Rezension zu Geschwisterdynamik

www.socialnet.de

Rezension von Rüsch Detlef

Hans Sohni: Geschwisterdynamik

Thema
Der in verschiedenen Disziplinen ausgesprochen »bewanderte« Autor Dr. med. Hans Sohni setzt sich hier intensiv mit den verschiedenen Aspekten der dynamischen Entwicklung von Geschwisterbeziehungen auseinander. Hierbei bezieht er sich sowohl auf die frühkindlichen Erfahrungen, die familiären und gesellschaftlichen Veränderungen als auch vor allem auf die Entwicklung in der Theoriebildung, in der Psychoanalyse sowie in der Psychotherapie. Familientheoretische und Präventionsansätze untersucht er eingehend und stellt den Geschwisterstatus als eigene Lebenserfahrung vor. In diesem Buch wird so beleuchtet, wie man seine bisherigen fachlichen Einschätzungen zur Bedeutung von Geschwistern erweitern, die oftmals gewohnte, elternbezogene und hierarchische Sichtweise verändern sowie den Blick stärker auf die horizontale Betrachtung von Familienprozessen lenken kann.

Autor
Dr. med. Hans Sohni ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychoanalyse sowie Psychoanalytiker und Familientherapeut. Neben seiner Tätigkeit als Dozent und Supervisor arbeitet er in eigener Praxis. Er leitete ein Ausbildungsinstitut für Paar- und Familientherapie. Zudem hat Hans Sohni insbesondere zum Thema Geschwister vielfach publiziert.

Entstehungshintergrund
Das vorliegende Fachbuch ist im Rahmen der Buchreihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie« des Psychosozial-Verlages erschienen. In dieser Reihe werden grundlegende Begriffe und Konzepte aus der Psychoanalyse intensiv beschrieben und ihre Bedeutung für die Therapie thematisiert. Dabei geht es vor allem darum, einen zentralen Begriff in seiner historischen Entwicklung nachzuzeichnen und diesen auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung zu erläutern. Dr. med. Hans Sohni thematisiert hier den Begriff »Geschwisterdynamik« und nutzt dabei sein ausgewiesenes Spezialwissen zur Beleuchtung der Geschwisterbeziehungen. Vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie heraus beleuchtet Sohni aus unterschiedlichen Perspektiven den Geschwisterstatus.

Aufbau
Das Buch ist nach einer kurzen Einleitung in zwei große Abschnitte untergliedert:
– Konzeptualisierung der Geschwisterbeziehungen
– Geschwisterdynamik in der Psychotherapie
Diese beiden Kapitel sind nicht noch einmal speziell untergliedert, sondern behandeln die einzelnen Themen, welche lediglich durch fettgedruckte Untertitelungen voneinander unterschieden werden, in fortlaufender Weise. Im ersten und längsten, eher theoriebezogenen Kapitel wird auf die frühe Psychoanalyse unter besonderer Hervorhebung der Geschwistererfahrungen von Sigmund Freud eingegangen. Danach wird die horizontale Beziehungsebene von Geschwistern beschrieben, ehe die Geschwister im Familiensystem an sich einen breiten Raum in den Ausführungen einnehmen. Den Abschluss des ersten Kapitels bildet dann der Blick auf die Geschwister als eine lebenslange Beziehungsentwicklung, die in der Adoleszenz und in späteren Lebensphasen eine besondere Bedeutung einnimmt. Im zweiten Kapitel geht der Autor ganz explizit auf die Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis ein. Hier wird auf die Geschwisterübertragungen Bezug genommen und es werden zwei Fallbeispiele unter besonderer Thematisierung von Rivalität und Eifersucht vorgestellt. Danach werden in kürzeren Abschnitten die Themen Geschwisterverlust, die Ungleichheit vor den Eltern sowie Gewalt und sexueller Missbrauch behandelt.

Die beiden großen Kapitel werden von einer Schlussbemerkung ergänzt, ehe ein sechsseitiges, sehr differenziertes Literaturverzeichnis das Buch abschließt.

Inhalte
Das Buch behandelt in differenzierter Form die unterschiedlichen Aspekte von Geschwisterlichkeit und lenkt zum einen den Blick auf die familiendynamischen Aspekte bei Geschwistern unter der besonderen Perspektive von »Horizontalisierung« der Beziehung. Andererseits vermag Hans Sohni auch die spezifischen Anforderungen an eine psychoanalytische und therapeutische Berücksichtigung der dynamischen Geschwisterbeziehungen zu formulieren.

Zu Beginn des Buches stellt Sohni einen Zusammenhang her zwischen hierarchischer, patriarchalischer gesellschaftlicher Strukturen und den damit verbundenen vertikalen Blick auf die Kinder. Bei Sigmund Freud seien es unter anderem auch biographische Erfahrungen mit seinen Geschwistern gewesen, die dazu geführt hätten, dass er bei seinem theoretischen Konzept die vertikale Eltern-Kind-Achse in den Vordergrund stellt, und die horizontale Betrachtung der Geschwistererfahrungen außen vor lässt.

Nach der Beschreibung der Bedeutung der Geschwister aus den Anfängen der Psychoanalyse und der Fokussierung des abendländisch-westlichen Denkens auf das autonome Selbst, zeigt Sohni wie eine »bisher fehlende ›Wir‹-Psychologie neben der Selbst-Psychologie … einen grundlegenden Wandel in unserer Weltsicht bedeuten« (S. 18) würde. Hier könnte das Zusammenspiel der Geschwister eine ganz neue Bedeutung gewinnen. So würden Geschwister in der psychoanalytischen Theorie erst in den 1980er Jahren Berücksichtigung finden.

Den Blick auf die Geschwisterebene lenkt Hans Sohni sodann auch in den weiteren Ausführungen, wo er mit klaren empirischen und praxisnahen Belegen viele Details benannt werden. So verbrächten Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren »… doppelt so viel Zeit mit ihren Brüdern und Schwestern wie mit der Mutter« (S. 25). So sei sich die Entwicklungspsychologie längst darüber einig, dass sich unter der Voraussetzung eines klaren Schutzes auf der Elternebene die wesentlichen Entwicklungsschritte auf dem »horizontalen Beziehungsfeld mit Gleichaltrigen und mit Geschwistern vollziehen« (S. 26).

Hans Sohni erläutert dann im Folgenden die Bedeutung von Fantasiegeschwistern, ehe er konkret auch mit statistischem Material aufwartet. Er zeigt auf, dass »weniger als die Hälfte der Kinder heute das 18. Lebensjahr in derselben Familie« (S. 37) erlebt und dass das faktische Geschwisterdasein nicht der alleinige Maßstab sein kann. Vielmehr müsse das Erleben von Geschwisterschaft in den Vordergrund gestellt werden: Wie erleben sich beispielsweise »Kinder in Pflege-, Adoptiv-, Fortsetzungsfamilien oder in multilokal lebenden Gemeinschaften« (S.37) ganz konkret?

Nach dieser mehr soziologischen Betrachtung befasst sich der Autor mehr mit der entwicklungspsychologischen Betrachtung der Geschwisterbeziehungen. Er geht konkret auf das Bild der »Entthronung« ein, welches stark von Alfred Adler geprägt wurde, sowie auf die Weiterentwicklung bei der Betrachtung der jeweiligen Geschwisterposition. Im Weiteren schafft es Hans Sohni explizit, den Punkt der Rivalität unter Geschwistern zu entdramatisieren und den gesunden Aspekt von Auseinandersetzungen zu betonen. Zudem erläutert Sohni, wie Geschwistererfahrungen auch nach der Ablösung von den Eltern fortwirken können. Außerdem geht er hier auch auf die eigenen Erfahrungen von Therapeuten/-innen mit Geschwistern sowie die Übertragung dieser Erfahrungen auf den therapeutischen Umgang ein.

Im zweiten, gut 40-seitigen Kapitel über die Geschwisterdynamik in der Psychotherapie appelliert Hans Sohni dazu, »die horizontale, geschwisterliche Dynamik aufzunehmen, die ›unbewussten Geschwister‹ in Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen wiederzubeleben und in deren Bearbeitung nutzbar zu machen« (S. 89). Hans Sohni greift hier unterschiedliche therapeutische Settings auf, bei denen die Beachtung der Geschwisterperspektive ausgesprochen wichtig sei. Außerdem sei es insbesondere in der therapeutischen Ausbildung wichtig, die Bedeutung der Geschwister stärker aufzugreifen. Zugleich sei es oftmals hilfreich, auch nach Geschwisterkonflikten der Eltern zu schauen und die kulturspezifischen Stellungen von Schwestern und Brüdern im Auge zu behalten.

Im letzten Teil dieses Kapitels bezieht Sohni Gewalt und sexuellen Missbrauch in seine familien- und geschwisterdynamischen Erläuterungen mit ein und zeigt exemplarisch an konkreten Fallbeispielen, wie »Unzulänglichkeiten« auf der Eltern- bzw. Paarebene ein unglaubliches »Ausmaß zerstörerischer Kräfte zwischen Geschwistern« (S. 129) zur Folge haben können. In seiner Schlussbemerkung macht Hans Sohni eine Quintessenz seines Buches und stellt noch einmal klar heraus, dass Geschwisterlichkeit nicht Harmonie bedeutet, sondern die Chance zum Üben des Austragens von Konflikten.

Diskussion
In diesem Buch gelingt es Hans Sohni, die besondere Bedeutung von Geschwistern sowohl im familiären Alltag, in der Familiengeschichte als auch im therapeutischen Setting und in der psychoanalytischen Entwicklung detailliert darzulegen. Vor allem Personen mit einem professionellen pädagogischen, therapeutischen oder wissenschaftlichen Hintergrund werden von den Darlegungen profitieren können und so manche neue Erkenntnisse gewinnen. Die Befassung mit dem Thema Geschwisterdynamik gelingt in diesem Buch vortrefflich. Das ausgewogene Verhältnis von konkreter Alltagsbeschreibung, fachlicher Beschreibungen und hieraus resultierender, praxisrelevanter Einschätzungen ist gelungen; wenngleich die Formulierungen stark psychoanalytisch geprägt sind und es für Personen, die mit der Sprache der Psychoanalyse nicht so vertraut sind, stellenweise etwas schwieriger sein dürfte, dem Text vollends zu folgen. Die einzelnen statistischen Daten hätten gut auch mit Graphiken oder Tabellen veranschaulicht werden können. Ein klareres Textlayout, ein Begriffsglossar sowie ein Stichwortverzeichnis hätten das Buch noch lesefreundlicher gemacht. Die soziologischen, therapeutischen und (entwicklungs-) psychologischen Gesichtspunkte sind durch die unterschiedlich langen Falldarstellungen konkreter geworden und wurden so besser verständlich.

Fazit
Ein insgesamt sehr beeindruckendes, auf einen ungeheuer breiten Erfahrungs- und Wissenstand aufgebautes Buch, das die Thematik Geschwisterdynamik in besonderer Weise darstellt und dabei auch schwierigere Aspekte nicht außen vor lässt. Bei der Lektüre wird nicht nur die Dynamik der Geschwisterschaft deutlich, sondern auch der dynamische Prozess in der psychoanalytischen Theoriebildung und in der (psycho-) therapeutischen Umsetzung. Das in dieser präzisen, fundierten, hintergründigen Art seltene Buch hilft dabei ausgesprochen gut, bisherige Theorie- und Praxiskonzepte zu überdenken und der Geschwisterthematik einen anderen, weiteren Raum zu schenken. Der appellative Charakter des Buches ist deutlich und zeugt von der jahrzehntelangen Erfahrung des Autors. Wer bereit ist, seine bisherigen fachlichen Einschätzungen zu erweitern, wird hier eine klare Hilfestellung erhalten, die oftmals gewohnte hierarchische Sichtweise zu verändern und den Blick mehr auf die horizontale Betrachtung von Familienprozessen zu lenken. Ein in keiner Weise gefälliges Fachbuch, sondern eine kritische Bestandsaufnahme zur bislang oftmals so vernachlässigten Perspektive der Geschwisterschaft in all seinen verschiedenartigen Ausformungen.

Rezensent
Dipl. Soz. Päd. Detlef Rüsch
Systemischer Familientherapeut
Jugendsozialpädagoge an einer Grund- und Hauptschule

www.socialnet.de

zurück zum Titel