Rezension zu Kreative Therapien in der Psychoanalyse
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Rezension von Prof. Dr. Margret Dörr
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16.04.2012
Gertraud Reitz, Rolf Schmidts u.a.: Kreative Therapien in der
Psychoanalyse
Thema
Der vorliegende Band bietet der Leserin entlang zahlreicher
Fallgeschichten erläuternde Auskunft über zentrale Bedingungen der
Wirkung von Tanz-, Musik- und Theatertherapie als körperzentrierte,
kreative Verfahren in der Behandlung von verstörten, leidenden
Menschen. Die Autorinnen und Autoren – alle erfahrene
Psychoanalytiker/innen – sind der Dynamischen Psychiatrie (G.
Ammon) und der von ihm gegründeten Klinik Menterschwaige in München
verbunden und sind auch als Musik-, Tanz- oder
Theatertherapeutinnen und -therapeuten tätig.
Autorinnen und Autoren
– Gertraud Reitz ist seit über 20 Jahren Lehranalytikerin der
Deutschen Akademie für Psychoanalyse in München. Sie arbeitet in
eigener Praxis als Psychoanalytikerin, Gruppen und
Tanztherapeutin.
– Rolf Schmidts ist langjähriger Chefarzt der
Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige, er ist ärztlicher
Leiter und Lehranalytiker des Lehr- und Forschungsinstituts der
Deutschen Akademie für Psychoanalyse in München.
– Ingeborg Urspruch begründete 1979 als Chefärztin der
Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige die
»Psychoanalytische Theatertherapie«. Die Psychoanalytikerin und
Lehranalytikerin ist seit 1985 Präsidentin der Deutschen
Gesellschaft für Dynamische Psychiatrie (DGDP).
– Thomas Rosky arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor.
Entstehungshintergrund
In den letzten Jahren hat sich das Konzept des embodiment als ein
Schlüsselthema interdisziplinärer Ansätze im Überschneidungsbereich
von Philosophie, Psychologie, Psychiatrie, Soziologie sowie
Neurowissenschaften etabliert. Damit geraten – über Konzepte der
Psychosomatik hinaus – Körpererinnerungen und die Verleiblichung
früher Erlebnisinhalte leidender Menschen in den
Aufmerksamkeitsfokus von Theorien und Praxen bisheriger
Psychopathologie und Psychotherapien. Dies hat auch Folgen für die
Entwicklung der Psychoanalyse. Durch die (Rück-)Besinnung auf ihre
Wurzeln, die nicht von der neurophysiologischen Forschungstätigkeit
von Freud getrennt werden kann (war doch bereits Freud davon
ausgegangen, dass das Ich in erster Linie ein körperliches ist),
werden die tiefgreifenden Vorbehalte seitens der etablierten
Psychoanalyse gegen körperorientierte Psychotherapieverfahren
aufgeweicht und vermehrt nichtsprachliche Quellen als Zugang zu
Spuren lebensgeschichtlich früher traumatischer
Interaktionserfahrungen der Menschen genutzt, um diese mittels
Symbolbildungsprozesse der bewussten Reflexion und der
(Wieder)Herstellung der Kommunikationsfähigkeit zugänglich zu
machen.
Aufbau
– Einführung (Thomas Rosky)
– Musik als Welt-, Fremd- und Selbsterfahrung (Rolf Schmidts)
– Tanztherapie – Bewegte Geschichten (Gertraud Reitz)
– Bühnentanz und Tanztherapie – Ein kulturgeschichtliches
Zusammentreffen (Susanne Reitz)
– Psychoanalytische Theatertherapie (Ingeborg Urspruch)
Inhalt
Thomas Rosky führt die Leserin in die vorliegenden Beiträge ein,
verweist dabei auf den häufig vernachlässigten Sachverhalt der
tiefer gehenden Verknüpfung von Körper, Kognition und Emotion, die
für manche Grenze einer klassischen psychoanalytischen
Behandlungsmethode verantwortlich gemacht werden kann und hebt
hervor, dass (wenn auch nicht nur) vor allem diejenigen »Patienten,
deren Krankheit aus frühen, vorsprachlichen Störungen resultiert,
sowie Patienten mit psychosomatischen Leiden ein erweitertes
therapeutisches Angebot brauchen« (S. 9), um Zugang zum
Körpererleben sowie zu den eigenen Gefühlen und Emotionen
(wieder)gewinnen zu können. Dadurch geraten die Dimensionen des
interaktiven Handelns und der Intersubjektivität verstärkt ins
Blickfeld der Konzeptualisierungen von Psychotherapie: Tanz,
Theater oder Musik werden als nonverbale Medien zum Bestandteil des
psychoanalytischen Prozesses; der in der therapeutischen Situation
jeweils gezeigte künstlerische Ausdruck wird analysiert und
gedeutet. Sehr eindringlich hebt Rosky hervor, dass die Autorinnen
und Autoren, entgegen vieler derzeit angebotenen nonverbalen,
körperzentrierten Verfahren, an der fundamentalen Grundannahme der
Psychoanalyse festhalten: das Seelenleben des Menschen ist im
Wesentlichen unbewusst und das bedeutet, Macht und Einfluss des
Unbewussten konsequent ernst zu nehmen.
Der Beitrag von Rolf Schmidts »Musik als Welt-, Fremd- und
Selbsterfahrung« macht anschaulich, wie Musiktherapie die Öffnung
zum Unbewussten oftmals leichter und unmittelbarer möglich macht
als eine verbale Therapie. In achtungsvoller Erinnerung an Günter
Ammon, den Begründer der Dynamischen Psychiatrie, vermag er
aufzuzeigen, wie sich Musiktherapie längst aus dem Status einer
bloßen Hilfsform für die »eigentliche« verbale Therapie
herausgearbeitet hat und sich in der Kombination mit einer
sprachlichen Deutungs- und Interventionsebene in der Gruppe – auch
in der Arbeit mit psychotischen- und Borderline-Patienten – sehr
bewährt hat. Im Medium der Gruppe kann die kommunikative
Möglichkeit von Klang, Rhythmus und Melodie als Ausdruck tiefer
vorsprachlicher Gefühle und Konflikte genutzt werden, um Kontakt
und Kommunikation auf einer unbewussten Ebene herzustellen. Dieses
»hörbare Beziehungsgeschehen« (S. 17) kann zugleich als Ausdruck
der Atmosphäre der gesamten Großgruppe Klinik gelten. In die Arbeit
eines Einzelnen stimmt z.B. die Gruppe als Chor ein, so dass die
Gruppensituation ein Gefühls- und Übertragungssplitting ermöglicht
– eine Chance um beispielsweise Verlassenheitsangst zu lindern. Die
entstehenden Gefühle, die innere Bewegung, werden dabei in Worte
gefasst, da es nicht nur darum geht, etwas zu bewegen, sondern auch
darum, dass etwas bleibt, und dazu braucht es Worte. Des Weiteren
setzt sich Schmidts kritisch mit dem »Problem der
Ganzheitlichkeit«, »der Zeit« sowie dem Verhältnis »der Einzelne
und die Gruppe« auseinander und erläutert beispielhaft, wie jeder
Gruppenprozess und jedes Gruppenmitglied in diesem Geschehen auch
beunruhigende z.B. narzisstische Zustände und/oder
Eifersuchtsthemen durchschreitet.
Das aufgezeichnete Gespräch zwischen Rolf Schmidts (Psychiater und
Musiktherapeut), Theodor Weimer (Sänger und Kirchenmusiker) und
Thomas Rosky (Autor und Redakteur) beleuchtet die überdeterminierte
Bedeutung der Aussage, »Musik ist klingende Gruppendynamik« und
auch in diesem Gespräch wird emphatisch beschrieben, wie es einem
Musiktherapeuten gelingen kann, die erlebten Situationen in der
Gruppe immer wieder auf eine kognitive Ebene zurückzuführen, ein
Vorgang, der zur Identitätsentwicklung der Teilnehmerinnen
beitragen kann.
Gertraud Reitz führt die Leserin durch »Bewegte Geschichten«, die
in der »Tanztherapie« evoziert werden. Entlang einzelner
Fallbeispiele wird das Thema der Rückmeldungen aus der Gruppe
lebhaft und sachhaltig aufgegriffen und so kann die Leserin sich
eine Ahnung darüber verschaffen, wie viel Mut es bei den
Teilnehmerinnen und Teilnehmer bedarf, sich ihrem unbewussten
Ausdruck im Tanz (bei selbstgewählter Musik) zu überlassen.
Erörtert wird – neben theoretischen Grundlagen – nicht nur die
Notwendigkeit, einen individuellen Therapieplan zu erstellen (im
Einzelfall können Mal-, Milieu oder längere Einzeltherapie
vorausgehen), sondern auch die diversen Möglichkeiten neue
Beziehungsformen zu erleben und zu verinnerlichen. Welch hohen Rang
auch in dieser kreativen Therapieform die Gruppe hat, und welche
Möglichkeiten diese Intervention für Diagnostik und Indikation in
der ambulanten wie stationären Psychiatrie bietet – insbesondere
bei Menschen mit frühesten vorsprachlichen Störungen –, wird ebenso
gut begründet dargelegt wie die professionellen Aufgaben der
Therapeutin im prozesshaften Geschehen der Tanztherapie und die
Relevanz des therapeutischen Rahmens. So gibt dieser Beitrag auch
der bisher nicht informierten Leserin einen ersten Eindruck über
die psychoanalytische Tanztherapie, der durch die Schilderungen von
Prozessen des Widerstandes, der Entwicklung und Veränderung in
mehreren Fallvignetten anschaulich bereichert wird. Dabei gelingt
es Gertraud Reitz, bei der Leserin das Bewusstsein wach zu halten,
dass Wesentliches im Geschehen nur atmosphärisch, gleichsam
präsentativ zu begreifen ist, das letztlich in einer
sprachsymbolischen Vermittlung nicht vollständig eingeholt werden
kann.
Mit dem Titel »Bühnentanz und Tanztherapie – Ein
kulturgeschichtliches Zusammentreffen« entwirft Susanne Reitz
(Tanzpädagogin, Choreographin und Sozialanthropologin, Amsterdam)
eine theoretische Komposition historischer, religiöser und
philosophischer Verbindungslinien zwischen diesen beiden Genres.
Sie wirft ihren Blick auf den »europäischen Ausdruckstanz«,
informiert über den wichtigsten Theoretiker und Lehrer des freien
modernen Ausdruckstanzes »Rudolf von Laban (1879-1958)« sowie über
die von ihm entdeckte bekannteste Vertreterin des deutschen
Ausdrucktanzes Mary Wigman (1886-1973). Zudem werden weitere
Grundpositionen der Pionierinnen der Tanztherapie wie Trudi Schoop
(1903-1999) und der Norwegerin Liljan Espenak (1905-1988)
skizziert. Als wichtigste amerikanische Pionierin des modern dance
findet u.a. Martha Graham (1894-1991) Anerkennung sowie weitere
Vertreter/innen »Postmoderner Tanz und Tanztheater in Europa«.
Hervorgehoben wird beispielsweise Tina Bausch, die seit Ende der
Siebzigerjahre des letzten Jahrhundert für ein Theater der
befreiten Körper und des befreiten Geistes steht und damit für ein
Tanztheater der Humanität (vgl. Schmidt 2002). Susanne Reitz
erwähnt auch die pädagogische Arbeit des Choreographen Royston
Maldoom, der durch sein Tanzprojekt mit Berliner Schüler/innen in
Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern in Deutschland
bekannt wurde: Ein pädagogisches Projekt, das an vielen anderen
Schulen in Deutschland ›Schule machte‹: »Diese
Bewegungstheater-Inszenierungen mit großen heterogenen Gruppen
nutzen die Möglichkeiten von Tanz zur Förderung von emotionalen,
sozialen und kognitiven Fähigkeiten.« (S. 93)
Der letzte Beitrag zu den kreativen Therapien in der Psychoanalyse
stammt von Ingeborg Urspruch über »Psychoanalytische
Theatertherapie«. In ihrer grundlegenden Einführung verweist sie
zunächst aufschlussreich auf die ›kultischen Ursprünge des
Theaters‹ sowie auf ›das antike griechische Theater‹ und kann
darüber erhellen, dass – seit der Antike – im Theater, im Drama, in
der Komödie und der Tragödie »alle wesentlichen Bereiche
menschlicher Konfliktkonstellationen zur Darstellung gebracht
worden« waren, wodurch auch heute noch dem Theater »per se
therapeutische Wirkung im weitesten Sinn« (S. 99) zuerkannt wird.
Bereits Johann Christian Reil (1759-1813) hatte für jedes
psychiatrische Krankenhaus ein Theater gefordert, um den Patienten
die Möglichkeit zur Darstellung auch ihrer bizarrsten Vorstellungen
zu bieten, und auch »korrigierende Veränderungen sollten in den
Inszenierungen angeboten werden.« (ebd.) Während Jacob Levy Moreno
(1890-1974) seine theatertherapeutische Methode vom Stegreiftheater
zum Psychodrama entwickelte, werden – so wie Ingeborg Urspruch ihre
Psychoanalytische Theatertherapie einsetzt – hierbei keine
Konflikte psychodramatisch inszeniert. Die Auseinandersetzung mit
den Theaterstücken sowie der gewählten Rolle ermöglichen das
Erleben persönlicher Konflikte. Dies eröffnet der Patientin die
Gelegenheit, sich im Spiel ganzheitlich zu erleben verbunden mit
der Chance, das in der Vergangenheit Erlebte wieder zu finden, neu
zu beleben und so der Bearbeitung zugänglich zu machen. »Die
Theatertherapie wirkt analytisch-aufdeckend, kathartisch und
fördert die kreativen Fähigkeiten des Patienten. Basis meiner
Theatertherapie ist die psychoanalytische Milieutherapie« (S. 101),
wodurch Geborgenheit, Zuwendung und Sozialenergie (S. 130) einen
hohen Rang einnehmen. Entlang diverser, anschaulicher Fallvignetten
stellt die Autorin Aspekte des Prozesses der Rollenfindung –
zwischen Identität und Konflikt – dar und hebt dabei die für die
(Weiter-)Entwicklung des Einzelnen wesentliche gemeinschafts- und
Sinn stiftende Dimension hervor. Gut begründet kann sie die
›Theaterbühne als Spiegel‹ verinnerlichter unbewusster
Erlebnisbereiche sowie unbewusster gruppendynamischer Bewegungen
markieren. Möglich wird das Ausprobieren und Ausleben bisher nicht
bewusster bzw. nicht »gestatteter« Affekte, die mit Unterstützung
der Gruppe und der Therapeutin ins Alltagsleben übertragen werden
können. Im Schlussteil ihrer ausführlichen Schilderungen – die mit
zahlreichen Fotos zu Theateraufführungen untermalt sind – lässt
Ingeborg Urspruch einige ihrer Patientinnen und Patienten selber zu
Wort kommen, und kann darüber sowohl die Herausforderungen als auch
die facettenreichen positiven Erfahrungen mit der
Psychoanalytischen Theatertherapie der Leserin vermitteln.
Diskussion
Die Autorinnen und Autoren G. Reitz, S. Reitz, Schmidts, Urspruch
und Rosky haben in ihren anspruchsvollen und dennoch gut lesbaren
Ausführungen über kreative Therapien in der Psychoanalyse
eindrücklich die hohe Bedeutung der vorsprachlichen und
protosymbolischen Interaktionsformen im psychotherapeutischen
Geschehen dargestellt und zugleich am obersten Prinzip der
Psychoanalyse als Behandlung festgehalten: Es geht um eine
fallspezifische Ergänzung zur verbalen Therapie in Klinik und
Ambulanz; um die verbale Bearbeitung und Bewusstmachung der im
nonverbalen Medium stattfindenden gruppendynamischen
Wechselwirkungen und Prozesse mit Menschen, deren
Symbolisierungsfähigkeit durch traumatische Beziehungserfahrungen
tendenziell zerstört bzw. verhindert wurde. Mit Hilfe von
Mentalisierung und Verbalisierung auch des körperlichen Erlebens
haben Tanz, Musik und Theater heilende Wirkungen auch und gerade
bei Patientinnen und Patienten mit so genannten »frühen Störungen«,
da sich über diese Medien etwas ausdrücken und erleben lässt, was
sich über Sprache kaum oder nur schwer vermitteln lässt.
Fazit
»Mit Musik-, Theater- und Tanztherapie sind in diesem Buch drei
nonverbale Therapien ausgewählt worden, die in dieser Kompilation
so noch nie dargestellt wurden.« (Rosky, S. 14) Eindrücklich wird
der Gewinn psychotherapeutischer (Gruppen-)Behandlung mit kreativen
Medien vor allem für die Menschen dargestellt, die ehemals
grenzverletzende Beziehungserfahrungen haben machen müssen.
Beziehungserfahrungen, die ihres prä-symbolischen Charakters wegen
im körperlichen, prozeduralen, nicht aber im
sprachlich-symbolischen Gedächtnis gespeichert sind. Insofern
bereichert der Band explizit den Fachdiskurs über die Wirkungen
dieser kreativen Psychoanalytischen Therapieverfahren und ist
besonders für die Professionellen im psychosozialen Bereich
empfehlenswert, die vor dem Hintergrund der Unverfügbarkeit des
Unbewussten sich dennoch Anregungen für die Beschäftigung mit
diesen kreativen Therapien erwarten.
Rezensentin
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt »Theorie
Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung« an der Katholischen
Hochschule in Mainz.
Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, Psychoanalytische
(Sozial)Pädagogik, Abweichendes Verhalten und Psychopathologie.
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