Rezension zu Sie küssen und sie schlagen sich
cuncti.net
Rezension von Arne Hoffmann
Lebbar
Barbara Kiesling: »Viele Frauen haben kein Bewusstsein für die
eigene Aggression«
Der Sozialpädagogin, Eheberaterin und Publizistin Barbara Kiesling,
deren Beiträge in Zeitschriften wie »Psychologie heute« erscheinen,
ist mit ihrem Buch »Sie küssen und sie schlagen sich« eine Analyse
zum Thema häuslicher Gewalt gelungen, die über das bekannte Modell
vom Täter Mann und Opfer Frau deutlich hinausgeht. Trotz
erheblichen Zeitdrucks ließ sich Barbara Kiesling
dankenswerterweise schnell zu einem Interview für Cuncti bewegen,
sobald ich ihr eine erste Auswahl meiner Fragen zugeschickt hatte:
»Ich bin so froh, dass es jemanden gibt, der solche Fragen
stellt.«
Barabara Kiesling: Sie küssen und Sie schlagen sich,
Psychosozial-Verlag
Arne Hoffmann: Frau Kiesling, auf dem Backcover Ihres Buches kommen
Sie sofort zur Sache: »Wenn von häuslicher Gewalt die Rede ist,
haben die meisten ein ganz bestimmtes Bild vor Augen: einen
misshandelnden männlichen Täter und ein misshandeltes weibliches
Opfer«. Können Sie kurz umreißen, welches in Ihrer Sicht
realistischere Modell Sie diesem Klischee entgegensetzen?
Barbara Kiesling: Ich würde mir Plakataktionen wünschen, auf denen
BEIDE Partner mit einem blauen Auge nebeneinander im Bett sitzen.
Ein solches Bild würde der Realität entsprechen, wobei das »blaue
Auge« nur sinnbildlich gemeint sein kann. Ich betone ja in meinem
Buch wiederholt, dass psychische Verletzungen mindestens genauso
schmerzhaft und vernichtend sind wie körperliche Übergriffe. Es
gibt Gewaltbeziehungen, in denen keinerlei körperliche Gewalt
angewendet wird, sondern die Kämpfe ausschließlich auf verbaler
Ebene stattfinden. Wobei es immer BEIDE sind, die sich einander
bekämpfen.
Wenn jemand seinem Gegenüber böse Blicke zuwirft, ihn angewidert
anschaut, ihn nicht beachtet, dann sind das auch
Aggressionsäußerungen, die den anderen verletzen. Viele Frauen, die
sich als Opfer in ihrer Beziehung betrachten, haben kein
Bewusstsein für die eigene Aggression. Sie sagen vielmehr: »Na, ich
habe doch gar nichts gemacht. Er hat einfach zugeschlagen!« Dass
aber auf so ein Zuschlagen auch eine RE-AKTION folgt, wird von den
meisten nicht mitgedacht. Selbst vermeintlich geheimgehaltene
Verachtung dringt atmosphärisch zu seinem Adressaten vor. Von daher
ist es wichtig zu wissen: In einer Gewaltbeziehung sind BEIDE
Partner sowohl Opfer als auch Täter!
Arne Hoffmann: Wenn man auf diese Weise argumentiert, bekommt man
in der Regel einen von zwei Einwänden zu hören. Der erste wird in
der Regel von Vertretern des klassischen Paradigmas als der Vorwurf
vorgebracht, dass man körperliche Brutalitäten verharmlose, wenn
man sie etwa mit verbalen Provokationen implizit gleichsetze. Der
andere wäre die Warnung vor einer ausufernden Definition von
»häuslicher Gewalt«: Wenn jeder schiefe Blick und jede zugeknallte
Tür schon häusliche Gewalt darstellten, habe man plötzlich in 80
Prozent aller Haushalte häusliche Gewalt vorliegen, womit dann
wieder massive staatliche »Hilfsprogramme«rechtfertigt werden
können. Was erwidern Sie auf diese Einwände?
Barbara Kiesling: Ich möchte keinesfalls körperliche Brutalitäten
verharmlosen. Schließlich enthalten diese ja auch eine psychische
Komponente; denn wenn jemand von seinem »Liebespartner« geschlagen
oder geboxt wird, dann leidet gleichzeitig auch die Seele.
Demgegenüber können herabwürdigende Worte die Integrität eines
Menschen so schwer erschüttern, dass dieser selbstmordgefährdet
wird.
Vermutlich müssen hierbei auch die Summe und die Fortdauer
miteinbezogen werden. Provokationen haben natürlich
unterschiedliche Wirkungen, je nachdem, ob es sich um singuläre
Ereignisse handelt oder um über Jahre oder gar Jahrzehnte
fortbestehende. Deshalb kann man das wohl nicht in eine Waagschale
legen.
Zur Definition von Misshandlungsbeziehungen, auf die sich hier all
meine Ausführungen beziehen: Es handelt sich um Beziehungen, in
denen sich beide Partner zuweilen wechselseitig durch verbale oder
körperlich Angriffe schwer verletzten. Die zeitweiligen
Verhaltensweisen beider Partner sind hierbei geeignet, den anderen
dauerhaft zu schwächen oder gar psychisch zu vernichten.
Wesentliche Merkmale einer Misshandlungsbeziehung sind 1. das
periodische Wiederkehren solcher Gewaltszenarien, 2. die
Unmöglichkeit, sich aus solch einer eigentlich unerträglichen
Beziehung zu lösen und 3. die Verleugnung, die es den Beteiligten
verwehrt, ihre Situation in Zeiten der sogenannten Reuephase
realistisch einschätzen zu können.
Das Verhalten dieser Menschen hat meines Erachtens durchaus
Krankheitswert. Von daher muss die »zugeknallte Tür« stets im
Kontext gesehen werden: Gehört sie zu einem »normalen« Streit? Oder
ist sie lediglich ein Teil des Gesamtbildes einer
Misshandlungsbeziehung?
Arne Hoffmann: Was ist typisch für Frauen und Männer, die ihren
Liebespartner misshandeln und von ihm misshandelt werden?
Barbara Kiesling: Das ist eine sehr gute Frage! Denn es gibt
eigentlich zunächst einmal nicht »das Typische« bei diesem
Personenkreis. Sie unterscheiden sich – zumindest dem äußeren
Anschein nach – nicht von der übrigen Bevölkerung. Vermutlich wird
deshalb auch die irrige Auffassung vertreten, dass jeder von
partnerschaftlicher Gewalt betroffen sein kann.
Im Gegensatz zu vielen anderen Autorinnen behaupte ich: Es kann
NICHT jedem passieren. Man muss schon prädestiniert für eine
Gewaltbeziehung sein.
Diesbezüglich gibt es mindestens eine Untersuchung, bei der
herausgefunden wurde, dass sich 60 % der Frauen sofort von ihrem
Partner getrennt haben, nachdem er nur ein einziges Mal gewalttätig
geworden ist (Bernard & Schlaffer 1990). Andere hingegen bleiben
trotzdem. Von daher kann ich nun doch sagen: Typisch für die
Menschen, die in Gewaltbeziehungen leben, ist der Umstand, dass sie
sich meist nicht aus eigener Kraft daraus befreien können.
Aber noch einmal zurück zu Ihrer Frage: Wenn Menschen zu mir in die
Beratungspraxis kommen und von Gewaltereignissen in ihrer Beziehung
berichten, dann gehe ich davon aus, dass es sich hierbei um
Individuen handelt, die in irgendeiner Form Gewalt in ihrer
Kindheit erlebt haben. Ansonsten wäre für sie ein gewaltbereiter
Mensch so »fremd», so außerhalb jeder Vorstellungskraft, dass sie
sofort nach dem ersten Gewaltausbruch die Flucht ergriffen hätten.
Ganz so, wie es die erwähnte Untersuchung hervorgebracht hat.
Da diese Menschen im Alltag ganz »unauffällig« sind, und sogar oft
gute Positionen in der Arbeitswelt haben, ahnt der Außenstehende
gar nicht, welche schweren seelischen Verletzungen sich hinter
ihrer – manchmal sogar grandiosen – Fassade verbergen.
Arne Hoffmann: In diesem Zusammenhang sprechen Sie in Ihrem Buch
»längst überholte feministische Thesen« an, die sich »über
Jahrzehnte hinweg im Bewusstsein halten« konnten, nämlich: »Dass
eine Frau in einer von Gewalt geprägten Beziehung feststeckt, ist
nur möglich, weil ihr Platz in der Gesellschaft sie von vornherein
in die unterlegene Position zwingt«. Warum bleiben eine Frau oder
ein Mann wirklich in einer Gewaltbeziehung?
Barbara Kiesling: Bevor ich diese – auch schon vor mehr als einem
halben Jahrhundert gestellte – Frage beantworte, möchte ich
zunächst zu den feministischen Thesen sagen, dass ich die
fortbestehende Polarisierung in Täter und Opfer nicht nur als
überholt ansehe, sondern sogar als höchst nachteilig für die
Betroffenen erachte.
Es gibt zweifellos viele Errungenschaften, die ohne die
feministische Bewegung nicht möglich gewesen wären. Und ich gebe
zu, dass jene Frauen, die mit Misshandlungsspuren in Frauenhäusern
Zuflucht suchen, tatsächlich den Anschein erwecken, als könne sich
an ihrem Aussehen der Machtanspruch ihrer Männer deutlich ablesen
lassen.
Allerdings fehlt bei der überwiegenden Mehrheit, die sich über
häusliche Gewalt äußern, die Berücksichtigung tiefenpsychologischer
Zusammenhänge.
Aus diesem Grund sind für mich die meisten Behauptungen zum Thema
Gewaltbeziehungen vergleichbar mit einer ärztlichen Fehldiagnose:
Dem Patienten kann damit nicht geholfen werden. Im Gegenteil: Eine
Behandlung, die auf der Basis einer falschen Diagnose durchgeführt
wird, kann alles nur noch schlimmer machen.
Nehmen wir das Beispiel der Alkoholkranken: Diese wurden auch über
Jahrzehnte hinweg als charakterlos und willensschwach verachtet.
Ihnen wurden Vorhaltungen gemacht. Man hielt sie für infame Lügner,
weil sie ihre Versprechungen nie einhielten. Diese Umgehensweise
mit ihnen hat sie nur noch mehr in die Alkoholsucht getrieben.
Irgendwann hat sich dann die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich
um kranke Menschen handelt, die – ohne therapeutische Intervention
– meist nicht in der Lage sind, ihre Sucht zu beherrschen. Das gilt
im übrigen für alle Suchtkranken.
Damit kann ich jetzt zu Ihrer Frage überleiten: Ein Mensch bleibt
aus ähnlichen Gründen in einer Misshandlungsbeziehung wie ein
Suchtkranker bei seinem Suchtstoff. Zugrunde liegt eine enorme
Abhängigkeit, die sich Nichtbetroffene vermutlich gar nicht
vorstellen können. Diese Abhängigkeit könnte man mit der eines
Säuglings von der Mutter gleichsetzen.
Darüber hinaus dient der Partner in einer Gewaltbeziehung als
Projektionsfläche. Auf ihn kann alles eigene Unwillkommene
projiziert werden. Damit ist es dann praktisch im Außen. Das ist
eine große Entlastung. Im Falle einer Trennung müssten alle
Projektionen zurückgenommen werden. Dann geht es den Betroffenen
sehr schlecht. Das ist sicher ein gewichtiger Grund, weshalb diese
Menschen in die Gewaltbeziehung zurückkehren.
Der Abwehrmechanismus der Projektion spielt aber noch eine andere
wichtige Rolle in dem Geschehen: Die Projektionen sind
verantwortlich für die Gewaltausbrüche: Im anderen wird das
bekämpft, was von den eigenen »Dämonen«nach außen abgeführt wurde.
Der Kampf gegen einen äußeren Gegner ist leichter zu führen, als
sich mit den traumatischen Inhalten im eigenen Innern
auseinanderzusetzen.
Arne Hoffmann: An den Anfang Ihres Buches haben Sie ein Zitat des
bekannten Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz gesetzt, dem Sie sich
offenbar anschließen: »Wer sein eigenes Leid nicht wahrhaben und
fühlen will, der wird anderen Leid antun (müssen!)«Könnten Sie kurz
ausführen, inwiefern diese Erkenntnis im Zusammenhang mit
häuslicher Gewalt wichtig ist?
Barbara Kiesling: In einer Gewaltbeziehung wiederholen sich oft
Kindheitsszenen. Nur sind es jetzt andere Mitwirkende. In meiner
Studie konnte ich das anschaulich machen. Bei den Erzählungen
meiner Interviewpartnerinnen, die in Gewaltbeziehungen gelebt
haben, konnte bei der Auswertung der Texte zuweilen der Vater nicht
vom Ehepartner unterschieden werden.
Ich bin davon überzeugt, dass in einer Misshandlungsbeziehung zwei
traumatisierte Menschen zusammenfinden. Auf der bewussten Ebene
wollen sie glücklich miteinander werden – wie alle anderen Menschen
auch. In den unbewussten Bereichen schwelen bei ihnen aber noch der
Schmerz, die Wut und die Hilflosigkeit, die sie im Verlaufe ihrer
Kindheit ertragen mussten. Diese seelischen Inhalte werden auf den
Partner übertragen.
Als anschauliches Bild würde ich zwei Menschen mit einer
Ritterrüstung bekleidet zeichnen. Hinter ihrem Rücken halten beide
einen Morgenstern. Dieses Bild weist nicht nur darauf hin, dass sie
jederzeit zu einem Schlag auszuholen bereit sind, sondern auch,
dass sie selbst gar nicht berührbar sind. Durch vielfache
Traumatisierung haben sie sich einen Panzer zulegen müssen, um vor
weiteren Verletzungen geschützt zu sein. Damit sind sie aber meist
auch nicht für die Liebe erreichbar.
Aufgrund der Projektionen kommt es ihnen dann tatsächlich so vor,
als würden sie erneut angegriffen werden. Dann wird der Kampf
eröffnet. Sobald die Beteiligten diese Zusammenhänge erkennen und
ihren alten Schmerz fühlen, können sie sich aus diesem
wiederkehrenden Geschehen befreien. Solange sie jedoch ihr frühes
Leid verleugnen, werden sie es in irgendeiner Weise ausagieren
(müssen). Meist geschieht dies, indem wiederum anderen Leid zufügt
wird.
Arne Hoffmann: Ablehnend zitieren Sie eines der vielleicht
sexistischsten deutschen Bücher, das von dem Soziologieprofessor
Dieter Otten verantwortete Werk »MännerVersagen», erschienen bei
Bastei Lübbe. Darin heißt es so erfrischend deutlich, wie es sonst
nur Radikalfeministinnen gelingt: »Nicht Gewalt und Kriminalität
bedrohen unsere Gesellschaftsordnung, sondern Männer«. (Man stelle
sich vor, ein schwarzer Wissenschaftler würde formulieren »Nicht
Gewalt und Kriminalität bedrohen unsere Gesellschaftsordnung,
sondern Neger«.) Wie kommt es, dass selbst ein Akademiker, dem man
eigentlich ein gewisses Reflexionsvermögen zutrauen sollte, eine
derartige Verachtung gegenüber seinem eigenen Geschlecht
entwickelt?
Barbara Kiesling: Was Herrn Otten betrifft, so kann ich mir kein
Urteil erlauben. Ich kenne ihn nicht. Deshalb möchte ich meine
Antwort allgemeiner fassen. Bevor ich dies tue, muss ich aber erst
ein wenig ausholen und die psychischen Abwehrmechanismen erwähnen,
die uns Menschen vor schmerzhaften Einsichten schützen, weil hierin
möglicherweise der Grund für den Widerstand an dem von mir
vorgelegten Konzept liegt.
Je schmerzhafter die Erfahrungen eines Menschen waren, desto mehr
muss er das Bild, welches er von sich und seiner Vergangenheit hat,
in der Verdrängung halten. Durch diese – eigentlich sehr sinnvolle
– Maßnahme, die der einzelne ebenso wenig wie die Frequenz seines
Herzschlages beeinflussen kann, entstehen dann die blinden Flecken,
denn zu den verdrängten Inhalten hat der Mensch nicht ohne weiteres
Zugang. Das ermöglicht ihm jedoch, sich trotz schwerer
Traumatisierungen noch einigermaßen in der Balance zu halten. Meist
müssen langwierige therapeutische Prozesse durchlaufen werden, um
das ganze Ausmaß einer traumatischen Kindheit aufzudecken. Aus
diesem Grund sind sich die wenigsten Menschen, die in einer
Misshandlungsbeziehung leben, ihrer traumatischen Erfahrungen voll
bewusst. Und deshalb verstehen sie auch nicht, weshalb ihnen so
Schlimmes widerfährt.
Mitarbeiter von Einrichtungen, die das Unbewusste und die damit
einhergehenden psychischen Zusammenhänge bei häuslicher Gewalt
ebenfalls ausblenden und allein von den soziologischen Erklärungen
überzeugt sind, vermitteln den in Erklärungsnot geratenen
Betroffenen dann, häusliche Gewalt sei an die patriarchalischen
Strukturen gebunden. Das liegt sicher auch daran, dass die Aussagen
von misshandelten Frauen zugrunde gelegt werden, die selbst eine
Erklärung für die unverstandenen Phänomene suchen und entsprechende
Darstellungen abgeben.
Das hat sich mir besonders eindrücklich gezeigt, als ich während
meiner Forschungen in Amerika die führende Autorität auf dem Gebiet
der Misshandlungsbeziehungen, Lenore Walker, besucht hatte. Sie hat
mir stolz den von ihr entwickelten Fragebogen gezeigt, welchen sie
den hilfesuchenden Frauen vorlegt. Darin mussten die Frauen
lediglich ein Kreuz als Antwort machen. Beispielsweise: »Glauben
Sie, dass Ihr Mann Macht über Sie ausüben will? Ja? Nein?« Mit
derartigen suggestiblen Fragen werden die irrigen Überzeugungen in
die Welt gesetzt und zementiert. Von nun an spricht es jeder nach:
Es ist die Macht, die der andere ausüben will. Verstanden haben die
wenigsten, worum es tatsächlich geht.
Nun stelle man sich einen Mann vor, der eine Therapie in einer
Einrichtung gemacht hat, die das Geschlechterverhältnis als
Erklärung für häusliche Gewalt zugrundelegt. Dann ist er – von
einem entsprechend überzeugten Therapeuten – darüber belehrt
worden, wie abscheulich er sich als Mann gegenüber seiner Frau
verhalten hat. Aus entsprechenden Berichten lässt sich entnehmen,
dass von den gewaltbereiten Männern in so einer Therapie nicht nur
Einsicht sondern vor allem Reue verlangt wird.
In einem veröffentlichten Interview mit einem Missbrauchstäter hat
sich ziemlich deutlich gezeigt, was ihm in seiner Therapie
beigebracht worden war. Mit Stolz rief er sinngemäß aus, nun »nicht
mehr das Schwein zu sein, welches er vorher war«. Mit einem solchen
Statement suchte er die Anerkennung seiner Umgebung. Auch wollte er
sich als »geheilt« darstellen. Daran zeigt sich schon, wie sehr
diese Menschen in die Irre geführt werden. Denn von Heilung kann
auf diesem Wege ja keine Rede sein.
Aussagen, wie die von Ihnen erwähnte, sind meiner Meinung nach das
Ergebnis der Verleugnung von schweren Traumatisierungen sowie von
mangelnder Liebe den Menschen und sich selbst gegenüber.
Arne Hoffmann: Im Vorwort Ihres Buches regen Sie dazu an, »den
Kampf gegen häusliche Gewalt einzustellen und stattdessen etwas
Positives an seine Stelle zu setzen«. Diese Formulierung dürfte für
viele Leser eine ungeheure Provokation darstellen. Was könnte das
Positive sein, das die Bekämpfung von häuslicher Gewalt ablösen
soll?
Barbara Kiesling: Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich hier
nochmals die Gelegenheit habe, mich zu erklären. Gegenwärtig wird
der häuslichen Gewalt der Kampf angesagt. Kampf erfordert immer
einen Gegner. Das führt zu Gegnern, die sich einander bekriegen.
Niemand geht unbeschadet aus einem Kampf hervor. Meist gibt es
Verwundete auf beiden Seiten.
Auf feministischer Seite stehen jene, die die Männer insgesamt an
den Pranger stellen. Denn solange allgemein nicht verstanden wurde,
dass es sich bei gewaltbereiten Männern nur um einen ganz
bestimmten Personenkreis handelt, nämlich um traumatisierte
Menschen, solange wird ein Generalverdacht gegen alle Männer
erhoben.
Selbstverständlich müssen sich »die Männer« gegen solche Vorwürfe
zur Wehr setzen. Und so treten antifeministische Männerbewegungen
ins Schlachtfeld.
Nun haben sich zwei Fraktionen gebildet, die sich gegenseitig
bekämpfen. Jede Seite will Recht bekommen und als Sieger aus diesem
Kampf hervorgehen. Das ist die gegenwärtige gesellschaftliche
Situation.
Beim einzelnen Betroffenen bewirkt der Kampf gegen häusliche Gewalt
auch das Gegenteil: Denn Kampf ruft bei denen, die bekämpft werden,
stets Widerstand hervor. Statt sich offen zu zeigen, werden viele
Betroffene versuchen, sich zu verstecken. Sie sind dann nicht
erreichbar für die Hilfe, die sie eigentlich so dringend bräuchten.
Diese Menschen haben nämlich genug Vorhaltungen in ihrem Leben
bekommen. Sie sind zur Genüge drangsaliert und verletzt worden.
Wir Außenstehende müssten gewahr werden, dass sich diese Menschen
hoffnungslos nach Liebe sehnen. Denn diese haben sie bisher in
ihrem Leben noch nie erfahren. Das wissen sie nur nicht. Und so
kann derjenige, der sich über die tiefenpsychologischen Strukturen
der Menschen, die in Gewaltbeziehungen leben, informiert hat, dann
nicht mehr sagen: Das müssen wir bekämpfen. Vielmehr würde dann die
Notwendigkeit der Aufklärung, der Bewusstmachung, der Unterstützung
und des Beistandes im Vordergrund stehen. Man stelle sich vor, all
die Energie, die momentan in den sinnlosen Kampf fließt, käme auf
diese Weise den Betroffenen zugute!
Die Voraussetzung dafür wäre ein neues Menschenbild, für das ich in
meinen Büchern plädiere. Ein Menschenbild, welches sich mehr aus
dem Herzen als aus dem Verstand speist. Aus eigener Erfahrung weiß
ich, dass derjenige, der sein Herz weit öffnen kann, in der Lage
ist, bisher unverstandene Phänomene ganz anders wahrzunehmen, als
sie zunächst auf der Oberfläche erscheinen.
Sie kennen sicher den inzwischen schon vielfach zitierten Spruch
von Antoine de Saint-Exupéry, den er den kleinen Prinzen sagen
lässt: »Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für
die Augen unsichtbar.« Ein Mensch, der sein Herz zu seinem Berater
macht, zieht nicht in den Kampf. Vielmehr wird er Menschen, die in
einer Gewaltbeziehung leben, eine verständnisvolle und von
Mitgefühl getragene Haltung entgegenbringen und versuchen, ihnen
Hilfestellung zu geben.
Ich gebe zu, dass ich selbst auch nicht immer in der Lage bin, zu
jeder Zeit meinem Anspruch gerecht zu werden. Aber ich wünsche es
mir. Deshalb arbeite ich weiter daran.
Arne Hoffmann: Obwohl seit Anfang der achtziger Jahre mittlerweile
hunderte von Studien vorliegen, die zweifelsfrei belegen, dass es
im Bereich häuslicher Gewalt keine klare Zuordnung der Täterschaft
nach Geschlecht gibt, verbreiten zahlreiche Gruppen das alte
sexistische Märchen unverdrossen weiter. »Häusliche Gewalt wird
fast ausschließlich von Männern ausgeübt« zitieren Sie etwa die
»Berliner Interventionszentrale bei häuslicher Gewalt« (BIG) aus
dem Jahr 2007. Gibt man denselben Satz heute bei Google ein, findet
man etliche weitere Seiten mit exakt derselben Formulierung. Warum
ist vielen Menschen, die vorgeben, häusliche Gewalt bekämpfen zu
wollen, das Feindbild Mann so viel wichtiger als eine
Ursachenanalyse anhand wissenschaftlicher Grundlagen?
Barbara Kiesling: Die Ressentiments gegen Männer sind wohl
ursprünglich aus vielen verschiedenen, zum Teil auch begründeten
Aspekten hervorgegangen. Männer haben in den vergangenen
Jahrhunderten die Welt regiert, sie haben Kriege geführt und die
Frauen unterdrückt. Unabhängig von den dafür ausschlaggebenden
psychologischen Hintergründen wird das zunächst einmal niemand
bestreiten können.
Arne Hoffmann: Moment ... Verzeihen Sie bitte, wenn ich Sie hier
unterbreche, aber dieses Bild vom kriegerischen und
unterdrückerischen Mann wird doch inzwischen von so einigen
bestritten. Nur ein Beispiel: Vor dem ersten Weltkrieg wurden
Männer, die sich weigerten, an die Front zu ziehen und ihr
Heimatland zu verteidigen, von höhnischen Feministinnen und
Suffragetten öffentlich mit weißen Federn »beschenkt«, die
ausdrücken sollten, wie feige und unmännlich diese Männer doch
waren, die sich nicht trauten, ihre daheimgebliebenen Lieben gegen
den Feind zu verteidigen. Die meisten auf diese Weise beschämten
Männer haben sich so von den armen unterdrückten Frauen in den Tod
schicken lassen. Kaum hat sich die Weltsicht gedreht und Pazifismus
wird schick, sind Männer schon wieder minderwertig, jetzt weil sie
angeblich so furchtbar kriegsgeil sind oder waren. Prompt
erscheinen Bücher wie von Alice Schwarzer »Krieg: Was Männerwahn
anrichtet und wie Frauen Widerstand leisten». Diese Zuordnung von
Gut und Böse nach Geschlechtern wird meines Erachtens nicht besser,
wenn man sie lediglich auf die Vergangenheit projiziert. Wie können
denn Ressentiments gegen eine Gruppe von Menschen, die nichts
anderes gemeinsam haben als das y-Chromosom, aus »auch begründeten
Aspekten«hervorgegangen sein? Haben wir mit dem y-Chromosom endlich
einen genetischen Marker gefunden, mit dem sich Menschen
Ressentiments »zum Teil« verdient haben?
Barbara Kiesling: Zugegeben ... Sie haben Recht. Gleichzeitig ist
es mir etwas peinlich, dass das gerade mir passieren muss – gerade
weil ich sonst immer betone, dass es BEIDE sind, die an einem
Geschehen beteiligt sind ...
Arne Hoffmann: Ich weiß nicht, ob Ihnen das besonders unangenehm
sein muss. Wenn ich mich nicht jahrelang mit solchen Themen
beschäftigt hätte, würde ich heute noch genauso denken, wie Sie das
gerade dargestellt haben. Bestimmte Dinge nimmt man einfach als
gegebene Wahrheit hin – man kann schlecht ALLES hinterfragen, was
als »Allgemeinwissen«gilt. Genau das macht es uns Männerrechtlern
aber auch erst mal schwer, unsere Position Menschen zu vermitteln,
denen dieses Thema neu ist.
Barbara Kiesling: Ich bin sehr angetan von Ihren Worten. Es stimmt;
wenn man sich mit einer Materie nicht intensiv beschäftigt, dann
übernimmt man unhinterfragt das »Allgemeinwissen». Ich könnte Ihnen
momentan niemanden aus meinem Bekanntenkreis nennen, der meine
Aussage kritisch hinterfragen würde. Das heißt aber noch nicht,
dass diese deshalb »richtiger«ist.
Während meiner Forschungen bin ich natürlich auch auf Widersprüche
hinsichtlich dieses »Allgemeinwissens« gestoßen. Aber offenbar hat
es nicht ausgereicht, hier das alte Männerbild, welches sich bei
mir eingraviert hatte, zu revidieren. Allerdings fühlte ich mich ja
sofort »ertappt«. Denn heute weiß ich, dass dies nicht haltbar
ist.
Ist das nicht ein besonders gutes Beispiel, wie diese festgefügten
Welt- bzw. Männerbilder in den Köpfen sitzen? So auch in meinem
Kopf! Ich, die ich davon überzeugt bin, dass in der Partnerschaft
immer BEIDE Partner gleichermaßen die Verantwortung für alle
Geschehnisse tragen, projiziere ein völlig anderes Bild in die
Vergangenheit.
Arne Hoffmann: Aber ich hatte Sie unterbrochen: Wir waren bei der
Frage, warum die Analyse der Ursachen für häusliche Gewalt noch
immer so stark vom Feindbild Mann beeinträchtigt ist.
Barbara Kiesling: Wir können uns wohl darauf einigen, dass es das
große Verdienst der Frauenbewegung ist, bei den Frauen ein
Bewusstsein dafür geschaffen zu haben, dass die Vorherrschaft des
Mannes nicht naturgegeben ist. Durch die Kraft, die mit der
feministischen Bewegung einherging, haben Frauen ein bisher nicht
vorhandenes Selbstbewusstsein entwickelt und sich auf ihre eigenen
Potenziale besinnen können. Dadurch war es ihnen möglich, sich zu
emanzipieren und heute weitgehend gleichberechtigt neben ihren
Männern zu stehen. Dieser Prozess ist zwar noch nicht
abgeschlossen, doch zeichnet sich jetzt schon ab, dass er sich
immer weiter fortsetzen wird. Von daher kann behauptet werden, dass
durch das Engagement der Feministinnen sehr viel geschehen ist.
Dieser beachtliche gesellschaftliche Wandlungsprozess brauchte
vielleicht erst einmal den Widersacher. Als Vergleich fallen mir
die Vorgänge in der Pubertät ein: Um erwachsen werden und sich
endgültig von den Eltern trennen zu können, muss sich das Kind erst
einmal gegen die Eltern auflehnen. Die Rebellion macht es möglich,
die Kraft für die erforderlichen Schritte zu mobilisieren. Sobald
diese Entwicklung abgeschlossen ist, ist eine Rebellion nicht mehr
nötig.
Gesellschaftliche Veränderungen dauern natürlich entsprechend
länger. Aber die Veränderung zeigt sich ja schon deutlich. Und
inzwischen wird von vielen Feministinnen sogar gefordert, die
Männer in die Bewegung mit einzubeziehen.
Was die häusliche Gewalt betrifft, so sind die Hilferufe
misshandelter Frauen auf den Boden der feministischen Bewegung
gefallen. Sie passten ja auch frappierend ins Bild, denn in der
Misshandlung von Frauen schien sich der Machtanspruch der Männer
besonders deutlich zu zeigen. Doch damit ist etwas verknüpft
worden, was nicht zusammen gehört.
Eine solche – nur scheinbar korrekte – Verknüpfung wieder
rückgängig zu machen, ist schwierig. Zumal die psychologischen
Ursachen von häuslicher Gewalt, wie ich sie dargelegt habe, für die
Allgemeinheit viel zu komplex sind, als dass sie ein adäquates
Erklärungsmodell bieten könnten, welches die Stelle des
gegenwärtigen männerfeindlichen Modells einnehmen könnte.
Arne Hoffmann: Wenn ich heute auf die Website der BIG gehe, finde
ich dort die Formulierung »BIG Koordinierung entwickelt, prüft und
verbessert Maßnahmen und Strategien, um Frauen und ihre Kinder
besser vor häuslicher Gewalt zu schützen». Männliche Opfer werden
in einigen Texten der BIG zwar inzwischen wenigstens miterwähnt,
dies aber nur in Klammern oder mit Relativierungen verbunden. BIG
ist kein Einzelfall. Warum bleiben männliche Opfer in unserer
Gesellschaft weitgehend unsichtbar?
Barbara Kiesling: In einer kürzlich geführten Diskussion mit einer
Freundin, die selbst auch in einer Beratungsstelle arbeitet, wurde
mir Übertreibung vorgehalten, als ich von einer nicht unerheblichen
Zahl von Männern sprach, die von ihren Frauen misshandelt
werden.
Als Beleg für meine Aussage führte ich dann einen aktuellen Fall
aus meiner Beratungspraxis an, in dem der Mann mir wiederholt
berichtet hat, dass er von seiner Frau getreten werde.
Weiterhin berichtete ich über einen Mann, der mich um Hilfestellung
gebeten hatte, und zwar aufgrund der Angst, er könne irgendwann die
Beherrschung verlieren und sich zur Wehr setzen, wenn seine Frau
ihn an den Haaren ziehe und mit Fäusten traktiere. Meiner Freundin
imponierten meine Beispiele nicht. Sie beharrte darauf, dass dies
Ausnahmen seien.
Umso überraschender ist daher der Ausruf einer bekannten
Feministin, die infolge der zahlreichen Untersuchungsergebnisse
hinsichtlich misshandelter Männer eingestand, dass es für sie sehr
schwer sei, diese Resultate zu akzeptieren; und sie erklärte
aufrichtig: »Das passt nicht in mein Weltbild.»
Damit hat sie eine sehr wichtige Aussage getroffen. Wir Menschen
haben nämlich weitgehend festgefügte Weltbilder, die wir auch
brauchen. Aussagen, die nicht in dieses Weltbild passen, lösen
Irritationen aus. Um die damit einhergehenden Erschütterungen zu
vermeiden, reagiert der Mensch dann unwillkürlich mit
Abwehrhaltungen. Das zum einen. Zum anderen müsste im Falle einer
Erschütterung sofort ein neues Konzept bereitstehen; um sozusagen
den Boden, der sich zunächst geöffnet hat, wieder zu schließen.
Aber mit dem zur Verfügung stehenden alternativen Konzept, das ich
in meinem Buch vorstelle, wird eine noch gravierendere
Abwehrhaltung hervorgerufen: Die wenigsten möchten sich mit
Traumatisierungen beschäftigen. Und schon gar nicht mit dem
Unbewussten, von dem wir weitaus mehr regiert werden, als wir es
wahrhaben wollen. Der gesamte Komplex ist zu »unheimlich», als dass
sich eine große Bevölkerungsgruppe damit auseinandersetzen
wollte.
Demgegenüber fordert das vorherrschende feministische Modell nichts
vom Einzelnen. Es ist für jedermann verständlich und reiht sich ein
in die Gut-und-Böse-Philosophie, die auch in anderen Bereichen
vorherrscht. Da müsste wohl auch erst ein Ruck durch die
Gesellschaft gehen, damit sich veraltete Bilder auflösen und sich
an deren Stelle zeitgemäßere Ansichten etablieren können.
Arne Hoffmann: BIG wird vom Berliner Senat gefördert und bearbeitet
mit seinen Veröffentlichungen »die Polizei, Zivil- und
Strafgerichte, Jugend- und Sozialämter, Anti-Gewaltprojekte und die
zuständigen politischen EntscheidungsträgerInnen«. Auch hier ist
die BIG nur ein Teil eines großen Netzwerks, das auf diese Weise
tätig ist. Wenn praktisch sämtliche relevanten Instanzen auf ein
bestimmtes Weltbild eingeschworen werden – welche Chancen hat
sachliche Aufklärung über die tatsächlich vorliegende Forschung
überhaupt noch?
Barbara Kiesling: Obwohl meine bisherigen Erfahrungen gezeigt
haben, dass die Chancen auf sachliche Aufklärung zum gegenwärtigen
Zeitpunkt ziemlich gering sind, glaube ich, dass sich in den
nächsten Generationen auch hier etwas nachhaltig verändern wird.
Allein die Tatsache, dass ich für mein Buch einen Verlag gefunden
habe, spricht doch dafür, dass sich bereits Veränderungen
ankündigen. Offenbar müssen wir uns noch in Geduld üben.
Ich kann heute noch nicht zu einer Senatssitzung gehen und dort
versuchen, mein Konzept vorzustellen. Das ist auch schon deshalb
unmöglich, weil es ein umfangreiches tiefenpsychologisches
Fachwissen voraussetzt. In meinem Buch habe ich zwar versucht, das
komplexe Geschehen zuweilen stark zu vereinfachen, damit es nicht
nur von Fachleuten gelesen werden kann. Doch habe ich den Eindruck,
dass die Lektüre dennoch so manch einen überfordert.
Darüber hinaus muss der Wille vorhanden sein, mit einem völlig
anderen Blick auf das Phänomen der häuslichen Gewalt zu
blicken.
Dieser Wille hat mich vor vielen Jahren angetrieben, mich auf die
Suche nach einem neuen Konzept zu machen. Denn ich war zuvor
ebenfalls mit einem feministischen Konzept in die Universität
gekommen und wollte Misshandlungsbeziehungen unter Einbeziehung
feministischer Methoden weiter erforschen. Mein hochgeschätzter
Professor Klaus Jürgen Bruder von der Freien Universität Berlin hat
mich nach der Äußerung einer feministischen These aufgefordert, den
Sachverhalt doch bitte ein wenig differenzierter zu betrachten. Ich
war in diesem Moment höchst peinlich berührt. Schließlich wollte
ich vor ihm keinesfalls als undifferenziert dastehen.
Solche emotionalen Situationen tragen im übrigen dazu bei, dass
alte Überzeugungen in Auflösung übergehen und so der Drang
entsteht, einen adäquaten Ersatz hierfür zu finden.
So habe ich von diesem Moment an alles daran gesetzt, das Phänomen
der Misshandlungsbeziehungen »differenzierter zu betrachten». Aber
ich habe zunächst keinerlei entsprechende Literatur gefunden. Erst
auf einer meiner Forschungsreisen in Amerika habe ich die
Veröffentlichung eines englischsprachigen Psychologen entdeckt, der
mit misshandelten Frauen arbeitete und dabei die
tiefenpsychologische Konzepte heranzog, die ich auch in meinen
Veröffentlichungen referiere.
Nachdem ich mich eingehend mit seinen Schriften und auch mit den
weiterführenden Konzepten beschäftigt hatte, fand ich auch immer
mehr Literatur – ganz nach dem Motto: Man sieht nur, was man
kennt.
Meine eigene Geschichte ist also der Hintergrund dafür, dass ich
vorhin von dem »Ruck« sprach, den auch andere bräuchten: Eine
heftige emotionale Erschütterung, die es unmöglich macht, das
Geschehen in Misshandlungsbeziehungen weiterhin in der bisherigen
Weise zu betrachten.
Leider haben die häufigen Partnertötungen bisher nicht zu einer
solchen Erschütterung beigetragen.
Arne Hoffmann: Im Vorgespräch zu diesem Interview hatten Sie mir
berichtet, dass Sie schon häufig von Journalisten um ein Interview
oder eine Stellungnahme gebeten wurden, diese Artikel aber
regelmäßig unveröffentlicht blieben, sobald deutlich wurde, dass
Sie keine feministische Linie vertreten und nicht bereit waren, auf
die Männer zu schimpfen. Für eine derart einseitige
Berichterstattung von »taz« bis »Zeit« könnte ich zahlreiche
weitere Beispiele nennen. Wie konnte es Ihrer Einschätzung nach
dazu kommen, dass fast der gesamte Berufsstand der Journalisten es
in der Geschlechterdebatte als seine Hauptaufgabe betrachtet, nur
noch Anhänger einer bestimmten Ideologie zu Wort kommen zu lassen
und ihre Kritiker totzuschweigen?
Barbara Kiesling: Es ist nicht nur der Berufsstand der
Journalisten, sondern ich erlebe es leider nahezu überall, dass
meine Erläuterungen zum Thema häusliche Gewalt auf Widerstand
stoßen. Das war auch mit ein Grund, weshalb ich eine Ausbildung als
Drehbuchautorin absolviert habe. Denn ich hatte gehofft, meine
Erkenntnisse über das sogenannte »Böse«im Menschen in
Filmgeschichten einarbeiten und so zur Aufklärung beitragen zu
können. Doch bisher haben die zuständigen Redakteure oder
Produzenten alle meine Entwürfe abgelehnt. Die mir zurückgesandten
Filmideen haben dann schon mal die Randbemerkung: »Problematische
These«!
Als weiteres Beispiel möchte ich von der Zeitung berichten, die
nach dem veröffentlichten Foto einer schwer misshandelten berühmten
Sängerin von mir eine Stellungnahme zur häuslichen Gewalt
angefordert hatte. Natürlich konnte ich nicht berücksichtigen, dass
es sich um eine sehr berühmte Frau handelt. Also habe ich meine
Erkenntnisse über die tiefenpsychologischen Hintergründe von
Misshandlungsbeziehungen in möglichst einfacher Form dargelegt. Ich
muss vielleicht nicht erwähnen, dass diese Stellungnahme nie
gedruckt worden ist.
Selbst wenn es mir gelungen wäre, die zuständige Redakteurin von
meinen Ausführungen zu überzeugen, hätte es wohl ein gehöriges
Risiko bedeutet, ein solches Erklärungsmodell in einer Tageszeitung
abzudrucken. Denn wie hätten die Fans und auch die Allgemeinheit
reagiert, wenn sie hätten lesen müssen, dass das, was in einer
Misshandlungsbeziehung geschieht, immer mit beiden Partnern zu tun
hat?
Am Beispiel der berühmten Sängerin zeigte sich mir, dass es
geradezu als ungehörig aufgefasst wird, der Frau ihren Teil der
Verantwortung für das Geschehen in Misshandlungsbeziehungen
zuzuweisen.
Erschwerend kommt – wie bereits mehrmals betont – hinzu, dass das
Konzept sehr komplex ist und über den Verstehensprozess hinaus dem
Leser einiges abverlangt. Man muss sich nämlich mit sehr
schmerzhaften Einsichten auseinandersetzen. Ich selbst habe auch
einige Zeit gebraucht, bis sich mir das ganze Ausmaß der
Zusammenhänge vollständig erschlossen hat. Und ich habe mich
immerhin intensiv damit beschäftigt. Wie soll ich da von jemand
anderes erwarten, dass er das versteht? Gespräche wie dieses hier
tragen hoffentlich dazu bei, dass der eine oder andere doch
neugierig wird.
Arne Hoffmann: Zum Schluss Ihres Buches stellen Sie fest: »Es ist
zunächst immer nur eine kleinere Anzahl von Menschen, die sich
einem neuen Denken öffnen kann. Wenn die Zahl derer eine kritische
Masse erreicht hat, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die
neuen Bewusstseinsinhalte auch bei allen übrigen Menschen Einzug
halten. Und plötzlich hat sich die Wahrnehmung aller geändert und
eine neue Realität ist entstanden. Ganz so, als hätte es nie eine
andere gegeben.« Nun sieht es derzeit so aus, dass das
Gender-Establishment sich dem Dialog mit solchen Vertretern eines
neuen Denkens verweigert, sie in pseudowissenschaftlichen
»Expertisen« mit massiver verbaler Gewalt in die Nähe von Neonazis
und Massenmördern rückt und Journalistinnen diese »Forscher«
begeistert zitieren, um danach keine Gegenrede zuzulassen. Viele
Bürger fühlen sich geschlechterpolitisch inzwischen wie in der DDR.
Woher rührt Ihr Optimismus, ein derart totalitäres System
überwinden zu können? Wie sollten Kritiker dieses Systems vorgehen,
um seinen Totalitarismus aufzubrechen?
Barbara Kiesling: Wie ich bereits im Vorgespräch erwähnt habe, bin
ich selbst vor einigen Jahren infolge einer eklatanten
Fehlinterpretation meiner Aussagen sehr scharf in der
Öffentlichkeit angegriffen worden. Das ist ein zusätzlicher Grund
dafür, dass ich jeglichen Kampf ablehne. Das Sichtfeld von Kämpfern
schränkt sich nämlich dermaßen ein, dass sie letztendlich nahezu
blind werden. Deshalb plädiere ich dafür, jeglichen Kampf zu
beenden und zu versuchen, den Platz eines neutralen Beobachters
einzunehmen. In der Gewissheit, dass ein neues Bewusstsein
entstehen wird.
Ein deutliches Zeichen hierfür ist die Kindererziehung. Noch im
letzten Jahrhundert gehörten Schläge zur normalen Erziehung. Eltern
haben sich an ihren Kindern abreagiert und sie – angeblich »zu
ihrem Besten« – durch Gewalt fügsam gemacht. Inzwischen ist eine
völlig andere Generation herangewachsen. Heute kann man viele
Eltern beobachten, die liebe- und respektvoll mit ihren Kindern
umgehen. Es gibt zwar leider immer noch jene, die ihre Kinder für
die eigene Stabilität missbrauchen. Das liegt daran, dass sich das
Bewusstsein der Menschheit in unterschiedlich schnellen Bahnen
entwickelt.
Aber die Entwicklung ist in vollem Gange. Immer mehr Menschen sind
auf der Suche nach Modellen, die ein friedlicheres, liebevolleres
Miteinander möglich machen. Viele realisieren dabei, dass es das
eigene Innere ist, welches sie zunächst harmonisieren müssen. Denn
dann können sie auch mit ihren Mitmenschen in harmonischen
Verhältnissen leben.
Vielleicht haben Sie schon einmal von dem hawaiianischen
Vergebungsritual mit dem schwierigen Namen Ho’oponopono gehört.
Hierbei wird davon ausgegangen, dass wir Probleme im Außen nur
lösen können, wenn wir die eigene innere Resonanz dazu heilen. Das
heißt, wenn sich jemand über seinen Nachbarn ärgert, dann müsste er
zunächst in sich gehen und analoge Tendenzen in seinem Inneren
identifizieren. Zu diesen Tendenzen müsste er voll und ganz stehen
und die Verantwortung dafür übernehmen. Vor allem muss er sich
trotz seiner abträglichen Seiten voll und ganz annehmen. Dann hat
er einen Teil in sich erlöst und geheilt, was wiederum Auswirkungen
auf sein gesamtes Umfeld haben wird.
Solche Rituale sollten schon in der Schule gelernt und angewendet
werden. Vielleicht gäbe es dann bald eine Welt, in der sich jeder
bei aufkommenden Konflikten erst einmal in sich selbst zurückzieht,
bei sich bleibt und das äußere Geschehen als Resonanz der eigenen
inneren Schwingungen ansieht. Das mag für diejenigen, die sich
bisher noch nie mit ihren Schattenseiten konfrontiert haben,
utopisch klingen. Aber abgesehen davon, dass ich viele Menschen
kenne, die solche Rituale bereits praktizieren, glaube ich, dass
auch die Entwicklung der Allgemeinheit in diese Richtung gehen
wird.
Arne Hoffmann: Herzlichen Dank für dieses Gespräch. Gute Nacht und
viel Glück!
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