Rezension zu Kleist - Die Entdeckung der narzisstischen Wunde
Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 31
Rezension von Christine Kanz
War der Schriftsteller Heinrich von Kleist narzisstisch? Und falls
ja, interessiert das zweihundert Jahre nach seinem Tod
irgendjemanden? Hilft das Wissen darum, seine
rätselhaft-ambivalenten und affektgeladenen Texte zu verstehen?
Unter Literaturwissenschaftlern ist diese Frage höchstens als
rhetorische wahrzunehmen. Sie bestätigt einmal mehr die Gewissheit,
dass es die literarischen Texte sind, die zu interessieren haben
und der Autor dahinter einfach tot ist – gleichgültig, ob er erst
den fünfundzwanzigsten oder den zweihundertsten Geburtstag feiert.
Denn ob er im physischen oder nur im theoretischen Sinne tot ist,
spielt für die Analyse seiner Texte keine Rolle. Das Textwissen ist
unendlich viel größer als das Wissen des Autors, dem beim Schreiben
so manches unterläuft, das ihm nicht bewusst ist, das er nicht
lenken kann, das über ihn hinausgeht. Historische, soziale,
politische, kulturelle Kontexte sind es höchstens, die die Feder in
bestimmte Richtungen und wieder zurück lenken und um die man als
Interpret/in möglichst gut Bescheid zu wissen hat, will man sich
nicht ganz allein und nur auf den Text konzentrieren. Letzteres,
eine werkimmanente Interpretation oder ein close reading,
erscheint einigen immer noch (oder neuerdings wieder) als die
redlichste Methode, da sie vermeintlich ohne jeden ideologischen
Touch auskommt. Die Autorenpsyche hat da so wenig wie die
Autorenbiographie etwas zu sagen, und schon gar nicht darf von der
einen auf die andere geschlossen werden – so oder ähnlich lernt man
es seit Jahrzehnten in jedem germanistischen Einführungsseminar.
Und entsprechend ist diese Regel auch dem »Wort zum Geleit« von
Martin Roussel zu entnehmen. Genauso wie es dem Verfasser Wolfgang
Schmidbauer selbst bewusst ist, wie wenig er das Recht hat, sich
anzumaßen, den toten Kleist auf die Couch zu legen – mag er auch
einer der am erfolgreichsten schreibenden Psychologen unserer Zeit
sein und mag sein Buch auch nicht in einem
literaturwissenschaftlichen, sondern in einem genuin
psychoanalytischen Verlag, dem Psychosozial-Verlag, erschienen
sein.
So weit so gut. Diejenigen, die keine Literaturwissenschaftler
sind, können sich schon dafür interessieren, ob Kleist narzisstisch
war oder nicht – sei es aus psychologischem Interesse, aus
Neugierde an menschlichen Fehlern und Abgründen, sei es, weil sie
sich aus welchen Gründen auch immer mit ihm identifizieren. (Dass
es davon nicht wenige auch unter den Literaturwissenschaftlern
gibt, steht auf einem ganz anderen Blatt). Es ist viel zu erfahren
über die angebliche Persönlichkeit Kleists in diesem Buch: Er war
vielleicht homosexuell, sich zumindest seiner geschlechtlichen
Identität nicht sicher. Er hatte Größenphantasien, wünschte
sehnlich, dass sein Werk bekannt und er selbst berühmt würde.
Gleichzeitig benötigte er den Rückzug und die Ruhe vor der doch
andererseits zu Lob aufgeforderten Welt. Nur dann könnte er seine
Begabung – und die hatte er in vielerlei Hinsicht, auch
musikalische, war zudem von höchster Intelligenz – entfalten. In
Gesellschaft muss er sich eher wie ein psychopathisches Ekel,
jedenfalls oft schroff, stumm, unfreundlich benommen haben.
Er litt Zeit seines Lebens unter den Konflikten zwischen feudaler
und bürgerlicher Moral sowie unter traumatisierenden Erfahrungen
mit verständnislosen Lehrern und Erziehern. Schmidbauer
rekonstruiert bzw. »erschließt«, wie er selbst gleich zu Anfang
zugibt, dies alles nur durch »tastende Versuche« (S. 19), und zwar
vor allem aus den wenigen überlieferten Briefen, vor allem den
»Brautbriefen« des jungen, von ihm als »hochbegabt« eingestuften
Schriftstellers. So malt er sich auch aus, dass Kleist früh ein
Faible für den Gedanken an den Freitod entwickelte. Jedem
gegenüber, der ihm nahe stand, äußerte er das immer wieder. Selbst
ein Angstkomplex (inklusive der dazugehörigen körperlichen
Reaktionen wie Durchfall) oder Alkoholsucht, vielleicht auch
Spielsucht seien diesen Briefen abzulesen, so Schmidbauer. Müssen
wir wissen, dass Kleist vermutlich unter Verdauungsproblemen litt?
Von Thomas Mann etwa wissen wir das zwar auch, weil er selbst sie
in fast schon penetranter Weise immer wieder in den Tagebüchern
aufgelistet hat. Aber verstehen wir deshalb seine Texte besser?
Neben solchen intimen Konstruktionen, die berühmte
Autorenpersönlichkeit betreffend, findet Schmidbauer auch eine
psychologische Erklärung dafür, dass Kleist nicht alleine sterben
wollte. Sie klingt schon plausibel: Um sich schuldfrei, ohne
schlechtes Gewissen das eigene Leben so früh nehmen zu können,
bedurfte Kleist der Rechtfertigung, Erlaubnis oder Bestätigung
eines Gegenübers – am besten eines liebenden Gegenübers –, das ihn
ins Jenseits begleitete, seine narzisstischen
Verschmelzungsphantasien erfüllte und damit die Liebe erst
eigentlich beglaubigte: Er hatte seine Cousine Marie von Kleist und
andere ihm Nahestehende immer wieder vergeblich gefragt und traf am
Ende auf Henriette Vogel. Liebte sie ihn wirklich? Oder war sie
›nur‹ lebensmüde, weil sie sich unheilbar krank wähnte? War er
gläubig? Schmidbauer beantwortet diese unweigerlich entstehenden
Fragen nicht wirklich. Warum verwendet er die Worte »Suizid« oder
»Selbstmord« und nicht ›Freitod‹, obgleich er doch sogar von der
Arbeit des schweizerischen Exit-Vereins zur Unterstützung und
gegenseitigen Begleitung im Falle des Suizidwunsches berichtet?
Auch diese Frage bleibt offen.
Neben diesem biographistischen Strang, den man entweder goutieren
oder links liegen lassen kann, gibt es eine Reihe von
Feststellungen, die bei der Begegnung mit Kleists Texten schon zu
reflektieren oder die zumindest bedenkenswert und auch
aufschlussreich sind – gerade wenn es um das »Wissen« Kleists geht
– ein Wort, mit dem Schmidbauer gleich zu Anfang aufräumen will, in
dem er es im Sinne Kleists durch das Wort »Bekümmern« ersetzt:
»Kleist spricht allerdings nicht vom Wissen, sondern vom Bekümmern
– also von einem sorgenden Interesse für den Gegenstand, mit dem
wir uns beschäftigen« (S. 18). Das überzeugt wenig angesichts des
reichhaltigen Wissenshorizonts Kleists, den er dann aufzeigt: Nicht
naturwissenschaftliches, landwirtschaftliches, literarisches Wissen
nur, sondern vor allem psychologisches Wissen nämlich ist es, was
Kleist, vielleicht hier ähnlich einsichtig wie Shakespeare, in all
seine Texte einfließen ließ. Kleist war in der Sicht Schmidbauers
ein Protopsychologe, ein »Vorläufer der Tiefenpsychologie und
Pionier der Narzissmusforschung« (S. 17 und S. 156). Das wird ganz
plausibel, wenn man ernst nimmt, was Schmidbauer herausgefunden hat
und zum Großteil auch überzeugend herleitet und begründet. Nicht
nur hat Kleist das, was Gotthilf Heinrich Schubert oder Franz Anton
Mesmer als tierischen Magnetismus und künstliche Somnambulie noch
vergleichsweise archaisch und dem magischen Denken verhaftet
beschrieben, in einem gedanklichen Salto nach vorne gebracht auf
einen gleichsam neuen, der modernen Psychologie angemessenen Stand.
Er hat im Grunde auch schon Freuds Narzissmus-Theorie und dessen
tiefenpsychologischen Überlegungen vorgearbeitet. Das wird sehr
deutlich, wenn Schmidbauer anhand von Briefen und auch
literarischer Texte Kleists beschreibt, wie dessen Figuren aufgrund
von Kränkungen und Nicht-Anerkennung von Schamgefühlen zu
Affektausbrüchen wie Wut, Hass, Rache gelangen müssen, seien es
Kohlhaas, Käthchen, der Prinz von Homburg oder der Findling. Mit
Kleists Texten kennt Schmidbauer sich jedenfalls prächtig aus –
vielleicht besser als so manche/r Germanist/in.
Über die Ich-Werdung, die Entwicklung des Ich und des Selbst, hat
Kleist laut Schmidbauer sogar Plausibleres geschrieben als der
Strukturalist und Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem
berühmten Spiegelstadium-Aufsatz – einer der theoretischen
Basistexte jeden Germanistik-Studiums in Deutschland. Von Kleist
hätte er hierfür nur lernen können, findet Schmidbauer: »Kleists
Aussagen im Marionettentheater«, so der Autor, scheinen
»in vieler Hinsicht mehr über das menschliche Selbstbewusstsein zu
verraten [...] als die Aussagen Lacans« (S. 157). Dessen
Ausführungen seien »fragwürdig«, »unverständlich«, von
»tautologischen Begriffen« (S. 158) durchsetzt und von
»Selbstüberschätzung« geprägt (S. 163). Seine grundsätzliche
Aversion gegen Lacan und dessen offenbar von ihm ebenfalls als
überheblich wahrgenommene Anhänger macht Schmidbauer dann über ca.
zehn Seiten hinweg mehr als deutlich (vgl. S. 157 ff.).
Kleist hingegen habe sich im Gegensatz zu Lacan oder Freud nicht
auf die früheste Kindheit, sondern auf die Adoleszenz konzentriert,
deren Wichtigkeit erkannt und ihre Entwicklungsproblematik
hellsichtig beschrieben: Sein Aufsatz »Über das Marionettentheater«
sei im Vergleich mit Lacans Thesen ein guter Beleg dafür, dass
Psychoanalytiker lieber mehr Kleist lesen sollten, als sich in
immer undurchschaubarere Konstruktionen zu verlieren, was in der
frühesten Kindheit an prägendem Einfluss geschehen sein könnte. (S.
164)
Die Lektüre des Marionettentheater-Aufsatzes können
säumige Kollegen dann in Schmidbauers Buch gleich nachholen, es ist
im Folgenden vollständig abgedruckt. Die hier beschriebene
Spiegelszene habe »ein realistisches Drama der Grandiosität vor dem
Spiegel erfasst und uns darauf aufmerksam gemacht, wie leicht es
zerstört werden kann« (S. 165).
Generell sind nach Schmidbauers Auffassung, die allerdings nicht
überraschend, sondern eher schon Allgemeingut innerhalb der
Kleist-Forschung ist, die Begriffe der »Anerkennung« bzw. viel eher
noch der Kränkung durch Nicht-Anerkennung und Nicht-Wertschätzung
zentral für den »traumatisierten Hochbegabten« Kleist (S. 143), dem
vor allem die archaischen Grundaffekte Scham, Angst, Wut selbst
vertraut waren und die er auch besonders anschaulich zu Papier
bringen konnte. Die »Gleichzeitigkeit von Unterworfensein und
Überblick ist es, die ihn zu einem großen Dichter macht« (S.
75).
Für Schmidbauer ist Kleist lange vor Freud der erste Denker, der
das menschliche Ich nicht als Träger von Erkenntnis und
Naturbeherrschung idealisiert, sondern als einengende, von
Eitelkeit und narzisstischer Bedürftigkeit (›Ziererei‹) geprägte
Struktur in Frage stellt. (S. 174)
Er findet auch, dass Kleist Niklas Luhmanns Darlegung der
Entstehung der modernen Liebesauffassung im 17. und 18. Jahrhundert
(in seinem Standardwerk »Liebe als Passion«) an Tiefe, Einsicht und
Beschreibungskraft übertroffen habe, indem er bereits die
Mechanismen moderner, narzisstischer Verschmelzungsphantasien mit
reflektierte. Zentrale Beobachtungen Kleists würden im übrigen von
Neuropsychologen der Gegenwart bestätigt werden. Heutzutage würde
der Dichter vielleicht sogar nach einer Lehranalyse selbst
Psychiater oder Psychotherapeut. Klug, zu intensiven Freundschaften
fähig, an Einsichten in das eigene Innere leidenschaftlich
interessiert, wäre er ein guter Kandidat für eine analytische
Ausbildung gewesen. (S. 155)
Auch wenn Schmidbauer in nicht wenigen seiner Ausführungen – etwa
in seinem nicht mit konkreten Belegen begründeten seitenlang
ausgeschütteten Affekt gegen Lacan – zu weit geht, in seiner
allgemeinen Ratschlaggeberei übertreibt, sich immer wieder zum
allwissenden Psychophilosophen aufschwingt und zum Teil selbst zum
Dichter wird und anhand vor allem der »Brautbriefe« Kleists
gelegentlich zu Diagnosen kommt, deren Sinnhaftigkeit nicht zu
erkennen ist – sein Buch ist insgesamt anregend. Nach begonnener
Lektüre möchte man es eigentlich nur ungern aus der Hand legen, es
stattdessen in einem Zug von vorne bis hinten, Seite für Seite
durchlesen, auch wenn man zwischendurch immer wieder leicht
irritiert bis empört den Kopf schütteln muss. Klar ist jedenfalls
nach der Lektüre einmal mehr, dass Kunst und Literatur der
Wissenschaft und sogar der Philosophie vorausgehen, wenn es um den
Tatbestand »existenzieller Probleme« (S. 178), also die Grundfragen
des Lebens, geht. Nachvollziehbar wird auch, dass Kleist auf
literarischem Wege, durch sein Schreiben, imstande war, die eigenen
psychischen Dilemmata aufzulösen oder sie zumindest abzumildern. Es
bleibt die Frage, ob dies auch für seine Leser/innen gilt.
Die Erklärung oder Rechtfertigung für sein Vorgehen liefert
Schmidbauer dabei erst in der Mitte seines Buchs: »Texte entstehen
durch Texte, die ein Dichter in sich aufgenommen und verwandelt
hat. Ohne den vergleichenden Blick auf die Texte ist das Werk nicht
zu verstehen. Aber der Blick auf den Verarbeitungsprozess in der
Person des Autors ergänzt diese Art der Betrachtung; hier siedle
ich den möglichen Beitrag der Psychologie an« (S. 142).
Man könnte das neueste Buch Schmidbauers vielleicht insgesamt eine
doppelcodierte Analyse nennen, da sie verschiedene Wissensebenen
zugleich bedient: Es stellt eine über Strecken hinweg anregende
Lektüre sowohl für neugierige Psychotherapeuten als auch für
interdisziplinär offene Literaturwissenschaftler dar. Wen die eine
Ebene nicht interessiert, der kann sich an die andere halten. Wen
beides interessiert, wird doppelt belohnt – meistens.
Christine Kanz