Rezension zu Elternarbeit
Zeitschrift für Individualpsychologie 2/2012. Mai 2012
Rezension von Jürg Frick
»Die Reflexion der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse ist
ein zentraler Bestandteil der psychoanalytisch ausgerichteten
Elternarbeit.« Diese Aussage von Heilmann (S. 218) ist quasi
programmatisch für den vorliegenden Band, der die Zusammenarbeit
mit Eltern in pädagogischen Einrichtungen wie Jugendhilfe,
Kindergarten, Hort und Heim thematisiert. Ohne oder gar gegen die
Eltern – so der einhellige Tenor der Beiträge, lässt sich kaum
etwas erreichen – und das ist auch gut so!
Aus psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive werden neben der
bewussten Kommunikation zwischen Pädagoginnen und Eltern besonders
die unbewussten Anteile reflektiert: was lösen diese Anteile bei
den Eltern bzw. bei den Pädagoginnen selber aus – und wie
beeinflussen, begünstigen oder behindern sie die verschiedenen
Beziehungsebenen (Kind-Pädagogin, Eltern-Pädagogin usw.)? Wie
lassen sich diese Anteile erkennen, bewusst- und sogar
fruchtbringend nutzbar machen: vor allem Gegenubertagungsphänomene
der PädagogInnen, in zweiter Linie auch der Eltern, stehen immer
wieder im Zentrum. Der Band soll zu mehr Verständnis dafür
beitragen, dass »PädagogInnen bei der Kooperation mit Eltern in
spezifischer Weise mit eigenen biographischen Erfahrungen und ihrer
eigenen Lebenssituation konfrontiert« (S. 19–20) werden. Die
Erkenntnis eigener Gegenübertragungsphänomene, z. B. in Form
heftiger Gefühle gegenüber Aussagen von Elternteilen, erweitert
die eigene berufliche Kompetenz und hilft, mögliche Konflikte
richtig einzuordnen und zu entschärfen. Diese Auseinandersetzung
wird nicht zuletzt durch häufige Konfliktprofile wie
widersprüchliche Erziehungsgrammatiken gefördert. Elternarbeit ist
in diesem Verständnis immer auch Beziehungsarbeit.
Laut Eggert-Schmid Noerr soll Elternarbeit – um erfolgreich zu sein
– die sozialen Milieus vertiefter berücksichtigen, denn schon beim
Zeitpunkt der Einschulung bestehen enorme Unterschiede. Trotz
unterschiedlicher Funktionen plädiert sie für eine
Erziehungspartnerschaft auf gleicher Augenhöhe: antihierarchische
Impulse und Wertschätzung sind die Basis dazu. Textor zeigt, welche
Bedingungen die Aufnahme von unter Dreijährigen in eine Kitas
fördern oder eben hemmen. Bei letzterem sind Vorbehalte von
Erzieherinnen, Konkurrenzgefühle oder der Retterkomplex im Auge zu
behalten. So sind beispielsweise Erzieherinnen gegenüber den
Eltern von unter dreijährigen Knaben tendenziell negativer
eingestellt als gegenüber Eltern von unter dreijährigen
Mädchen!
Verständnis für die anspruchsvolle Erziehungsarbeit der Eltern
kommt ebenso im Beitrag von Naumann zum Ausdruck: über ihr Kind
kommen sie in Kontakt zur eigenen Kindheit (Wünsche, Verständnis,
Autonomie- und Abhängigkeitsthematik). Verdienterweise werden hier
auch der enorme Leistungsdruck, der auf Eltern lastet und den sie
an ihre Kinder weitergeben, oder die transgenerationalen Gefühle
der Schuld infolge Abschied und Trennung bei Familien mit
Migrantengeschichte beleuchtet. Es ist diese verständnisvolle
Grundhaltung (auch der wechselseitigen Anerkennung) – gegenüber
Eltern wie Pädagoginnen –, die für den Leser wohltuend wirkt:
reflektieren, verstehen, klären, unterstützen, helfen statt
Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Kleemann schlägt die
»Probeidentifizierung« mit den Eltern als Möglichkeit zum Zugang
des Verstehens der Familie vor. Besonders bei negativen Gefühlen
der Pädagoginnen ein sehr empfehlenswertes Arbeitsinstrument. Als
selbstverständliche Voraussetzung für eine professionelle
Elternarbeit hält Naumann eine regelmäßige Supervision für
unabdingbar: Pädagoginnen brauchen Räume und Zeiten zur
Selbstreflexion. Denn mit den realen Eltern begegnen den
Pädagoginnen nicht nur die etwaigen eigenen Vorurteile zu Kultur
und Geschlecht, sondern ebenso die eigenen verinnerlichten Eltern,
mit denen mehr oder weniger intensive Rechnungen offen sein
können.
Gerspach kritisiert plakative Formeln wie »Kinder brauchen
Grenzen«. Er warnt vor einer kontextlosen Empfehlung. Besser sind
kontextbezogene Fragen wie etwa: Wie war die Stimmung der Eltern an
diesem Tag? Gab es schon vorher Streit? Was brauchen dieses Kind
und diese Eltern jetzt tatsächlich? Reflexion und Kontextanalyse
statt einfache und letztlich dem Problem nicht gerecht werdende
Techniken sind zu bevorzugen. Die Auswirkungen der
gesellschaftlichen Veränderungen (Flexibilisierung der
Arbeitsverhältnisse, Prekarisierung, erhöhter Druck auf die Kitas
u. a.) auf die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Pädagoginnen
thematisiert Niedergesäss. Die Überwindung der »Seelenblindheit«
(Nichterkennen der Grundbedürfnisse des anderen) beschreibt Schmid
am Beispiel der Elternarbeit im Osterhof (1965 gegründet), die er
als dialogischen Verstehensprozess versteht. Aber auch spezifische
Aspekte in der Beratung von Eltern in Trennung und Scheidung (von
Lüpke) mit den Gefahren der Verwicklung der Helfer oder die
Auswirkungen von elterlichen Kampftrennungen auf alle Beteiligten
kommen im Sammelband zur Sprache. Anhand verschiedener
Fallbeispiele, etwa beim Thema Migration und Trauma anhand des
Jugendlichen Sharif, bei dem wir lernen können, dass jeder Schritt
der Integration eines Heranwachsenden einen Riss innerhalb der
Herkunftsfamilie bedeuten und zur Spaltung führen kann, werden
theoretische Befunde veranschaulicht und so geklärt. Auch
Elterngespräche in der Jugendhilfe oder in der Erziehungsberatung
sind an konkreten Beispielen dokumentiert: sie bieten vielerlei
Anregungen zur Reflexion eigener Haltungen und Vorgehensweisen
ebenso wie zum Verständnis von zwei fast permanenten elterlichen
Themen : Schuld- und Schamgefühle (Beitrag Krebs).
Wiederum individuell sieht die Arbeit mit psychisch kranken Eltern
und deren Kindern aus (Beitrag von Heilmann). Dieser erhebliche
Risikofaktor zeigt sich besonders bei Kindern mit einer psychisch
erkrankten Mutter. Eine wichtige neuere Erkenntnis: Wenn der Vater
psychisch krank ist, kann dies in vielen Fällen durch die Mutter
kompensiert werden.
Die Gestaltung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung, der Aufbau und
der Erhalt eines Arbeitsbündnisses von Elternhaus und Schule, dazu
können die verschiedenen Aufsätze des Buches beitragen. Das Buch
ist fortgeschrittenen Studierenden ebenso wie psychologisch,
pädagogisch sowie sozialpädagogisch tätigen Fachpersonen zu
empfehlen.