Rezension zu Die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung durch Freud und Jung
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. Heft 48. 24. Jg. 2011
Rezension von Ernst Falzeder
Im März 2010 fanden in Deutschland gleich zwei Symposien zum
hundertjährigen Bestehen der IPV statt, ein gemeinsam von DPV und
DPG veranstaltetes in Berlin, und ein von der Jung’schen DGAP
veranstaltetes im Grand Hotel in Nürnberg, dem Ort der
IPV-Gründung, dessen Beiträge im vorliegenden Buch versammelt sind.
Während in Berlin praktisch nur Historiker und Psychoanalytiker zu
Wort kamen, vereinigte die Tagung in Nürnberg Repräsentanten aller
vier großen tiefenpsychologischen Fachgesellschaften (plus der
DGPT), also neben Psychoanalytikern auch analytische und
Individualpsychologen. Diese »Kongress-Spaltung« wird freilich in
dem Band mit einer Ausnahme nirgends erwähnt; einzig Martin Teising
(DPVIIPV) bemerkt, man sei zu einer gemeinsamen Veranstaltung
»nicht in der Lage« gewesen (S. 272).
Die Vorträge gliedern sich in zwei Gruppen: Die einen behandeln die
Gründungsgeschichte, die Wahl einer bestimmten Organisationsform
und die Institutionalisierungsgeschichte der Psychoanalyse, die
anderen gehen von den damaligen klinischen Vorträgen aus und widmen
sich Weiterentwicklungen der behandelten Thematiken.
Elke Metzner und Martin Schimkus geben in ihrer informativen
Einleitung einen Überblick über den geschichtlichen Hintergrund der
Ereignisse vor, in und nach Nürnberg. Dann skizziert Leibl
Rosenberg die damalige Stellung Nürnbergs und speziell die Lage der
relativ kleinen, aber wichtigen jüdischen Gemeinde. Exemplarisch
schildert er das spätere Schicksal eines Referenten von 1910,
Leopold Löwenfeld. Durch die folgenden Vorträge zieht sich wie ein
roter Faden die Frage, warum gerade diese Vereinsform gewählt
wurde. Friedhelm Kröll meint, dass die IPV, ähnlich wie andere
damals aufkommende »voluntary associations«, die ihr Angehörenden
eher als »Anhänger« denn als »Mitglieder« sah und sich einer
religiös gefärbten Sprache bediente. Michael Ermann spricht von
einem »Institutionskonflikt der Psychoanalyse« (S.84), also dem
Widerspruch zwischen ihrem tendenziell aufklärerischen und
emanzipatorischen Inhalt und der autoritären Vereinsstruktur. Mai
Wegener beschäftigt sich mit der »Exkommunikation« Lacans, der
selbst die Gründung der IPV als »außerordentlichen joke« bezeichnet
hatte. Anne Springer untersucht die IPV-Gründung aus dem
Blickwinkel der Theorie von Bion. Der Prozess sei durch »unbewusste
Grundannahmen« zur Verarbeitung »sehr früher Ängste und Affekte von
Liebe und Hass« gestört worden (S. 116-118), etwa durch jene der
»Kampf-Flucht-Gruppe«, was bereits die Idee einer Spaltung
nahelegte. In einem zweiten Teil untersucht sie die ganz andere
Form der Institutionalisierung in der Analytischen Psychologie.
Roman Lesmeister widmet sich dem Thema »Jung und Freud im Jahre
1910 – Die Intimität einer Beziehung ohne ausreichende
Verständigungsgrundlage«.
Almuth Bruder-Bezzels Beitrag steht »zwischen« den beiden
Abteilungen, indem er sich sowohl mit den Turbulenzen der Gründung
und Adlers damaliger Position als auch mit seinem Vortrag über
psychischen Hermaphroditismus auseinandersetzt. Es folgt ein Text
von Michael B. Buchholz, der auf Freuds Vortrag über »Die
zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie« zurückgreift
und eine einfache, aber, wie ich finde, erhellende Unterscheidung
einführt: zwischen einem »resonanten Unbewussten, das gleichsam in
horizontaler Richtung soziale Bezüge zum Anderen entfaltet«, und
einem »vertikalen« Unbewussten, das intrapsychisch »unten« vermutet
wird. Das Letztere habe Freud theoretisch ausgearbeitet, für die
therapeutische Haltung habe er sich dagegen auf ein Resonanzmodell
bezogen (S. 168 f.). Edith Kerstan untersucht, ausgehend von
Abrahams damaligem Vortrag, die Wandlungen psychoanalytischer
Fetischismus-Konzepte bis hin zu Meltzer oder Chasseguet-Smirgel.
Christian Maier nimmt die Vorträge zweier Zürcher, Alphonse Maeder
und Johann Jakob Honegger, zum Anlass, die Entwicklung
psychoanalytischer Theorien über Psychosen, v. a. Paranoia und
Verfolgungswahn, nachzuzeichnen. Abschließend setzt sich Michael
Lindner, ausgehend von Stekels Vorschlag einer
Symbol-Sammelforschung, mit dem Symbolbegriff bei Freud und Jung
auseinander. Anhand einer Fallgeschichte wird ausgeführt, dass
anscheinend »sexuelle« Symbole in Träumen für die Sexualisierung
ganz essenzieller Fragen stehen können: Trostbedürfnis, Trauer,
Schuld oder Selbstfindung.
Wie Rosenberg in seinem kenntnisreichen und bewegenden
Einleitungsreferat befindet: »Der Geschichte, und schon gar der
eigenen Geschichte, nähert man sich niemals ungestraft« (S. 38).
Freud selbst wollte mit der Gründung der IPV eine Stelle schaffen,
die verbindlich erklären könne, was Psychoanalyse sei und was
nicht. 1914, als er dies in seiner »Geschichte der
psychoanalytischen Bewegung« schrieb, sah er die Adler/'sche und
die Jung/'sche Richtung dezidiert als »nicht Psychoanalyse« an. Nun
wurde zur 100-Jahr-Feier der WV eine Gedenktafel enthüllt mit der
Inschrift, dass aus der Gründung der »Gleichgesinnten« [sic] –
sprich: Freud, Jung und Adler – »verschiedene psychoanalytische
[sic] Richtungen« hervorgegangen seien, die nur eine jeweils
»eigene organisatorische Form« gefunden hätten, wobei die
Adler/'sche IVIP, die Jung/'sche IGAP und die von Fromm gegründete
IFPS angeführt werden. Die Wunden der Brüche und Trennungen
scheinen noch nicht ganz verheilt zu sein; vielleicht deshalb heißt
es auch, nicht »Spaltungen« seien die »Verzweigungen der
psychoanalytischen Bewegung« gewesen, sondern eher »Sezessionen«
(Kröll, S. 73). Die heutigen »verschiedenen Psychoanalysen seien
Amalgame« (Bruder-Bezzel, S. 164). Und mit der IPV sei kein
»Monolith«, der zersplittern könne, geschaffen worden, sondern »ein
Myzel«, »etwas, das wachsen und immer neue Formen hervorbringen
kann« (Grußwort Wimmer, S.267). Ob man hier nicht im ehrlichen
Bemühen, »das Verbindende [...] nicht aus den Augen zu verlieren«
(S. 270), das immer noch Trennende – so augenfällig in der
»Kongress-Spaltung« – ausgeblendet hat?
Ernst Falzeder (Salzburg)