
Pawlows Experimente, nämlich die Fesselung des Hundes, ja die
Reduzierung eines Tieres auf die eingeschränkten Möglichkeiten
einer sich nicht wegbewegen könnenden Pflanze, sind in der
Lerntheorie bislang unberücksichtigt geblieben. Ähnlich restriktive
Bedingungen schuf Burrhus F. Skinner, wenn er Tauben in eine leere
Box einschloss und ihnen ihre natürliche Lebensbedingungen und
Kompetenzen entzog. Dennoch entwickelten sich erstaunlicherweise
auf der Basis dieser restriktiven Experimente ganze Schulen der
Psychologie, nicht zuletzt die sog. Lerntheorie und die
Verhaltenstherapie.
Die weiteren Abschnitte beschäftigen sich mit den Geltungskriterien
psycho-therapiewissenschaftlicher Forschung, demzufolge sich
Psychotherapie nicht dem modernen Trend anschließen kann, ihren
Gegenstand durch die Methode definieren zu lassen, sondern vielmehr
umgekehrt ihre Methode nach dem Gegenstand richten und sich an
ihrem Gegenstand entwickeln muss. Als allgemeines Kennzeichen
wissenschaftlicher Forschung nennt der Autor »systematisches
Vorgehen bei der Erkenntnisgewinnung« und »intersubjektive
Nachprüfbarkeit der Ergebnisse und Schlussfolgerungen«, wobei er
auch darauf hinweist, dass die Geltung wissenschaftlicher Aussagen
nicht durch Mehrheitsentscheidungen durch eine Expertenrunde
innerhalb der Scientific Community festgelegt werden kann. Als
Gütekriterien im Hinblick auf die Geltungslogik werden
Interpretierbarkeit der Forschungsergebnisse genannt, Ausschluss
von Nicht-Falsifizierbarkeit, der Nachweis von Nicht-Trivialität,
das Primat der Qualitativen vor einer quantifizierenden Methodik
sowie eine Reihe von anerkannten Gütekriterien aus der qualitativen
Forschung (S. 146 und 147). Es folgt ein methodologischer Abschnitt
über das Verstehen und Erklären im ökologisch-dialektischen Denken,
z.B. mit »offener« und »geschlossener Dialektik« und schließlich
ganz praktische Empfehlungen für den Aufbau wissenschaftlicher
Arbeiten nach der Logik unterschiedlicher Forschungsstrategien.
Hier wird handfestes Handwerkszeug vermittelt, um nicht schon
deshalb in »Erkenntnispathologien« zu landen, weil Methodenfragen
über den Inhalt gestellt wurden. Die weiteren Ausführungen sind
sehr nützlich für jeden empirisch arbeitenden Forscher, aber auch
für einen Psychotherapeuten, wenn er widersprüchliche
Forschungsergebnisse besser verstehen will. Diplomanden und
Doktoranden finden hier eine Fundgrube von Anregungen vor, nicht
zuletzt auch zum Umgang mit Datenbanken. Eine tiefenpsychologische
Werkanalyse von Chamissos »Ballade vom rechten Barbier« lässt die
intensiven theoretischen Darstellungen anschaulich und praktisch
werden.
Das äußerst anregende Buch wird abgerundet durch die spannenden
Kapitel »Von der Evaluationsforschung zur Qualitätssicherung in der
Praxis«, die »Tätigkeitsfelder und Institutionalisierung der
Psychotherapiewissenschaft« und die »Identität der
Psychotherapiewissenschaftlerin« mit der Frage nach persönlichen
Voraussetzungen, Motivation, der Fähigkeit zu therapeutischer
Beziehungsgestaltung und dialektischem Denken, aber auch zum
Scheitern von Therapien und den Möglichkeiten, aus Misserfolgen zu
lernen.
Diskussion
Dieses neue Wege der Psychotherapie aufzeigende Buch von Gottfried
Fischer wird all denjenigen nicht gefallen, die den
geringstmöglichen Aufwand für ihre Ausbildung betrieben haben und
das für überflüssig halten, was schon Freud als wichtigste
Voraussetzung für therapeutisches Arbeiten beschrieben hat: Die
eigene Lehranalyse oder anders formuliert: Die Bereitschaft, sich
gründlich mit den eigenen »Macken« und »blinden Flecken«
auseinander zu setzen, ehe man auf die Menschheit losgelassen wird.
Dass dies trotzdem mit relativ wenig Aufwand und Umgehung dieser
wesentlichen Voraussetzung in unseren Ausbildungs-Landschaften
möglich ist, zeigt einmal mehr, wie sorglos vielfach mit der
psychischen Gesundheit von Menschen umgegangen wird – obgleich es
doch eigentlich nichts Wertvolleres im Leben eines Menschen gibt –
und wie sehr hier oft noch in einem vorwissenschaftlichen Bereich
operiert wird. Ebenso erstaunlich ist bei genauerer Betrachtung
auch, dass die berufliche Beschäftigung mit der psychischen
Gesundheit bzw. im kritischen Fall mit deren Zusammenbruch,
Beschädigung oder deren Fehlen immer noch als »Anhängsel« der
Psychologie oder Medizin betrachtet wird – und nicht als eine
eigenständige humanwissenschaftliche Disziplin. Allen
»Professionellen«, die bislang glaubten, dies nicht hinterfragen zu
müssen, kann dieses neue Buch von Gottfried Fischer daher sehr
empfohlen werden. Sie kommen dann entweder ziemlich ins Grübeln
oder müssten eigentlich ihre therapeutische Tätigkeit an den Nagel
hängen und sich völlig neu orientieren.
Fazit
Das Besondere an diesem Buch ist, dass es zum Thema einer
eigenständigen Psychotherapiewissenschaft kaum Literatur gibt, weil
offensichtlich bislang kaum jemand eine Notwendigkeit hierfür sah.
Der Versuch von Klaus Grawe, mit seinem Programm einer »Allgemeinen
Psychotherapie« die empirische Psychologie zur »Leitwissenschaft«
für die Psychotherapie, zu erheben, führte in eine Sackgasse, weil
Psychotherapie hier zu einer Spezialdisziplin der experimentellen
Psychologie erklärt wird – ähnlich wie dies bei den
Heilserwartungen an den durch die moderne Hirnforschung
entstandenen Neuro-Behaviorismus zu beobachten ist. Auch werden bei
Grawe neben der Psychotherapie im eigentlichen Sinne auch alle
anderen humanwissenschaftlichen Fächer aus seiner »Allgemeinen
Psychotherapie« ausgeschlossen, wie Pädagogik, Soziologie,
Philosophie sowie Kultur- und Geisteswissenschaften überhaupt. Bei
Fischer dagegen sind diese Humanwissenschaften zur Mitarbeit an der
entstehen »Psychotherapiewissenschaft« herzlich eingeladen.
Der bei Fischer eröffnete Weg läuft methodisch genau
entgegengesetzt zu Grawe: Damit die neue Disziplin, zusammen mit
anderen Humanwissenschaften, ihren eigenen Weg finden und gehen
kann, werden die Unterschiede zu experimenteller Psychologie und
biologischer Psychiatrie konsequent herausgearbeitet und die sowohl
therapeutischen als auch forscherischen Voraussetzungen für eine
Psychotherapiewissenschaft sehr eindrucksvoll und umfangreich
dargestellt. Bereits 1927 hatte Freud auf die Verbindung von
»Heilen und Forschen« hingewiesen, Gottfried Fischer hat diesen
Ansatz sehr fundiert weiter ausgebaut, und letztendlich sollte –
nach Ansicht des Rezensenten – jeder Psychotherapeut zu einem
gewissen Grad auch Forscher sein, ob er nun Daten sammelt,
auswertet und veröffentlicht oder nicht.
Rezensent
Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum
www.socialnet.de