Rezension zu Das Babel des Unbewussten

Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Nr. 2/2012

Rezension von Thomas von Salis, Zollikon

Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri, Jorge Canestri: Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse

Dieses bedeutende Buch wurde auf Italienisch erstmals 1990 publiziert (2. erweiterte Auflage 2003) und steht in einer Reihe mit Rebecca und Leon Grinbergs Psychoanalyse der Migration, Salman Akhtars Immigration und Identität, sowie auch in gewissem Sinn mit Lost in Translation von E. Hoffmann, wie Hediaty Utari-Witt, Mit-Leiter des Münchner Arbeitskreises »Trauma und Migration« im Vorwort zur deutschen Ausgabe darlegt.

Es braucht nicht betont zu werden, wie wichtig ein vertieftes Verständnis der Sprache überhaupt in der Psychiatrie ist, und doch war ich überrascht, wie sehr die Mehrsprachigkeit ein ubiquitäres Phänomen ist – ja, genau genommen gibt es nicht zwei Menschen, die die gleiche Sprache sprechen (1) – und die psychoanalytische Vertiefung ins Problem ermöglicht sogar erstmals eine Verständigung zwischen Patient und Therapeut, die bisher gefehlt und einen wesentlichen Anteil an der Entstehung des Leidens hatte.

Im »Babel des Unbewussten« werden die psychischen Prozesse von Anpassung und Abwehr untersucht, die auf das mehr oder weniger prekäre Identitätsgefühl wirken, und dabei zeigt sich unter anderem, dass die neu erworbene Sprache zusammen mit einer Abspaltung gewisser sprachgebundener früher Erinnerungen einen heilsamen Einfluss haben kann. Die Analyse legt jedoch durch die Aufhebung der durch die (traumabedingten) Abspaltungen den Zugang zu verschütteten Anteilen der Persönlichkeit wieder frei, was mit eindrücklichen klinischen Beispielen belegt wird.

Im Kapitel »Mögliche und unmögliche Übersetzungen« kommt der Leser dazu, die Fragen nach der Qualität der vorliegenden Übersetzung aus dem Italienischen im Lichte historischer Arbeiten zum Thema zu reflektieren. Tatsächlich fragte ich mich immer wieder, ob die oft schwer verständlichen Ausführungen in der Originalsprache besser verständlich wären. Aber ich erinnerte mich dann an die mir bekannten Eigenheiten der argentinischen Kollegen, die sich schriftlich stets besonders raffiniert ausdrücken. Sie hatten ihrerseits das Raffinement ihrer französischen Vorbilder zu verarbeiten. Es gibt auch Wechsel in den sprachlichen Eigenheiten (Verständlichkeit, Sprachfluss, Eleganz) des deutschen Textes, die wohl auf leider nicht deklarierte Wechsel der jeweiligen Verfasser zurückgehen. Was übrigens auch nicht klar gesagt wird, ist, im Kapitel über die Schriftsteller, was es auf sich hat mit einer italienischen Schriftstellerin, von der man vermuten muss, sie sei bei einer der Autorinnen in Analyse gewesen. Sie in eine Reihe mit Beckett, Nabokov, Canetti und gar Dante zu stellen mutet befremdlich an, besonders, wenn auch gerade noch für die bevorstehenden Publikationen der (?) Patientin Reklame gemacht wird.
Ein altes Vorurteil besagt, dass Kinder, die beim Sprechenlernen mehrere Sprachen in ihrer Umgebung hören, benachteiligt seien. Das wird hier überzeugend widerlegt. Anfänglich habe ein Kind Zugang zu einer unbegrenzten Zahl von Phonemen. Diese werde durch die Auswahl der in der Umgebung gesprochenen Wörter zunehmend eingeschränkt. Wahrscheinlich ist es Jacqueline Amati, die von sich selbst erzählt, sie sei in vier Sprachen aufgewachsen. Sie findet es »interessant, dass manche Autoren der Meinung sind, Polylinguale besäßen einen Lernvorteil ...« – jedenfalls kommt es ihr bei der analytischen Arbeit zugute (S. 216 f).

Die 12 Kapitel des Buches bearbeiten das Thema aus verschiedenen Perspektiven, psychoanalytisch, linguistisch, neurowissenschaftlich.

Kernberg gibt in seinem Vorwort eine brillante Zusammenfassung der hier vorliegenden Themen der Autoren und fügt eine eigene Theorie der Entwicklung bei, die alles Wesentliche einbezieht, was von den früheren psychoanalytischen Forschungen bis zu den neuesten neurowissenschaftlichen Ergebnissen reicht.

Eine für die Psychiatrie besonders relevante Passage sei zitiert: »Sprache ist ein grundlegendes Mittel zum Erwerb der Realitätsprüfung im Blick auf die Wahrheit dessen, was am Selbst und an Anderen affektiv erlebt wird: die Transformation von Empathie in Wissen. Aber die Sprache wird auch zu einem Schlachtfeld, auf dem, wie die Autoren dieses Buches so überzeugend vorführen, unbewusste Konflikte und primitive Abwehrmaßnahmen zu Verzerrungen und Entstellungen der Sprache und des Sprechens beitragen. In der schlimmsten und verheerendsten pathologischen Entwicklung kann die Sprache zu einem Instrument werden, vermittelst dessen die innere und die äußere Wirklichkeit verrückt gemacht werden. An die Stelle ihres ursprünglichen Wahrheitswerts treten dann Täuschungen.« (S. 37).

Es wäre wünschenswert, dass die verschiedenen Texte datiert wären, da es sich um ein Buch handelt, das im Zeitraum von 1990 bis 2010 mehrfach ergänzt, korrigiert und erweitert – und nicht zuletzt übersetzt! – worden ist. Es könnte auch klarer gemacht werden, wer was geschrieben hat.

Die ansprechende äußere Gestaltung und die sorgfältige Edition (ein Minimum an Druckfehlern!) durch den Psychosozial-Verlag verdienen ebenso Erwähnung wie die sehr wertvolle Initiative der Herausgeber für eine deutsche Version dieses Referenzwerkes zum Thema der Sprache



1 Ein interessanter Hinweis steht auf S. 368: V. Magrelli schreibe, er sei fasziniert von der Idee, dass «die zwischensprachliche Praxis» (das Übersetzen, T.v.S) «als vieldeutiges und nie ganz zutreffendes Verfahren anderen menschlichen Tätigkeiten entspricht».

www.sanp.ch

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