Rezension zu Thomas Manns Geisterbaron
Unser Lübeck, Kultur Magazin
Rezension von Hildegard Przybyla
»Geisterbaron« Albert von Schrenck-Notzing zu Besuch bei Doris
Runge in Cismar
Von Hildegard Przybyla
Mit seiner gerade erschienenen Biografie über den Freiherrn Albert
von Schrenck-Notzing (1862-1929) versetzte der
Literaturwissenschaftler und Thomas-Mann-Experte Prof. Dr. Manfred
Dierks die Literaturfreunde im »Weissen Haus« von Cismar am 24. Mai
2012 in hell-amüsiertes Erstaunen.
Der Arzt und Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing lebte
wohlhabend verheiratet in München. Er war einer der ersten
Tiefenpsychologen, Sexualmediziner und später auch praktizierenden
Okkultisten. So skurril manche Begebenheiten auch anmuten mögen, so
ernsthaft treffend ist dem Biografen Manfred Dierks die
Beschreibung der geistigen Strömungen zur Zeit der vorletzten
Jahrhundertwende gelungen. Es war die Epoche vor und nach dem
verlorenen Ersten Weltkrieg, als Deutschland sich in schwerster
ökonomischer, politischer Depression befand. Die Wissenschaft von
der menschlichen Psyche war ein brennendes Thema und wurde gerade
in München, der damals führenden Kultur- und Kunststadt, besonders
angenommen.
Nicht nur Thomas Mann, sondern auch Rudolf Steiner, Alfred Schuler,
Ludwig Klages sowie Adolf Hitler gingen bei dem »Geisterbaron« ein
und aus. In all diesen historischen Gestalten zum Beispiel fand
Albert von Schrenck-Notzing ein dankbares Publikum für seine
parawissenschaftlich-okkulten Experimente. Auch seine zum Teil
beachtlichen Entwicklungen zur Hypnosetherapie fanden seinerzeit
großen Anklang. So war Homosexualität als »Krankheit« anerkannt und
wurde von ihm durch Hypnose »geheilt«.
All dies muss auch Thomas Mann an seinem »Geisterbaron« in
vielerlei Hinsicht sehr interessiert haben. So lässt er im
»Zauberberg« zahlreiche Hypnosetherapien stattfinden und widmet
sich obendrein unter der Kapitelüberschrift »Fragwürdigstes« in
ganz ausführlicher Weise einer okkultistischen Sitzung. Zu keinem
Zeitpunkt seines Lebens stellt Thomas Mann diese außersinnlichen
Phänomene in Frage. Trotz peinlicher Verlegenheit hält er daran
fest.
Albert von Schrenck führte ein ausschweifendes Leben in München. So
kannte und verehrte er nach der Anekdote auch die in
Künstlerkreisen als »Gräfin« bekannte Franziska Gräfin zu
Reventlow. Es wird berichtet, dass sie ihn hartnäckig zurückwies –
es sei denn, sie befand sich in Geldnot.
Mit der vorliegenden Biografie ist dem Autor insgesamt eine äußerst
lesenswerte Beschreibung der geistigen Strömungen dieser
vorvergangenen Epoche gelungen.
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