Rezension zu Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung (PDF-E-Book)
www.socialnet.de
Rezension von Santiago Marlise
Svenja Bender: Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit
geistiger Behinderung
Thema
Liebe und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung.
Beleuchtet wird insbesondere die Ausbildung von Beziehungsfähigkeit
vor dem Hintergrund von Tabuisierung, Sozialisierung und
spezifischen Entwicklungsbedingungen.
Autorin
Svenja Bender, Dr., Dipl.-Päd., mit Schwerpunkt Sonderpädagogik,
arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz. Sie forscht zum Thema Pädagogik bei
geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten.
Entstehungshintergrund
Die Arbeit wurde im Jahr 2010 an der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines
Doktors der Philosophie angenommen.
Aufbau
Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt.
Im ersten Kapitel wird der Gegenstandsbereich der Pädagogik bei
geistiger Behinderung, im Spannungsfeld zwischen Autonomie und
Angewiesensein, erörtert. Terminus, Ursachenforschung und
Definitionsproblematik werden besprochen. Das Kapitel schließt mit
einer Darstellung der psychoanalytischen Pädagogik bei geistiger
Behinderung, welche die wesentlichen methodischen Elemente des
Forschungsprozesses darlegt.
Im zweiten Kapitel werden die psychoanalytischen Grundannahmen
einer gelungenen Sexualentwicklung auf Menschen mit geistiger
Behinderung übertragen. Sexualität wird im Kontext mit Themen wie
Kontrazeption, sexuelle Gewalt, Sexualassistenz sowie Kinderwunsch
und Elternschaft reflektiert.
Das dritte Kapitel wendet sich der psychoanalytischen Objektwahl
und Beziehungsfähigkeit zu und stellt diese den spezifischen
Entwicklungsbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung
gegenüber.
Im vierten Kapitel wird das Forschungsprojekt »Sexualität und
Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung«, das unter
der Leitung von Prof. Dr. Evelyn Heinemann, durchgeführt wurde,
dargestellt und ausgewertet. Es ist das umfangreichste Kapitel und
enthält vier Fallgeschichten.
Das fünfte Kapitel beinhaltet Konsequenzen der pädagogischen
Praxis.
Inhalt
Im ersten Kapitel wird u.a. allgemeines zum Verständnis von
geistiger Behinderung, wie beispielsweise der Wandel der
Begrifflichkeiten in den letzten 200 Jahren zur Sprache gebracht.
Weiter Definition und Ursachen von geistiger Behinderung, darunter
die These, dass die Personengruppe im Laufe ihres Lebens in der
Regel mit unterschiedlichen traumatischen Erfahrungen konfrontiert
werde, die eine geistige Beeinträchtigung hervorrufen aber auch
verstärken können. Die Erkenntnis, dass für Menschen mit geistiger
Behinderung zudem eine sogenannte soziale sekundäre Behinderung von
zentraler Bedeutung ist, zieht sich durch das ganze Buch. Aufgrund
lebensgeschichtlich bedingter Defizite in der psychischen
Strukturbildung haben Menschen mit geistiger Behinderung häufig
Schwierigkeiten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, was jedoch
maßgebend wäre, wenn es um Themen wie Sexualität und Partnerschaft
geht. Traumatische Erfahrungen, ambivalente Objektbeziehungen,
innerpsychische Konflikte, Ängste, Widerstände,
Wiederholungszwänge, stehen der Selbstbestimmung noch weiter
entgegen.
Weiter wird psychoanalytische Pädagogik und dito bei geistiger
Behinderung vorgestellt. Die psychoanalytische Pädagogik wird als
zielgerichtete Methode, die einen intentionalen Prozess des
Handelns fördert und reflektiert verstanden, und sie basiert auf
psychoanalytischem Verstehen. Bei Menschen mit geistiger
Behinderung, wird vor allem auf das Werkzeug der Mentalisierung
gesetzt. Womit das Erkennen von Verhaltensweisen als
innerpsychische Vorgänge gemeint ist. Der Eintritt in einen Dialog,
sowie das Herstellen einer sicheren Bindung in der pädagogischen
Beziehung, gelten als wesentlich für die Entwicklung der
Mentalisierungsfähigkeit.
Im zweiten Kapitel geht es um Sexualität und Sexualentwicklung bei
Menschen mit geistiger Behinderung.
Einen großen Teil des Kapitels nehmen die psychosexuellen Phasen,
basierend auf Freud, ein, denn das Verständnis von erwachsener
Sexualität benötige die Entstehungszusammenhänge in der frühen
Kindheit. Die Psychoanalyse definiert die infantile Sexualität als
wesentlichen Antrieb der kindlichen Entwicklung. Menschen mit
geistiger Behinderung sehen sich oftmals bereits im ersten
Lebensjahr, der oralen Phase, mit einem Gefühl der Unerwünschtheit
konfrontiert, was die Bildung des Urvertrauens behindere.
Das Wahrnehmen des eigenen Körpers, beispielsweise durch die
selbständige Körperpflege wird selten adäquat unterstützt. Es ist
jedoch für die psychosexuelle Entwicklung unerlässlich, dass die
Körperpflege selbständig oder mithilfe des gleichgeschlechtlichen
Elternteils vollzogen wird. Auch die Unterscheidung zwischen
männlichen und weiblichen Merkmalen wird nicht unterstützt, was den
Erwerb der Geschlechtsidentität erschwert. Die ödipale Phase werde
von Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel nicht ohne
Schwierigkeiten durchlaufen und verarbeitet, und auch das hat
Einfluss auf die spätere Beziehungsfähigkeit.
In der Latenzphase ist die Entwicklung vor allem in den Bereichen
Anerkennung und Kognition erschwert, und konnte sie nicht
erfolgreich bewältigt werden, verharrt das Kind auf diesen Niveau,
so dass der anschließende Entwicklungsschritt, die Pubertät, nur
unzureichend verarbeitet werden kann. Die emotionale Verarbeitung
dieser Ungleichheit und die körperlichen Veränderungen können viele
Menschen mit geistiger Behinderung nicht ausreichend sublimieren
oder kompensieren. In der Adoleszenz tritt dann ein
Entwicklungsstopp ein, der einhergeht mit einem Verharren in der
autoerotischen Stufe der Sexualität und einer eingeschränkten
Autonomie. Hingegen tritt das Erfahren der Andersartigkeit jetzt
verstärkt in Erscheinung, und kann sich in Hass gegen sich selbst,
gegen die Behinderung und Hass gegen andere manifestieren.
Im Abschnitt »Spezifische Aspekte einer Sexualität bei geistiger
Behinderung«, scheint mir der Satz erwähnenswert: »Wenn Störungen
im Sexualverhalten auftreten, können diese auch Ausdruck von
Einsamkeit und Neugier, sowie dem Wunsch nach Partnerschaft
sein.«
Grundsätzlich gilt: Sexualität von Menschen mit geistiger
Behinderung, wird wohl nicht mehr grundsätzlich verneint, trotzdem
ist sie weiterhin mit Reglementierungen und Hemmnissen verbunden.
Das zeigt sich beispielsweise in mangelnder Privatsphäre.
Übernachtung von Partnerinnen oder Partnern in Wohnheimen sind
streng reglementiert, falls überhaupt zugelassen. So kann der
Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen aufgrund der auf Zwang
aufgebauten Gemeinschaft in Institutionen oftmals nicht erfüllt
werden.
Zum Thema Kinderwunsch: Der Wunsch nach einem Kind lässt sich weder
auf rein argumentativer Ebene auflösen, noch bedeutet sein
Ernstnehmen, dass er sich erfüllen muss. Menschen mit geistiger
Behinderung die sich nach einem Kind sehnen, muss die Gelegenheit
gegeben werden, sich aktiv mit allen damit verbundenen Aspekten
auseinandersetzten, sowie aktiv über den nicht erfüllten
Lebenswunsch trauern zu können.
Zum Thema sexuelle Gewalt: 70% der Menschen mit geistiger
Behinderung erleben sexuelle Gewalt und die Täter kommen meist
ungestraft davon. Fachkräfte bemerken sexuelle Gewalt häufig nicht
und streben zumeist keine therapeutische Aufarbeitung an.
Das Thema Therapieangebot für Menschen mit geistiger Behinderung
wird aufgenommen. Das Gebiet wird noch als Pionierarbeit
bezeichnet. Dabei bedürfe es keiner spezifischen
Psychotherapieform, sondern ein modifiziertes Eingehen, das ein
sensibles Begreifen der Biografie der Betroffenen mit einschließe.
Die Therapieziele sind die Selben wie bei Menschen ohne
Behinderung: Stärkung des Selbst, Bewusstmachen unbewusster
Konflikte, Entlastung von Schuldgefühlen, Stärkung des Ichs und
Stärkung der Autonomie.
Am Schluss des Kapitels geht Bender noch kritisch auf die
Sexualassistenz ein. Das Konzept der Sexualassistenz verschleiere
die Abhängigkeit sowohl vom Sexualbegleiter als auch vom
beteiligten Umfeld. Und einmal mehr wird der fehlende
Beziehungsaspekt dieser Dienstleistung, sowohl das Fehlen von Nähe,
Zuneigung oder Liebe bemängelt. Intim-Scham und Generationsgrenzen
erfahren eine Überschreitung, wenn Wünsche des Klienten als
öffentliche Fragestellung (mit Eltern und Betreuenden) behandelt
werden.
Das dritte Kapitel widmet sich der psychischen Entwicklung und
Partnerschaften von Menschen mit geistiger Behinderung.
Einmal mehr wird betont, dass die psychoanalytische Theorie sich
für die Erörterung von Partnerschaften des Personenkreises eigne,
weil sie eine Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen und
innerpsychischen Dimensionen herzustellen vermöge. Immer wieder
wird betont, dass Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung von
Anfang an Unterstützung bräuchten, da sie die Diagnose als Trauma
erleben. Das berge die Gefahr, dass die emotionalen Anliegen des
Kindes durch die Eltern nicht adäquat bedient werden können.
Menschen mit geistiger Behinderung werden, durch die unverarbeitete
Trauer ihrer Eltern, in einer Art Außenseiterposition fixiert, die
ihnen keine Einflussnahme auf ihr eigenes Leben erlaube.
Aber auch der Personenkreis selber ist traumatisiert, bzw. hat eine
zweifache traumatische Erfahrung zu verarbeiten. Einerseits müssen
Menschen mit Behinderung sich mit den Einschränkungen, die sich aus
der eigenen Behinderung ergeben, auseinandersetzen, andererseits
müssen sie den Schmerz erkennen, den ihnen von Bezugspersonen und
Gesellschaft gespiegelt wird. Das erschwere die Integration eines
positiven Körperbildes, was sich auf die Identitätsentwicklung
auswirke. Die Benennung der eigenen Gefühle und Vorstellungen werde
deutlich erschwert, wenn die empathischen Fähigkeiten der Mutter
unzureichend seien. Das Kind lernt, seine eigenen Affekte als
gefährlich einzustufen, da sie direkt von der Bezugsperson
übernommen und ungefiltert zurückgegeben werden. Das Selbsterleben
des Kindes erfahre eine überhöhte Anpassung an die Vorstellungen
und Empfindungen der Bezugspersonen. Menschen mit geistiger
Behinderung besitzen aufgrund ihres Selbsterlebens oftmals das
Gefühl eine gewaltige Zerstörung angerichtet zu haben.
Die Psychoanalyse sieht die Ablösung von der elterlichen Autorität
als erforderlichen und leidvollen Entwicklungsschritt an. Das bei
den Eltern mit einer narzisstischen Kränkung einhergehende Trauma
der geistigen Behinderung, führe jedoch nicht selten zu einer
Überbehütung des Kindes. Die Infantilisierung des Kindes mit
geistiger Behinderung stärkt zwar einerseits das Gefühl des
Verbundenseins, andererseits blockiert sie die psychosexuelle und
emotionale Entwicklung und somit auch die Autonomiebestrebungen.
Das zeigt auch die Feststellung, dass mehr als 50% aller Menschen
mit geistiger Behinderung im Erwachsenenalter noch in ihren
Ursprungsfamilien leben. Findet keine Ablösung von den infantilen
Objekten statt, könne auch keine Hinwendung zu neuen Liebesobjekten
erfolgen.
Wichtig scheint auch das Auflösen des ödipalen Konfliktes für eine
spätere Beziehungsfähigkeit zu sein. Ungelöste ödipale Konflikte
äußern sich bei Frauen in der Unfähigkeit, sich an einer
befriedigenden Beziehung zu erfreuen oder diese bestehen zu lassen.
Bei Männern treten nicht selten Gefühle der Minderwertigkeit in der
Beziehung zu ihrer Partnerin auf, sowie eine Verdrängung sexueller
Wünsche. Der Ödipuskonflikt gilt also aus psychoanalytischer Sicht
als entscheidend für die Entwicklung der Liebes- und
Beziehungsfähigkeit.
Partnerschaft dient in unserer Gesellschaft der Ablösung vom
Elternhaus, hat Einfluss auf die Lebensqualität und trägt
entscheidend zur Zufriedenheit von Menschen bei. Beim Personenkreis
wird beobachtet, dass dadurch aggressives und depressives Verhalten
abnimmt, was mit dem Erleben des Gefühls von Zuwendung und dem
geachtet und geliebt werden zusammenhänge. Erschwerend kommen
jedoch unrealistische Wünsche hinzu, wie eine Beziehung zu einer
nicht behinderten Person, oder der Beziehung mit einer
professionellen Bezugsperson, oder eben obgenannte
Infantilisierung. Als Paar eine eigene Identität zu entwickeln,
werde letztlich nur möglich sein, wenn Raum dafür gegeben werde,
und wenn diese beiden Menschen in ihrem Lebensfeld akzeptiert und
unterstützt werden, schreibt Bender. Vor allem Paarbegleitung
scheint wichtig, denn auf schnelle Zusammenschlüsse erfolgten nicht
selten eine ebenso schnelle Trennung.
Das vierte Kapitel ist sozusagen der praktische Teil des Buches. Es
werden die spezifischen Bedingungen einer Partnerschaft zwischen
Menschen mit geistiger Behinderung thematisiert, und es wird ein
Erklärungsansatz aus psychoanalytischer Perspektive angeboten, der
die Übertragung frühkindlicher Konflikte auf erwachsene
Paarbeziehungen in den Fokus der Betrachtung rückt. In den Jahren
2006 bis 2009 wurde dafür die Partnervermittlung Schatzkiste für
Menschen mit geistiger Behinderung wissenschaftlich begleitet, als
eine Form von Handlungs- und Feldforschung. Menschen mit geistiger
Behinderung unterliegen in der Regel einer eingeschränkten
Mobilität, das heißt, dass die Kontaktaufnahme sich auf Schule,
Arbeitsplatz oder Wohngruppe beschränkt. Umso wichtiger sind
Angebote, wie Singleanlässe oder Partnerschaftsvermittlung.
»Endlich kann ich mal mit jemandem über all das reden«, ist bei der
Aufnahme in die Kartei ein vielgehörter Satz und zeigt, wie sehr
Menschen mit Behinderung mit diesem Themen allein gelassen werden.
Im Rahmen des Projekts kam ein vielversprechendes Assistenz-, bzw.
Coachingmodell zum Einsatz. Beispielsweise bei der Kontaktaufnahme,
zum Austausch der Kontaktdaten, oder als emotionale Unterstützung
nach einer Ablehnung an der Singleparty.
Auch die Wichtigkeit von adäquater Erwachsenenbildung diese Themen
betreffend wird angesprochen. Die Hoffnung nach Anerkennung der
eigenen Person als erwachsener Mensch, wurde dabei von drei
Vierteln der TN ausgesprochen.
Im letzten Teil des Kapitels wird die Paarbegleitung als weiteres
Element der Unterstützung beschrieben. Dies in Form von vier
Fallstudien aus der Partnervermittlung. Diese beschreiben eine
kontinuierliche Beziehungsarbeit im Zeitraum des
Forschungsprojektes und sind jeweils gegliedert in Darstellungen
und Interpretationen. Deutlich wird in allen Fallbeispielen die
Wichtigkeit, dass alle Beteiligten am selben Strick ziehen, sonst
ist die Verwirrung größer als der Nutzen und nächste
Beziehungsschritte können von der Klientin oder dem Klienten nicht
getan werden. Und insgesamt wird sichtbar wie überfordert viele
professionell Begleitende und Eltern mit der Thematik sind.
Diskussion
Vom Thema her ein äußerst wichtiges Buch. Dass es als Doktorarbeit
geschrieben wurde, scheint mir der Schwachpunkt der Publikation zu
sein; es ist eine Dissertation und nicht wirklich ein gut lesbares
Sachbuch. Schade, dass es nicht umgeschrieben wurde, denn das Thema
bietet sich geradezu an, einer breiten Öffentlichkeit von
professionell Begleitenden, sowie Eltern in gut lesbarer Form
vorgelegt zu werden. So scheint sich das Zielpublikum leider eher
auf psychoanalytisch Arbeitende zu beschränken. Schade, denn
Menschen mit Behinderung werden meiner Erfahrung nach mit der
Thematik in den meisten Fällen allein gelassen.
Mir scheint gerade das im Projekt beschriebene Angebot von
Paarbegleitung äußerst wichtig zu sein. Die Zeit ist jedoch noch
nicht ganz reif dafür. Im Alltag scheitert das meiner Erfahrung
nach, (vorläufig!?) aufgrund von daraus entstehenden Kosten,
fehlenden personellen Ressourcen, diffusen Ängsten, fehlendem
Wissen und fehlender Eigenreflexion vieler professioneller
Begleiterinnen und Begleiter. Umso mehr müsste ein Buch mit diesem
Inhalt breiter gestreut werden, damit Bewusstheit entstehen
kann.
Interessant und richtig finde ich den Ansatz, mit den
psychosexuellen Phasen zu arbeiten. Ich persönlich finde jedoch,
dass man die auch auf neuere Modelle von psychosexuellen
Reifestufen ausdehnen könnte. Es würde noch etwas vollständiger,
sowie die Möglichkeit des somatischen Lernens eröffnen, was im rein
psychoanalytischen Modell kaum zur Anwendung kommt. Eine Art des
Lernens, die sich auch für den Personenkreis anbietet, denn damit
kann frühkindlich Vermisstes sozusagen »nachgenährt« und integriert
werden.
Damit kommen wir zum Thema Sexualbegleitung, das auch in der
vorliegenden Publikation kritisch besprochen wird. Gerade diese
Arbeit, kann somatisches Lernen anstoßen, wenn sie mir der
notwendigen Achtsamkeit, dem notwendigen Wissen, mit Mitgefühl für
die Situation und Geschichte von Menschen mit Behinderung, etc. und
selbstverständlich von selbstregulierten Menschen ausgeübt wird.
Leider hat noch kein Autor, keine Autorin, offensichtlich auch
Svenja Bender nicht, je selber einige solche Sitzungen in Anspruch
genommen. Die Beurteilungen basieren also nur auf der eigenen
Vorstellung darüber, was diese Arbeit beinhaltet und mit welcher
Haltung sie ausgeführt wird.
Die Spannbreite des Angebots ist sehr groß, steht und fällt mit der
anbietenden Person, und reicht entsprechend von der sexuellen
Dienstleistung bis zum klar körpertherapeutischen Angebot. Eine
Gemeinsamkeit scheint sich jedoch herauszukristallisieren:
Sexualbegleitung wird zu einem großen Teil von Menschen angeboten,
die ein »Herz voller Liebe« haben und die bereit sind, diese Fülle
zu teilen, auch im professionellen Setting. Von Menschen, die
bereit sind, andere Menschen spüren und erfahren zu lassen, wie es
sich anfühlt, wenn sie geschätzt werden so wie sie sind, und
einfach sein dürfen. Durch diese liebende Haltung wird eine sichere
Bindung in der begleitenden oder therapeutischen Beziehung
hergestellt (wenn es dem Personenkreis möglich ist, das Angebot
eine zeitlang regelmäßig in Anspruch zu nehmen) Das hat heilende
Wirkung – wenn Genitalsexuelles und mütterlich/väterliches
Nachnähren im Setting nicht vermischt wird – gerade auch für
Menschen mit Behinderung, die noch viel mehr als Nichtbehinderte
diese Erfahrungen entbehren mussten und müssen.
Und zum Schluss: Ich persönlich stoße mich jedes Mal daran, wenn in
Publikationen mit einer Selbstverständlichkeit ausgesprochen wird,
dass Frauen in der männlichen Formulierung mitgemeint sind. Gerade
in einem Buch wie dem vorliegenden, wo es viel um die
Identitätsentwicklung, um das Selbstverständnis als Frau, als Mann
geht, passt das nicht wirklich hinein. Ich bin Frau; also Partnerin
und nicht Partner.
Fazit
Thematisch ein sehr wichtiges Buch. Und wer sich nicht scheut, sich
durch Dutzende von Zitierungen und Wiederholungen zu lesen, der
oder die kann viele Anstöße zum bessern Verständnis und zur
praktischen Arbeit zum Themenbereich mitnehmen.
Rezensentin
Marlise Santiago
Praxis für Körper, Beziehung, Sexualität
Homepage www.beraten-und-beruehren.ch
www.socialnet.de