Rezension zu Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung
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Rezension von Riccardo Bonfranchi
Die Autorin legt eine Dissertation vor, welche die Sexualität bzw.
die psychische Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung
sowie die Ausgestaltung ihrer Partnerschaften anhand von mehreren
klinisch ausgerichteten Praxisbeispielen aufzeigt. Die
wissenschaftliche Grundlage, auf der diese therapeutischen
Gespräche bzw. deren Auswertung stattfinden, ist die
Psychoanalyse.
Zielgruppe
Das Buch eignet sich für HeilpädagogInnen, SozialpädagogInnen und
PsychologInnen, die mit diesem Personenkreis professionell zu tun
haben, aber auch für Eltern und Angehörige von Menschen mit
geistiger Behinderung.
Abstract
Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse breitet die Verfasserin in
diesem Buch ein weites Spektrum an Erkenntnissen aus, um der
gewählten Thematik der Sexualität gerecht zu werden. Sie spricht
hierbei heilpädagogische Grundprinzipien sowie die
psychoanalytische Pädagogik an. Ein größeres Kapitel ist den
spezifischen Aspekten der Sexualität bei geistiger Behinderung
gewidmet. Thematisiert werden: institutionelle Abwehr, Kinderwunsch
und Elternschaft, Medizin und Kontrazeption, Sexuelle Gewalt und
Sexualassistenz. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin auch
der psychischen Entwicklung von Partnerschaften von Menschen mit
geistiger Behinderung. Der zweite Teil des Buches setzt sich mit
praktischen Erörterungen der Thematik auseinander, wie z. B. der
Partnersuche, Partnerfindung (Singlepartys, Partnervermittlung
Schatzsuche), Erwachsenenbildung, sowie vier ausführlich
dargestellte klinische Fallbeispiele.
Empfehlung
Betrachten wir dieses Buch durch zwei Brillen. Einmal durch die
Brille des Sozialpädagogen, der Sozialpädagogin, der/die in einem
Wohnheim für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung
arbeitet. Wenn diese Person hilfreiche Ratschläge, Konzepte oder
Verhaltensanweisungen erwartet, wie sie mit der Problematik der
gelebten Sexualität in ihrem Arbeitsfeld Klienten zentriert umgehen
kann, wird sie enttäuscht werden. Dazu erfährt die vor Ort
sozialpädagogisch tätige Person quasi nichts. Die Idee der
Singlepartys bzw. Partnervermittlung, die man noch auf einer
Handlungsebene verorten könnte, sind nicht neu und wurden bereits
in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts diskutiert. Die
Fallbeispiele können einer praktischen tätigen SozialpädagogIn
ebenfalls nicht weiter helfen, außer sie hat eine psychoanalytische
Ausbildung bzw. die Institution, in der sie arbeitet, ist
psychoanalytisch ausgerichtet. Sätze wie »Menschen verlieben sich
auf zwei unterschiedliche Arten, entweder nach dem sogenannten
Anlehnungs- oder nach dem narzisstischen Typus. Ersterer geht mit
einer Anlehnung an primäre Beziehungserfahrungen, zumeist mit der
Mutter, einher, der zweite Typus wählt das Liebesobjekt nach dem
eigenen Vorbild.« (S. 116) mögen für den psychoanalytisch
geschulten Psychologen bzw. Psychologin von großem Interesse sein,
ein Transfer auf die sozialpädagogisch orientierte Handlungsebene
ist aber nur sehr schwer vorstellbar. Von daher sind Interessenten,
die sich durch das Buch eine Erweiterung ihrer Handlungskompetenz
erwarten, vor allzu großen Hoffnungen zu warnen.
Wechseln wir nun die Brille und fragen, ob das Buch ein
Erkenntnisgewinn darstellt, wenn man sich mit der Thematik vor
allem theoretisch auseinander setzen will. Dann ist dies unbedingt
zu bejahen. Das Buch ist dicht geschrieben, d.h. es wurde sehr viel
an Inhalt zusammen getragen, worauf auch das umfangreiche
Literaturverzeichnis (285 Titel) hinweist. Dass 9 Quellen auf S.
Freud basieren soll hier nicht gewertet werden, aber es soll doch
darauf hinweisen, vor welchem Hintergrund die Autorin ihre
theoretischen Erörterungen versteht. Wenn einem dies Mühe macht,
oder man ev. damit nicht einverstanden ist, lässt man besser die
Finger von diesem Buch.
Hervorgehoben werden sollen an dieser Stelle die Fallbeispiele, die
sehr differenziert und ausführlich beschrieben werden (100 Seiten).
Diese habe ich mit großem Interesse gelesen und konnte an manchen
Stellen sagen, »ja, so ist es!« Dies aufgrund meiner eigenen
jahrzehntelangen Erfahrung mit diesem Personenkreis und
insbesondere auch aus Gesprächen mit den betroffenen Eltern. Aber,
wie bereits erwähnt, es handelt sich um
psychologisch-psychoanalytische Fallschilderungen sowie deren
Interpretationen. Ein Transfer in den sozialpädagogischen
(Heim-)Alltag, der mein tagtägliches Verhalten und Handeln als
Sozialpädagoge beeinflusst, scheint mir hier nur schwer möglich
bzw. vorstellbar.
Sympathisch fand ich die Passagen, in denen sich die Autorin
kritisch mit der heutigen Diskussion um die Integration bzw.
Inklusion auseinandersetzt und hier eine Bagatellisierung von
Behinderung konstatiert. Dem ist sicherlich zuzustimmen.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Autorin ein durchaus
realistisches Bild der Situation der gelebten Sexualität, mit all
ihren Schwierigkeiten, die diese bei und mit Menschen mit geistiger
Behinderung begleitet, zeichnet und feststellt. Auch das doppelte
Tabu: zum einen die Sexualität und zum anderen die Behinderung,
wird heute zwar als Recht anerkannt, ist in der Realität aber so
ohne weiteres nicht auszuleben bzw. aufzuheben. Eine Bestätigung
dieser Aussage stellt denn auch das doch etwas merkwürdige fünfte
Kapitel dar: ›Konsequenzen für die pädagogische Praxis‹, das
nämlich nur eine einzige (!) Seite (277 – 278) umfasst. So kommt
die Autorin zum Fazit: »Eine verstehende Haltung muss sowohl den
Menschen mit geistiger Behinderung als auch ihren familiären und
professionellen Bezugspersonen unter Einbezug psychodynamischer
Aspekte entgegen gebracht werden.« (S. 278) Dem ist im Grunde
nichts mehr hinzu zu fügen.
Rezensent
Dr. Riccardo Bonfranchi, Sonderpädagoge, schulischer
Heilpädagoge, langjährige Praxis im Bereich von Menschen mit
kognitiver Beeinträchtigung, ist heute freiberuflich tätig.
Master-Studium in angewandter Ethik an der Uni Zürich (2009).
www.bonfranchi.info
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