Rezension zu Kleist - Die Entdeckung der narzisstischen Wunde
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Rezension von Viola Berkling
Eine berufserweiternde Sicht auf die Psyche des Dichters Heinrich
von Kleist nicht nur für Psychotherapeuten und -analytiker, sondern
ein Muss für Pädagogen.
Bis in unsere heutige Zeit hinein wird Hochbegabung von Vielen als
eine Art Mythos dargestellt. Dabei sind es gerade diese
Persönlichkeiten, die die gesellschaftliche Entwicklung in allen
Bereichen voranbringen können und könnten, wenn man deren
Entfaltung zulassen und speziell fördern würde. Bei
durchschnittlich nur zwei Prozent der Weltbevölkerung, die über
diese hervorragende Veranlagung verfügt, ist es jedoch kein Wunder,
dass die restlichen 98 Prozent dieser Entfaltung entgegenwirken, da
sie sich grundsätzlich in die Persönlichkeit eines Hochbegabten
nicht oder nur schwer hineinversetzen können.
Der Autor seziert am Fallbeispiel Kleists in genauester Art und
Weise die Psyche eines Hochbegabten mit all ihren Irrungen, der
Zeit seines Lebens rastlos seinem Gefühlschaos ausgesetzt war. Die
Periode unmittelbar nach der Französischen Revolution erlebten auch
die Menschen in Deutschland als aufwühlend und verunsichernd, die
Ängste in großen Teilen der Bevölkerung mit sich brachte. Kleist
hatte den heute selbstverständlichen Anspruch auf Entfaltung seiner
Persönlichkeit, Anerkennung und Glück. Bei der Lektüre wird dem
Leser bewusst, dass dies über die Jahrhunderte hinweg erkämpft
werden musste. Bereits die Kleist-Biografie zeigt sehr deutlich das
Scheitern von Bewältigungsversuchen .
Welch ein Held Kleist in der damaligen Epoche war, und dass er in
unserer heutigen Zeit auch einer gewesen wäre, offenbart der Autor
von Seite zu Seite. Hochbegabung muss deshalb mit adäquater
Förderung einhergehen, denn leider ist dies noch immer nicht
selbstverständlich. Schulsysteme wirken selbst in der heutigen Zeit
in vielen Bereichen sogar hemmend, da im Allgemeinen wie auch im
Besonderen davon ausgegangen wird, dass sich Hochbegabung von ganz
allein durchsetzt und damit keinerlei zusätzlicher Unterstützung
bedarf. Dieser Fakt ist einfach falsch, denn nur durch konsequente
und allumfassende Förderung wird es möglich, die freie Entfaltung
dieser Menschen hervorzubringen. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen
und meistens auch dem Zufall geschuldet, finden Hochbegabte
Förderer ihrer Person und können durch mittlerweile geschaffene
Netzwerke unterstützt werden, um ihre großen Potenziale
auszuschöpfen. Potenziale, die für jede im fortschrittlichen,
humanistischen und auch politischen Sinne sich weiterentwickeln
wollende und nicht an Stagnation erkrankende Gesellschaft
unerlässlich sind.
Somit steht Kleist stellvertretend für viele unerkannte oder auch
absichtlich ignorierte Hochbegabte bis in unsere Zeit hinein.
Seiner aufklärerischen Erziehung und seiner außerordentlichen
Intelligenz war es zu verdanken, dass er seine traumatischen Ängste
und Verstimmungen immer wieder kompensieren konnte und der Nachwelt
seine großartigen literarischen Werke hinterließ. Welch eine Tragik
offenbart uns der Autor, wenn er davon berichtet, dass Kleists
Genie nicht nur in seiner Kindheit und Jugend verkannt wurde,
sondern auch Goethe als sein Mentor sich von ihm zurückzog.
Dem Leser wird nach und nach mit Schmidbauer unnachahmlicher
Analyse klar, dass Kleist seine »narzisstische Wunde« gar nicht
heilen konnte. Anhand eines genauesten Psychogramms von Kleist
vermag es der Autor brillant, uns den Prototypen eines
»narzisstisch Verwundeten« darzustellen; der Präzedenzfall in der
Geschichte!
Kleist hatte mit seinen Voraussetzungen und seinen Zwängen, Alles
oder Nichts, sowie seiner gnadenlos auf ihn einprasselnden Umwelt
keine andere Chance, als den Tod als die bessere Variante des
Lebens zu sehen. Schmidbauers große Leistung in diesem Werk, neben
vielen anderen erhellenden Einlassungen zur Psychoanalyse, sehe ich
in seinem sehr einfühlsamen und differenzierten Aufzeigen von
Auswegen aus privaten und beruflichen Krisen. Dieses Werk
beeindruckt, da es ein Umdenken im bisherigen Umgang mit all den
Genies, die noch unentdeckt im Verborgenen unter uns verweilen,
fordert. Eine aufschlussreiche, anspruchsvolle und empfehlenswerte
Lektüre, die inspiriert, Kleists Werke unter diesem Blickwinkel
noch einmal zu lesen.
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