Rezension zu Eltern heute - Bedürfnisse und Konflikte
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Rezension von Prof. Dr. Margret Dörr
Thilo Maria Naumann: Eltern heute – Bedürfnisse und Konflikte
Thema
Auf der Basis unterschiedlicher sozialer Orte aber eines
gemeinsamen Interesses von PädagogInnen und Eltern an einer
gelingenden Entwicklung und Bildung der Kinder wird in dem Fachbuch
ein überzeugender Rahmen zur Beantwortung der Frage entfaltet, wie
PädagogInnen in Kindertagesstätten [Kita] in fachlich begründeter
Weise Eltern darin unterstützen können, das intensive – sowohl
potentiell schöne wie konfliktreiche – Beziehungsgeschehen zwischen
ihnen und den Kindern förderlich zu gestalten.
Autor
Thilo Maria Naumann, Dr. phil, Dipl.-Pol.,ist Professor für
Pädagogik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale
Arbeit der Hochschule Darmstadt. Er ist Gruppenanalytiker sowie
Mitglied im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische
Pädagogik (FAPP) und verfügt über langjährige Praxiserfahrungen in
der Kinder- und Jugendarbeit. Sein Schwerpunkt sind
Kindertageseinrichtungen.
Entstehungshintergrund
Eine historische Betrachtung zeigt, dass das Verhältnis von
familialer und öffentlicher Erziehung, Bildung und Betreuung von
Kindern ganz unterschiedlich bestimmt und gestaltet werden kann und
auch kontinuierlich Veränderungen unterliegt. Vor allem der in den
letzten Jahren in Deutschland vorangetriebene quantitative und
qualitative Ausbau des Systems der Kindertagesbetreuung stellt
dabei einen wichtigen Eckpunkt der gegenwärtigen Neubestimmung
dieses Verhältnisses dar. Erziehung, Bildung und Betreuung von
Kindern wird als ein gemeinsames Projekt zwischen öffentlicher und
privater Erziehung gefasst (vgl. Closs/Karner 2010). So steht außer
Frage, dass der Besuch einer Kindertagesstätte zum
selbstverständlichen Teil des Lebenslaufes – nun auch in den
ehemals westlichen Bundesländern – der meisten Kinder geworden ist.
Mit Blick auf die Kinder bedeutet dies, dass sie sich vermehrt
bereits in einem sehr frühen Lebensalter (vgl. u.a. KiföG 2008) in
zwei unterschiedlichen und doch notwendig ineinandergreifenden
Sozialisationsfeldern bewegen. Somit steigen die Anforderungen an
familialer und öffentlicher Erziehung, Bildung und Betreuung, um
ein hinreichend gelingendes Aufwachsen der Kinder zu ermöglichen.
Eine Aufgabe, die mit dem Schlagwort »Erziehungspartnerschaft«
Eingang in die derzeitige perspektivenreiche Diskussion gefunden
hat.
Vor dem Hintergrund einer dezidiert psychoanalytisch-pädagogischen
Elternarbeit in der Kita wendet sich Naumann einigen wesentlichen,
allzu häufig vernachlässigten, Facetten in dieser wichtigen Debatte
zu. Zwar enthält das Buch einige Passagen aus seinem 2010 im
Psychosozial-Verlag erschienenen Buch »Beziehung und Bildung in der
kindlichen Entwicklung«, gleichwohl sind zentrale Aspekte dem
Erkenntnisinteresse entsprechend mit Blick auf Elternschaft und
Elternarbeit neu arrangiert oder ergänzt.
Aufbau
Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Schwerpunkte. Nachdem
zentrale Dimensionen von »Beziehung und Bildung in der kindlichen
Entwicklung« (Kap. II) und »Bedürfnisse und Konflikte in der
Elternschaft« (Kap. III) dargestellt wurden, konzentriert sich der
Autor auf der Grundlage dieser Erkenntnisse auf eine
»Psychoanalytisch-Pädagogische Elternarbeit in der Kita« (Kap.
IV).
Inhalt
Unter Rekurs auf die phantastische Kindergeschichte »Wo die wilden
Kerle wohnen« erläutert Naumann in seiner kurzen Einführung (Kap.
I) sein Interesse der vorliegenden Arbeit, mit der er zu einer
pädagogischen Haltung von MitarbeiterInnen in einer
Kindertagesstätte beitragen möchte, die sowohl mit unbewussten
Affekten, mit Gefühlen und Bedürfnisse der am Prozess der
Beteiligten rechnen, Verständigung und Verstehen als eine fachlich
fundierte Prämisse pädagogischen Handelns betrachten und diese
Haltung auch gegen herrschende Ökonomisierungstendenzen zur Geltung
zu bringen versuchen. Beleuchtet werden Fragen nach der Bedeutung
kindlicher Beziehungserfahrungen mit Eltern und pädagogischen
Bezugspersonen aber auch nach den Bedürfnissen und Konflikten
»heutiger« Eltern(schaft) und was eine »Psychoanalytische Pädagogik
in der Kita dazu beitragen [kann], (…) die Entwicklung und Bildung
der Kinder genügend gut begleiten zu können.« (13) Nicht zuletzt
zeichnet er wesentliche Faktoren auf, durch die PädagogInnen
Unterstützung finden können, diese anspruchsvolle Elternarbeit
leisten zu können (9-15).
In Kapitel II Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung
stellt Naumann Bedingungen hinreichend guter kindlicher Entwicklung
dar. Dazu erläutert er wesentliche Wissensbestände der
Bindungstheorie sowie der Theorie der Affektregulierung und
Mentalisierung, verknüpft diese Erkenntnisse mit aktuellen
psychoanalytischen Entwicklungstheorien und verdeutlicht darüber
die Bedeutsamkeit der Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen für
den weiteren Prozess des kindlichen Aufwachsens. Auf dieser Folie
informiert er über die Relevanz der elterlichen Antworten – im
Medium des Spiegelns, Markierens und Symbolisierens – auf die
drängenden Entwicklungsthemen (Omnipotenz, Sexualität, Aggression,
Rivalität, Identifikation, Schuld, Scham …) der Kinder, die es
ihnen erlauben, eine sichere und entlastende Position im
Generationenverhältnis zu finden. Unter Bezugnahme auf Gerd Schäfer
formuliert er sein Verständnis von frühkindlicher Bildung, das den
unabdingbaren Zusammenhang von Selbstbildung und Verständigung
betont. Verständigung gelingt demnach auf der Basis der Freude am
kindlichen Erleben, der Empathie mit den besonderen Themen des
konkreten Kindes und durch das Zumuten einer äußeren Realität, die
an die innere Realität des Kindes Anschluss findet (38). In
weiteren Unterkapiteln verdeutlicht der Autor den hohen Rang der
sinnlichen Wahrnehmung als Vorläufer und Begleiter der
Fantasieentwicklung und des sprachlichen Denkens; des Spiels, um
Phantasie und Realität miteinander zu versöhnen sowie der
Kindergruppe die sich als »Übergangsraum« (Winnicott) für die
kindlichen Dramen, Fragen und Antwortversuche begreifen lässt.
Zudem skizziert Naumann entlang der Stichworte »Eingewöhnung«,
»Raumgestaltung« und »Partizipation« ausgewählte Blickwinkel, durch
die eine Kita zu einem förderlichen Rahmen für Kinder werden kann
und thematisiert zentrale fachliche Gesichtspunkte, die
pädagogische Bezugspersonen in ihrer Beziehungspraxis zu den
Kindern beachten sollten, wobei »Verantwortete Schuld«,
»Entwicklungsbündnis, Optimalstrukturierung und Szenisches
Verstehen?« einen bedeutenden Rang einnehmen (17-58).
In Kapitel III stehen Bedürfnisse und Konflikte in der Elternschaft
im Fokus. Psychosoziale und biografische Aspekte die eine »Geburt
der Eltern« erwartbar (mit)konstituieren werden ebenso dargestellt
wie gesellschaftliche Kontexte, die sich als ‚riskante Chancen′ auf
die Elternschaft auswirken. Als Querschnittsthemen hebt der Autor
die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse, Interkulturalität
sowie weitere psychosoziale Fallstricke hervor, die sich als
allgemeine Belastungen auf die Beziehung zwischen Eltern und ihren
Kindern auswirken können. Hierzu gehört auch die sozialkulturelle
Aufwertung der Beziehung zwischen Kindern und Eltern, da dieser
Sachverhalt auch zu einer potenziellen Überlastung führen kann.
Dabei greift Naumann besondere Themen – Leistungsdruck, Trennung
der Eltern, schwierige Migrationsbiografien, Armut, Behinderung und
AD(H)S-Zuschreibungen und frühkindliche (sexuelle) Gewalt –
beispielhaft in ihren möglichen (unheilvollen) Wirkungen auf die
Beziehung zu Kindern sowie auf die kindliche Entwicklung in einer
sensibler und anschaulicher Weise auf und begründet, auf der Folie
psychoanalytischer Wissensbestände, notwendige professionelle
Verständigungs- und Unterstützungsleistungen im Hinblick auf
»Entwicklungsbündnisse«. Einen eigenen Abschnitt widmet der Autor
den Anforderungen an Eltern und Kindern, die sich aus den je
besonderen Familienformen in unserer Gesellschaft ergeben. Unter
Einbezug der »Familienkultur als Angelpunkt der Elternarbeit« kann
er in diesem Abschnitt erhellen, wie theoretische Kenntnisse und
fachliches Können pädagogische Wahrnehmungs- und
Handlungsfähigkeiten allererst eröffnen und einen dialogischen
Verständigungsprozess mit den Eltern tragen können (59-123).
Auf der Basis der bisher dargestellten Erkenntnisse formuliert der
Autor im letzten Schwerpunkt (Kap. IV) seine Überlegungen für die
praktische Gestaltung einer Psychoanalytisch-Pädagogische[n]
Elternarbeit in der Kita. Mit seinen Leitgedanken zu »Willkommen!
Einladung, Aufnahme, Eingewöhnung«, »Partizipation und Vernetzung«,
»Elternbildung«, »Erziehungsberatung in der Kita«,
»interdisziplinäre Kooperation« gelingt es ihm nicht nur, der
Leserin entscheidende Schritte zur Herstellung eines
»Entwicklungsbündnisses« zwischen Eltern und PädagogInnen
aufzuzeigen, sondern er zeichnet beispielhaft und damit anschaulich
typische Probleme und ihre Bewältigungsmöglichkeiten auf, die (u.a.
über die Beachtung der Gegenübertragung, der Verwendung des
»Szenischen Verstehens«) ebenso ein Verständnis für die
Entwicklungsbedürfnisse der Kinder wie der diversen psychosozialen
Situationen und kulturellen Besonderheiten der Eltern gestatten und
in förderlichen Verständigungsprozessen mit den Beteiligten
einfließen können. Dabei gibt er der Beachtung von
gruppendynamischen Prozessen einen besonderen Rang, wobei
selbstverständlich auch die Institutionskultur der Einrichtung
(selbst)kritisch im Blick zu behalten ist. Indem Naumann auch
dezidiert auf rechtliche Rahmenvorgaben (z.B. des SGB 8) zur
interdisziplinären Kooperation der Kita mit anderen Hilfesystemen
hinweist formuliert er die Notwendigkeit, dass eine Kita, als
kompetent informierter niedrigschwelliger »Knotenpunkt« für die
Eltern tätig sein kann, um über Vernetzungsaktivitäten und
Verweisungswissen Eltern in lebensweltlichen Belangen zu
unterstützen und zugleich im partnerschaftlichen Austausch mit
ihnen zu bleiben. Nicht zuletzt benennt er die vielfältigen
Anforderungen, denen PädagogInnen in Kitas ausgesetzt sind und
betont ausdrücklich die emotionale »Haltefunktion« der Leitung oder
des Leitungsgremiums für die PädagogInnen als Voraussetzung, damit
diese die anspruchsvollen Herausforderungen hinreichend gut
meistern können. Weiterbildungsangebote, transparente,
partizipative Arbeitsstrukturen, fest implementierte
Teambesprechungen und Teamsupervisionen, aber auch ein beständiger
sozialpolitischer Kampf für bessere Arbeitsbedingungen verstärken
die Chancen, dass PädagogInnen in Kitas ihrem professionellen
Auftrag, für Eltern und Kindern Entwicklungsräume zur Verfügung zu
stellen, hinreichend gerecht werden können (125-151).
Im Resümee fasst Naumann sein Erkenntnisinteresse der vorliegenden
Arbeit noch einmal zusammen, und formuliert, obgleich er zahlreiche
sozial-ökonomische Fallstricke sieht, ein Plädoyer für eine
fachliche, lebendige und bedürfnisorientierte Elternarbeit, die in
der Lage ist, affektfreundliche Übergangsräume für Eltern und ihre
Kinder zu schaffen (153-156).
Diskussion
Dem Autor Thilo Maria Naumann ist es mit dieser vorliegenden
Monographie gelungen, die Fragen danach, welche
Beziehungserfahrungen mit Eltern und pädagogischen Bezugspersonen
Kinder für gelingende Entwicklungs- und Bildungsprozesse brauchen,
welche Bedürfnisse und Konflikte Eltern heute beschäftigen und was
eine Psychoanalytische Pädagogik in der Kita dazu beitragen kann,
mit den Eltern innerer und äußere »Spielräume« im Umgang mit
alltäglichen Konflikten zu eröffnen, für die Leserin sprachlich gut
verständlich und durchdacht gegliedert zu beantworten. Konsequent
stützt er sich zur Begründung seiner These, dass kindliche
Entwicklung durch die Verinnerlichung von positiven
Beziehungserfahrungen voranschreitet, auf psychoanalytische und
psychoanalytisch-pädagogische Theoriebestände von u.a. Dornes,
Gerspach, Figdor, Fonagy & Target, Leber und Schäfer sowie der
Bindungstheorie von Bowlby. Und hierbei ist es sicherlich ein
Verdienst von Naumann, nicht bei einer allgemeinen theoretischen
Fokussierung auf Bindung, Affektregulierung, Mentalisierung,
Holding und Containing stehen zu bleiben, sondern diese
Wissensbestände in den Kontext einer psychoanalytischen
Phasentheorie einschließlich der je besonderen kindlichen Themen
und Bedürfnisse zu stellen. Dennoch erlaube ich mir bei aller
Wertschätzung einen kritischen Einwand: Sexualität wird nur als
Nebenthema abgehandelt. Offenbar zwingt ihn die gewählte
Fokussierung auf verinnerlichte Objektbeziehungen, der
psychosexuellen Entwicklung von Kindern einen nur untergeordneten
Platz in seinen Ausführungen einzunehmen. Das Übergewicht, welches
das Konzept der Mentalisierung in seinen Ausführungen hat, lässt
(bei mir) den Eindruck entstehen, dass die
psychoanalytisch-pädagogische Perspektive sich zunehmend auf einen
kognitiven Horizont zu bewegt. Zugegeben etwas überspitzt
formuliert: Unbewusstes Begehren, libidinöse Strebungen von Kindern
sollen mittels Spiegelung, Markierung und Symbolisierung auf die
beruhigende Seite des rationalen Bewusstseins gebracht werden. Was
mir fehlt sind Ansätze einer psychoanalytisch-pädagogischen
Sexualtheorie frühkindlicher Entwicklung. Ansätze, die dazu
beitragen könnten, dass Lust und Erotik als machtvolle, gestaltende
Elemente im pädagogischen und institutionellen Bereich einer Kita
so angenommen werden, dass sie ihre Kraft entfalten können, ohne
dem Machtmissbrauch (sexuelle Gewalt) Vorschub zu leisten. Eine
psychoanalytische Sexualtheorie, die kritisch die Verwobenheit der
Sexualitäten in gesellschaftlichen Praktiken in den Blick nimmt und
die Möglichkeiten und Grenzen einer sexuellen Bildung der Kinder
auch in einer Kita auslotet.
Fazit
Jenseits dieser Anmerkungen hat Thilo Maria Naumann mit seiner
Monographie »Eltern heute. Bedürfnisse und Konflikte«, eine
empfehlenswerte Fachliteratur zum Thema »frühkindliche Bildung« und
»Elternarbeit« vorgelegt. Er macht die LeserInnen vertraut mit
zentralen Erkenntnissen und Methoden einer sozialwissenschaftlich
aufgeklärten Psychoanalytisch-Pädagogischen Praxis, die in einer
Kindertagesstätte – vor allem in der Elternarbeit – produktiv zur
Entfaltung gelangen kann. Diese Publikation bereichert aber nicht
nur den Fachdiskurs der Pädagogik der frühen Kindheit, sondern ist
– bereits in der (Aus)Bildung – auch für PsychologInnen,
SozialpädagogInnen und LehrerInnen mehr als geeignet.
Literatur
Cloos, P., Karner, B. (Hrsg.) (2010): Erziehung und Bildung von
Kindern als gemeinsames Projekt. Baltmannsweiler, Schneider Verlag,
Hohengehren
Rezensentin
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt »Theorie
Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung« an der Katholischen
Fachhochschule in Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung,
Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Abweichendes Verhalten und
Psychopathologie.
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