Rezension zu Analytische Sozialpsychologie

Psychologie Heute. Heft 06/2012. 39. Jahrgang

Rezension von Wolfgang Schmidbauer

Mitscherlich lesen!

Vielseitig, anregend, widersprüchlich – ein Reader zur analytischen Sozialpsychologie

Wer sich noch an die Zeit vor dem Internet erinnern kann, kennt einen Reader: Ein Lesebuch, in dem ein fachlich versierter Herausgeber zusammenstellt, was an alten und neuen Texten sein Fachgebiet geprägt hat, quasi eine Fachbibliothek zwischen zwei Deckeln. Als die Studenten noch eifrig Bücher kauften, waren Reader bei den Verlagen beliebt. Heute sind sie selten geworden.

Dass der Psychosozial-Verlag dem Zeitgeist trotzt und einen Reader Analytische Sozialpsychologie von Johann August Schülein und Hans-Jürgen Wirth herausgibt, hat sich gelohnt. Es ist ein Buch geworden, in dem jeder psychologisch Interessierte etwas findet. Wer es ganz durchstudiert, kann sich immer wieder bei den großen Stilisten der Psychoanalyse von den verschraubten Akademismen einiger ihrer Nachfolger erholen. So kann sich der Leser mit dem aufregenden Unternehmen auseinandersetzen, die Wechselwirkung von Kultur und Individuum zu vertiefen.

Als Freud begann, seine kulturkritischen Texte zuschreiben, war er ein umstrittener, aber erfolgreicher Autor, der seine theoretischen Neuerungen in kleinen Bändchen in einem eigenen Verlag herausbrachte. Er wandte sich – hier Mitscherlich ähnlich – an das psychologisch interessierte gebildete Publikum, in dem die Psychoanalyse mehr Freunde fand als in den Fakultäten. Das gilt vor allem für seine »sozialpsychologischen Texte«, die alle in dem Reader auszugsweise nachgedruckt und weiterentwickelt werden.

Von Freuds damaligen Auflagen konnten andere Psychoanalytiker mit wenigen Ausnahmen nur träumen. Eine dieser Ausnahmen war Alexander Mitscherlich, dessen Buch Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963) ein Bestseller wurde. Ein Reader wie der vorliegende macht es möglich, die unterschiedliche Lesbarkeit psychoanalytischer Autoren zu verfolgen und ansatzweise zu verstehen.

Mitscherlich ist für den, der ihn längere Zeit nicht mehr gelesen hat, eine Entdeckung: Er schreibt einen kraftvollen, gut durchdachten Text, sehr anschaulich, ohne die bei vielen der jüngeren Autoren auffälligen inhaltsarmen Begriffsklärungen und Methodendebatten. Er fordert nicht, dass die Psychoanalyse endlich die Ergebnisse der empirischen Sozialwissenschaften oder der biologischen Verhaltensforschung zur Kenntnis nehmen solle, er tut es und arbeitet die Aussagen amerikanischer Soziologen in seine Untersuchung ein.

Wenn 2008 der amerikanische Sozialphilosoph Richard Sennett in seinem Buch Handwerk beklagt, dass mit dem Verlust der Werkstatt die menschlichen Fähigkeiten schwänden, etwas um seiner selbst willen gut zu machen, greift er Mitscherlichs Gedanken auf. Dieser beschreibt bereits, wie »die Fertigstellung der Produkte in der langen, unpersönlichen Kette der technischen Fertigungsvorgänge« den Menschen aus »dem Erlebnis des Produzierens« ausschließt.

In seinem Kommentar zu Mitscherlich kommt Johann August Schülein auf das Dilemma der Sozialpsychologie schlechthin zu sprechen: Angesichts der Komplexität ihres Gegenstandes erkauft sie entweder scheinbare Exaktheit durch Informationsverlust und Langeweile (denken wir nur an die »Messungen« mit Fragebogen), oder sie setzt sich dem Risiko aus, »mit spekulativer Unsicherheit Komplexität zu erhalten«.

So wohlwollend wie Schülein urteilen nicht alle Autoren in dem Band. Es gibt Diskussionsbedarf, den die Herausgeber eher beschwichtigen als stimulieren: So würde Hans-Joachim Busch am liebsten den größten Teil dessen, was in der interessierten Öffentlichkeit als analytische Sozialpsychologie wahrgenommen wird (einschließlich mancher Arbeiten des Herausgebers Hans-Jürgen Wirth) in den Orkus stürzen – den »narzisstischen Sozialisationstyp« oder Mitscherlichs Vergleich von »Ödipus und Kaspar Hauser«. »Zeitgeschichtliche Akteure, Bewegungen, Staaten an den Maßstäben der Individualpsychologie und Psychopathologie zu messen« erklärt Busch für »sträflich«.

Könnte es sein, dass in diesem weiten Feld manche Autoren unbekümmert produktiv, andere aber bekümmert unproduktiv sind?

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