Rezension zu Das Haus
psychosozial 127, 1/2012
Rezension von Roland Kaufhold
Mathias Hirsch (2011): Das Haus. Symbol für Leben und Tod, Freiheit
und Abhängigkeit
Der Düsseldorfer Psychoanalytiker Mathias Hirsch hat mit »Das Haus«
eine anregende, humorvolle, kenntnisreiche und – dies erscheint mir
der bedeutsamste Vorzug dieses Buches zu sein – gut geschriebene
Abhandlung über die psychoanalytischen Dimensionen vorgelegt, die
aus dem Symbol des Hauses erwachsen können. Seine Studie ist
stringent psychoanalytisch, aber zugleich auch interdisziplinär: Er
verweist mittels zahlreicher, kunstvoll miteinander verwobener
Zitate auf Erkenntnisse aus den Bereichen der Psychoanalyse,
Kulturgeschichte, Anthropologie sowie auf Beispiele aus Literatur
und Film.
Hirsch stellt seinem Buch eine Assoziationen weckende Sammlung von
84 Begriffen voran, in denen der Begriff »Haus« enthalten ist:
Wohnhaus, Traumhaus, Baumhaus, Glashaus, Kaffeehaus, Freudenhaus,
Elternhaus, Frauenhaus, Autohaus und Zuchthaus seien exemplarisch
genannt.
»Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod.« Dieses türkische
Sprichwort, das Thomas Mann später aufgreifen sollte, lässt die
existenziellen Dimensionen des Hauses anklingen: Es symbolisiere
Begriffe wie Leben und Tod, Freiheit und Abhängigkeit – so der
Untertitel dieser Studie. Freud hatte in seiner Traumdeutung auf
die symbolische Bedeutung des Hauses für den Menschen hingewiesen.
Das Elternhaus wie auch der elterliche Körper vermögen das
Kleinkind zu schützen; die entwicklungspsychologisch betrachtet
spätere Ablösung von beiden stellt eine lebenslange Aufgabe
dar.
Die vielfältigen symbolischen Dimensionen des Hauses betrachtet der
Autor in geruhsamer, erzählender Weise. Hierbei bezieht er sich auf
eigene klinische Erfahrungen, auf Filme, auf literarische
Erzählungen sowie auf im Buch zum Teil farbig abgebildete
Kunstobjekte. Als psychoanalytische Autoren zitiert er vor allem
den lange in Vergessenheit geratenen Otto Rank sowie Sigmund Freud
und C.G. Jung.
Im Kapitel »Das Haus bedeutet mütterlicher Schutz und Geborgenheit«
beschreibt der Autor die symbolischen Funktionen des Hauses: Es
symbolisiere Übergänge zu verschiedenen Identitätszuständen. So
löse beispielsweise das altersbedingte Verlassen des Elternhauses
häufig tiefe Trennungsängste aus. Diese seien eigentlich die Ängste
vor einem neuen Lebensabschnitt, die auf das Haus verschoben
werden. Der Kauf eines Hauses kann »wie eine äußere Haut« (S. 24)
Ich-schützend wirken. Er mag eine Ablösung von den Eltern
darstellen, hin zur eigenen Elternschaft, aber auch heftigste
Ängste und Trennungsschmerzen hervorrufen. Hieraus kann, wie der
Autor klinisch belegt, der Wunsch entstehen, diese Ablösung, diesen
Neuanfang abzubrechen, ungeschehen zu machen. Ein neues Haus mag in
uns romantische, idyllische Gefühle wecken, die für eine »rückwärts
gewandte Mutter-Sehnsucht« (S. 22) stehen. Ein Umzug, das Mieten
eines Ferienhauses kann jedoch ebenfalls als schmerzhaft, als
beängstigend erlebt werden, da in uns Erinnerungen an als
traumatisch erlebte Kindheitsszenen geweckt werden. Da es keine
ausreichende Geborgenheit gegeben habe, vermöge sich diese auch
später nicht einzustellen.
In dem Kapitel »Das Haus als Selbst« vertieft Hirsch unter Verweis
auf Freuds Traumdeutung und auf dessen »brilliante Studie« (S. 12)
»Das Unheimliche« (1919) die enge Beziehung zwischen dem Haus und
der Entwicklung des Selbst. Das Haus symbolisiere gleichermaßen
etwas zutiefst Vertrautes wie auch etwas verstörend Unheimliches.
Es sei an Ernst Federns Bemerkung erinnert, dass das
gesellschaftlich sehr offene Ferienhaus seiner Eltern unter
befreundeten Psychoanalytikern als das »Haus zur offenen Ichgrenze«
bezeichnet wurde.
Hirsch analysiert den an Hitchcock erinnernden Film »Gaslight – Das
Haus der Lady Alquist« (1943): Die Protagonistin kehrt mit ihrem in
der Fremde aufgewachsenen Ehemann in ihr Elternhaus zurück. In
diesem Haus entfaltet sich ein unheimliches Drama: Bedrohliche
Geräusche sind hörbar, während zugleich das Gaslicht des Hauses
immer schwächer wird. Das scheinbar vertraute Elternhaus wird zum
Ort eines an eine Psychose erinnernden Dramas, in dem Täter bzw.
Beschützer, Wirklichkeit und Wahn über lange Phasen hinweg nicht
auseinandergehalten werden können.
Im Kapitel »Kind und Haus« stellt der Autor, unter Bezugnahme auf
Erik H. Eriksons Kindheit und Gesellschaft sowie auf den
amerikanischen, von 1999–2010 in Caracas, Venezuela, tätigen,
danach wieder aus politischen Gründen nach Seattle (USA)
übersiedelten Psychoanalytiker Daniel Benveniste mehrere
Kinderzeichnungen vor, die Häuser und Bäume zeigen. Er deutet in
ihnen phallische und ödipale Symbole. Diese Häuser seien Eingänge
in den Körper, in Körperhöhlen – in der Anatomie spreche man direkt
von »Leibespforten« (S. 66) – und könnten uns an C.G. Jungs Begriff
des »kollektiven Unbewussten« erinnern.
In dem Kapitel »Das Elternhaus« schreibt Hirsch über die
körperlichen Spuren, die das eigene Elternhaus in einem Menschen
hinterlässt. Die Konturen des Elternhauses sind noch Jahrzehnte
später spürbar, brechen in bestimmten Situationen wieder auf.
Solange man »mit der Herkunftsfamilie noch nicht im Reinen« (S.
100) sei, sich von ihr innerlich noch nicht gelöst habe, unterliege
die Beziehung zu ihr einem Wiederholungszwang. In diesem Kontext
verweist der Autor auf den eindrücklichen Kinofilm »Irgendwo in
Iowa« von Gilbert Grape, in dem ein Elternhaus vollständig
ausbrennt. Das lebenslange Bemühen, das eigene Elternhaus oder aber
das Großelternhaus nicht aufzugeben, trotz einer veränderten
Lebenssituation, deute auf die weiterhin bestehende innere
Abhängigkeit von der Familiendynamik eines ausgewählten Kindes hin.
In einem Fallbeispiel interpretiert er den jahrelangen Versuch, ein
ererbtes Elterhaus umzubauen (statt es zu verkaufen), als Ausdruck
einer gescheiterten Loslösung, einer »trotzigen Gegenabhängigkeit«
(S. 112). Was als Autonomie erschien, war für ihn Ausdruck eines
unbewussten Wunsches, sich vom eigenen Elternhauses doch nicht zu
trennen.
Sowohl im Traum als auch im Märchen begegnen wir häufig dem
Traumhaus: Wer ersehnt sich nicht gelegentlich ein solches
Traumhaus, das uns ewiges irdisches Glück, zumindest ein
glücklicheres Leben zu bescheren scheint? Gerade in den Phasen
eines scheinbaren Scheiterns mag dieser Wunsch verstärkt als
Phantasma in uns aufsteigen. Hirsch führt aus: »Ein beruflich
Gescheiterter träumt vom Auswandern: Die ›neue Heimat‹ bringe das
Glück, die Rettung aus der Identitätsnot. Die Sehnsucht nach dem
Elternhaus ist nach rückwärts gerichtet, das erträumte Haus liegt
in der Gegenrichtung, in der Zukunft« (S. 123). Es erweckt in uns
den alten, utopischen menschlichen Traum vom selbstbestimmten,
»besseren« Leben: Je konkreter die Möglichkeit werde, ein solches
Traumhaus wirklich zu erwerben, desto stärker verkehre sich das
Gefühl der Befriedigung häufig in sein Gegenteil. Bereits das
unrealistische Sehnsuchtobjekt verweise darauf, »dass es mit
realistischen Mitteln nicht möglich ist, das zu wenig glückliche
Leben zu ändern« (S. 132). Dementsprechend überschreibt Hirsch ein
Unterkapitel mit »Der Traum darf nicht erfüllt, das Haus nicht
fertig werden« (S. 128). Es verwundert nicht, dass Hirschs
umfangreichste Abhandlungen dem Ferienhaus sowie dem Tod gewidmet
sind: Beide Themen berühren existenzielle Grundthemen, die
gleichermaßen einen tiefen, lebensbegleitenden Wunsch wie eine
erschütternde Angst berühren.
Man benötigt etwas Muße, um sich auf Hirschs anregendes Werk
angemessen einzulassen. Der Rezensent, der kürzlich, zu seinem
eigenen ungläubigen Staunen, erstmals ein kleines Häuschen mit
Garten erworben hat, mit ausreichend Platz für seine Bibliothek und
seine Musikinstrumente, hat das Buch auf jeden Fall mit Gewinn
gelesen – und wird es gewiss auch später noch einmal in die Hand
nehmen. Wie wird er dann, mit zeitlichem Abstand und mit seiner
schwierigen Kindheit gegenwärtig, auf sein Haus blicken?