Rezension zu Selbstorganisation (PDF-E-Book)
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Rezension von Dr. Herbert Mück
Nach wie vor ist die Medizin unseres Kulturkreises stark vom
»Maschinenmodell« geprägt. Und so wie sich (zumindest bislang) die
meisten Maschinen nicht selbst »reparieren« können, erwarten auch
viele Patienten, dass ihr Arzt oder Psychotherapeut entscheidend
das Geschehen gestaltet und sie selbst sich lediglich »behandeln«
lassen (»fremdorganisatorische Sichtweise«). Dabei hat der
griechische Arzt Hippokrates schon vor rund 2.400 Jahren
festgestellt, dass es die Natur ist, die heilt, und nicht der Arzt
(»Medicus curat, natura sanat«). Zumindest in der Psychotherapie
verbreitet sich zunehmend die Haltung, nach der es gilt – ausgehend
von systemtheoretischem Denken –, die Selbstheilungs- bzw.
Selbstorganisationskräfte des Patienten zu stärken. Ein prominenter
Vertreter dieser Sicht- und Vorgehensweise ist der
Psychoanalytiker, EMDR-Therapeut und Klinikdirektor Reinhard
Plassmann, der dem Ansatz ein ganzes Buch gewidmet hat . Auf 339
Seiten (inklusive einem ausführlichen Literaturverzeichnis) fasst
der Autor in 19 Kapiteln wesentliche Erkenntnisse seiner
langjährigen klinischen Erfahrung zusammen und diskutiert diese vor
dem Hintergrund moderner Theorien (wie etwa dem Konstruktivismus).
Da es sich überwiegend um frühere Vorträge des Autors handelt,
wirkt der Gesamtband etwas »gestückelt«, gelegentlich sich
inhaltlich leicht wiederholend und durch die Interessenschwerpunkte
des Autors geprägt (z.B. Behandlung von Essstörungen und
Selbstverletzendem Verhalten). Der Qualität des Inhalts tut dies
aber keinen Abbruch. Die gewählten Beispiele lassen sich durchaus
auch auf andere psychische »Störungen« übertragen. Das für
Fachleute flüssig zu lesende Buch regt zu einem
schulenübergreifenden Denken an und ist angenehm praxisnah
geschrieben. Für Interessenten sei der Versuch gewagt, einige
Kerngedanken des Autors zusammenzufassen: Plassmann betont, dass es
für die Problembewältigung mehr darauf ankommt, »Prozesse« (also
Vorgänge/Abläufe) zu verstehen als deren Inhalt. Beispiel: Die Art
und Weise, wie ein Patient mit wichtigen Bezugspersonen umgeht, ist
für seine persönliche Weiterentwicklung (»Heilung«) meist
bedeutsamer als die Inhalte, über die er sich mit diesen
Bezugspersonen möglicherweise streitet. Die Veränderung des
typischen Ablaufs eröffnet einen qualitativen Fortschritt, weniger
eine Entscheidung zum jeweiligen Inhalt. Ein »prozessorientierter«
Helfer schafft für seine Patienten vor allem günstige
Rahmenbedingungen, in denen deren »Selbstorganisationsvermögen«
sich besser entfalten kann als bislang. Hierbei kann es oft
hilfreicher sein, in den Startblöcken harrende Entwicklungen
zuzulassen (»Die Kunst des Lassens«) als durch Tun etwas Bestimmtes
erzwingen zu wollen. So kann sich (im optimalen Fall) zwischen den
Beteiligten ein für alle förderlicher Rhythmus der Interaktion
einstellen. Entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen entstehen auch
dadurch, dass der Arzt oder Psychotherapeut dem Patienten Stärken
(»Ressourcen«) bewusst macht, die zwar im Patienten angelegt sind,
auf die er aber noch keinen optimalen Zugriff hat. Plassmann
unterscheidet zwischen dynamischen und Standardressourcen. Zu den
letztgenannten gehören beispielsweise körperliche Fähigkeiten oder
das Vermögen kognitiv Muster zu durchbrechen. Sie sind heute
Gegenstand der »positiven Psychotherapie« und lassen sich meist
auch feststellen, ohne dass es der Interaktion mit einem
Untersucher bedarf. »Dynamische Ressourcen« zeigen sich dagegen
erst in der Interaktion mit anderen Personen und gehen daher leicht
unter, sofern sie nicht vom Helfer benannt und bewusst gemacht
werden. Dynamische Ressourcen entwickeln sich von Augenblick zu
Augenblick weiter und können zum Beispiel eine veränderte
Körperhaltung oder Mimik oder eine verbesserte soziale Situation
sein. Nach Plassmann macht es Sinn, dass sich der Patient auf eine
solche Ressource konzentriert und dabei seinen Organismus bilateral
»stimuliert«. Offenbar setzt ein solches Vorgehen
Selbstorganisationsprozesse in Gang, welche die Ressource besser
verfügbar machen. Allein schon dadurch verschwindet mitunter
manches Problem wie von selbst (sog. Absorptionsphänomen). Die
Technik der bilateralen Stimulation entstammt der
Traumabehandlungsmethode EMDR und sieht vor, dass während des
Konzentrierens auf Gefühle und Gedanken die beiden Körper- bzw.
Gehirnhälften abwechseln stimuliert werden (z.B. durch
Augenbewegungen, Geräusche oder Berührungen). Um die
Selbstorganisationsmöglichkeiten eines Patienten optimal zu
fördern, ist es wichtig, ihn vorab zu »stabilisieren« (z.B. durch
Ressourcenaktivierung). Erst dann kann durch ein Pendeln
(»Oszillieren«) zwischen Fähigkeiten und Belastungen (Traumata) ein
Heilungsprozess in Gang gesetzt werden. Dieser besteht in dem
Vermögen, zwischen einem Traumaschema und Heilungsschemata
dynamisch hin- und herpendeln zu können und damit nicht länger
einer Fixierung auf das Traumaschema ausgeliefert zu sein. Heilende
Pendelprozesse lassen sich letztlich nur dann in Gang setzen, wenn
sie sich an der Emotion orientieren, die den Patienten momentan
gerade bewegt.
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