Rezension zu Kultur und Psyche (PDF-E-Book)
Tabula Rasa. Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur
Rezension von Heike Geilen
Atamanam vidhi - Erkenne dein Selbst
»Man kann die Welt weder von einem beliebigen noch von gar keinem
Standort aus betrachten, sondern nur aus der eigenen, besonderen
Position heraus.« Die Aussage von Sudhir Kakar ist die eines
indischen Psychoanalytikers und Schriftstellers am Anfang des 21.
Jahrhunderts, »der in Indien lebt, im Verlauf seines Lebens aber
einige Erfahrungen mit Menschen und Gesellschaften des Westens
sammeln konnte.« Genau unter diesem Gesichtspunkt hat Kakar die
Kulturpsychologie kritisch betrachtet. Denn allzu schnell wird der
»Mittelklasse-Europäer« als die Norm angesehen, von der Menschen
nicht-westlicher Kulturen abweichen. Doch in einer zunehmend
multikulturellen Welt spielen gerade die Repräsentanzen der eigenen
Kultur – neben den psychischen Repräsentanzen des eigenen
körperlichen Lebens und der Primärbeziehung der Familie – eine
wichtige Rolle bei der Definition des inneren Raums, den das so
genannte »Selbst« einnimmt.
So berichtet der Autor, einer der »25 Meisterdenker der Welt«, über
das »Anderssein« der indischen Bevölkerung. Im Gegensatz zur
westlichen Vorstellung, wo der Körper klar umrissen wird, sich
wissenschaftliche und künstlerische Diskurse mit deutlicher
Vorliebe damit beschäftigen, was innerhalb dieser Festung vor sich
geht und die natürlichen Aspekte der Umwelt als relativ
bedeutungslos für die geistige und emotionale Entwicklung des
Menschen angesehen werden, sind Individualität und Unabhängigkeit
in der indischen Welt keine Werte, die geschätzt werden. Dort haben
z. B. der Einfluss von Planetenkonstellationen, irdische
Magnetfelder, Jahreszeiten und Tagesrhythmen, Edelsteine oder
Edelmetalle eine große Bedeutung für das Wohlergehen der eigenen
Psyche. Nicht die individuelle, sondern die »dividuelle« Natur –
die stärkere Einbeziehung des Menschen in die Gemeinschaft – stellt
einen wichtigen Faktor dar. Daher muss sich psychoanalytisches
Wissen immer die Fantasien einer Kultur und wie sich diese
Fantasien in symbolischer Form – Mythen, Volksmärchen, Volkskunst,
Literatur und Kino – verschlüsseln, zu Eigen machen, um eben nicht
jenen oben aufgeführten Verlockungen kultureller
Stereotypisierungen zu unterliegen.
Kakar setzt sich in den acht vorliegenden Essays, die über einen
Zeitraum von 30 Jahren entstanden sind und für dieses Buch neu
bearbeitet wurden, im Wesentlichen mit zwei Fragen auseinander. Zum
einen, ob die Psychoanalyse in einer traditionellen,
nicht-westlichen Gesellschaft »mit ihren andersartigen
Familiensystemen, religiösen Glaubensinhalten und kulturellen
Werten« überhaupt praktiziert werden kann. Zum anderen, ob sich das
Seelenleben nicht-westlicher Patienten radikal von jenem westlicher
Patienten unterscheidet. Dabei stellt er z.B. das stark
mütterlich-feminine der indischen Kultur anhand einiger
Fallbeispiele aus seiner Praxis vor oder geht unter Zuhilfenahme
des persischen romantischen Epos »Leila und Madschnun« auf die
Liebe in der islamischen Welt ein. In einem anderen Aufsatz
wiederum analysiert er den Einfluss Freuds und Jungs auf die
indische Psychoanalyse oder aber setzt sich kritisch mit Freuds
»Zukunft einer Illusion« auseinander, einem Werk, in dem der
österreichische Psychoanalytiker »wie ein konservativer,
patriarchaler Brahmane klingt«. Zum Schluss wirft er noch einen
interessanten Blick auf den Menschen einer traditionellen
Gesellschaft, der mit jenen Kräften ringt, die mit der
Globalisierung entfesselt worden sind: zum einen der Gefühle des
Verlusts und der Trauer und zum anderen Gefühle der Erniedrigung.
»Diese Gefühle erschüttern das Identitätsgefühl des Einzelnen und
zwingen ihn, es auf anderem Wege neu zu stärken.«, so Kakar. Der
chilenische Dichter Gabriela Mistral hat dieses Wesen des
psychischen Risses im Migranten treffend beschrieben:
Ich bin zwei. Einer schaut zurück
Der andere dreht sich zum Meer.
In meinem Genick schäumen Abschiede
Und in meiner Brust Sehnsucht.
Fazit: »Identität ist kein Kleidungsstück, das entsprechend der
Wetterlage an- oder abgestreift wird, sondern sie wird ›unter der
Haut‹ getragen.«, stellt Kakar in diesem interessanten und
lesenswerten Büchlein fest. Das eigene Selbst ist für ihn ganz klar
»ein Zusammenspiel einander beeinflussender Vorstellungswelten, von
denen eine jede die jeweils andere bereichert, begrenzt und formt,
während sie sich gemeinsam durch den Lebenszyklus entfalten.«
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