Rezension zu Angst

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Rezension von Helmut Pauls

Anne Springer, Berhard Janta u.a. (Hrsg.): Angst

Thema
Der vorliegende Band enthält ein breites Spektrum ausgewählter Beiträge der Jahrestagung der DGPT im September 2010 in Lindau, die zum Thema Angst durchgeführt wurde.

Herausgeber und Herausgeberin
Die Herausgeber sind Psychoanalytiker und Mitglieder der DGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e.V.). Dipl.-Psych. Anne Springer ist in freier Praxis, als Lehranalytikerin und Dozentin tätig, Dr. med. Bernhard Janta ist Ärztlicher Direktor der Klinik Berleburg und stellvertretender Vorsitzender der DGPT, Dr. med. Dipl.-Psych. Karsten Münch ist in eigener Praxis tätig und war von 2001-2009 Vorsitzender der DGPT.

Entstehungshintergrund
Das Buch steht in der Reihe »Bibliothek der Psychoanalyse« (herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth), die sich als impulsgebendes Forum der Auseinandersetzung zur Entwicklung der Psychoanalyse mit einem breit gefächerten Anspruch versteht. Die Psychoanalyse soll hier sowohl mit ihren eigenen unterschiedlichen Strömungen in den Dialog treten als auch mit den Nachbarwissenschaften. Insofern sollen die Veröffentlichungen in dieser Buchreihe eine identitätsstiftende Funktion haben und Zersplitterungstendenzen in der Psychoanalyse entgegen wirken. Dabei sollen sowohl Fragen der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft behandelt werden (insbesondere auch unter Berücksichtigung der »Klassiker« der psychoanalytischen Theoriebildung), als auch ihre human- und kulturwissenschaftlichen sowie politischen Bezüge und ihre klinische Theorie und Praxis, welche sich insbesondere auch im Hinblick auf die Konkurrenzssituation zu benachbarten Psychotherapieverfahren zu profilieren hat (einschließlich Fragen der Erfolgskontrolle und des wissenschaftstheoretischen Status).

Aufbau
Das Buch ist in fünf Themenbereiche gegliedert, die entsprechend dem Entstehungshintergrund des Buches als Foren der Darstellung, Entwicklung und Diskussion fungieren und jeweils ein breites, teils sehr heterogenes Themenspektrum behandeln:

Teil I. Theorie und Klinik der Psychoanalyse;
Teil II. Psychoanalyse des Kindes- und Jugendalters / Kinderanalytisches Forum;
Teil III. Psychoanalyse und Forschung;
Teil IV. Kultur, Gesellschaft, Politik;
Teil V. Psychoanalyse als Organisation.

Inhalt
Die Artikel des äußerst vielfältigen Bandes – mit insgesamt zweiundvierzig (Co-)Autorinnen und Autoren – behandeln im Rahmen von in Umfang, Ausrichtung und wissenschaftlichem Anspruch recht heterogenen siebenundzwanzig Beiträgen das Thema »Angst« aus psychoanalytischer Perspektive. In den aus dem DGPT Jahreskongress 2010 ausgewählten Beiträgen geht es um theoretische, gesellschaftspolitische, kulturelle, klinische und empirisch-forschende Reflexionen und Studien. Die Themenwahl reflektiert auch die Offenheit der Psychoanalyse für ein gesellschaftlich hochaktuelles Bedürfnis, sind doch manifeste Angststörungen bei ca. 13 Prozent der Bevölkerung die zweithäufigste psychische Erkrankung (nach der Depression). Angst vor Versagen angesichts eines immer stärker werdenden Leistungsdrucks im beruflichen Kontext ist in vielfältiger Hinsicht ein gesellschaftlich bedingtes Phänomen.

In Teil I finden sich nach interessanten Ausführungen zur Angst und Angsterkrankungen in der Theoriegeschichte der Psychoanalyse theoretische Reflexionen zur Frage der Angst in der Gesellschaft in verschiedener Hinsicht: angesichts der »chronischen Krise« und des Terrors (Kogan), in religiösem Kontext (Moser) im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung (Krutzenbichler; Dittrich). Weiter geht es über die Rolle der Angst in der Gruppenbehandlung (Döring et al.) und im Rahmen der stationären Behandlung (Janta & Vandieken).

Wenn Angst ihre im Grunde konstruktive Funktion – im Sinne einer wichtigen Grundausstattung der Psyche als Warnung vor Gefahr – verliert und zu einer schweren, das Leben beeinträchtigende Erkrankung wird, kommt die klinische Seite der Psychoanalyse – in Diagnostik und Therapie – im vorliegenden Band ausführlich zu Wort. Interessant sind hier die Beiträge zur Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Adoleszenten im Rahmen des »Kinderanalytisches Forum« in Teil II. Hier finden sich Beiträge zur Diagnostik und Behandlung (»Leitlinie Angst«: »symptomorientiert und handlungsanweisend«, Hüller), eine Einführung in Logik, Methodik und Vorgehen einer laufenden empirischen Untersuchung zur Wirksamkeit psychoanalytischer Behandlung (»Hamburger Studie«, Wiegand-Grefe et al.) und abschließend – anhand einer ausführlichen und anschaulichen Falldokumentation der Behandlung einer Jugendlichen mit einer schweren Essstörung (Bulimia Nervosa) – eine Reflexion der Besonderheiten in Vorgehen und Beziehungsgestaltung bei der Behandlung schwer gestörter Jugendlicher und Adoleszenten (Sannwald).

In den Beiträgen zur Forschung (Teil III) geht es um Psychotherapieforschung, die sich heute auch in der Psychoanalyse an aktuellen empirisch-methodischen Standards orientiert. Die Sicht von Patienten auf ihre psychoanalytische Behandlung (Brähler et al.) ist dabei ebenso Thema wie zwei Beiträge zu konkreten psychoanalytischen Störungs- und Behandlungsmodellen von Angststörungen (Beutel und Hoffmann).

Teil IV handelt von der Angst in Kultur, Gesellschaft und Politik mit Beiträgen zur Rolle der Angst und ihrer Abwehr nach 1945 bei der Auseinandersetzung der Menschen mit dem Erbe des Dritten Reiches (Brockhaus), zur Anthropologie der Angst (Möhring), zur Rolle der Angst bei Schumpeter als einem der großen Theoretiker der Ökonomie und der Zusammenhänge mit seiner Theorie der »schöpferischen Zerstörung«, die hier kritisch als Teil der gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Krise diskutiert wird (Langendorf). In seinem Beitrag zur »Angst vor der Apokalypse« (Rost), plädiert der Autor nach eine kritischen Reflektion der Dynamiken vergangener großer Bedrohungen und Untergangsphantasien auch selbstkritisch für einen Perspektivenwechsel der psychoanalytischen Zunft, die sich allzu häufig nur als Mahner und Warner verstünden und dringend aufgerufen wären, eine »lebensbejahende und im Kern optimistische Position« (Rost, 277) einzunehmen, ohne allerdings »in die Vereinfachungen der humanistischen Psychoanalyse zu verfallen«. Der Beitrag von R.A. Lazar setzt sich mit »Angst« vor und in Organisationen auseinander. Nach einer Definition und Analyse der Vielfalt verschiedener Ängste in Organisationen stellt der Autor praktische Möglichkeiten des Umgangs mit der Angst vor und beschließt das Kapitel mit einem anregenden Fallbeispiel aus seiner Coaching-Praxis.

Der abschließende Teil V befasst sich mit Fragen der psychoanalytischen Aus- und Weiterbildung. Hier befassten sich die Foren mit Kontexten und Situationen, in denen auch bedingt durch Abhängigkeiten verschiedene Ängste eine Rolle spielen. Dies betrifft Konflikte im Umgang mit Kollegen und Kandidaten, auch Grenzverletzungen, Konflikte mit psychoanlytischen Instanzen – also auch ethisch relevante Themen (Kammerer-Pink & Tibone). Schließlich folgen teils recht konkrete Analysen der Aufgaben und Vorgehensweisen in der Supervision: zur Supervision und ihrer Dynamik (Szesödy), zum Zusammenhang zwischen Erlebens- und Lernprozessen in der Supervision (Nagell) sowie zur Konzeption psychoanalytischer Supervision (Kahl-Popp).

Diskussion
Es handelt sich um ein äußerst vielfältiges und heterogenes Werk. Eine detaillierte Diskussion der vielen Beiträge ist mir hier mit vertretbarem Aufwand nicht leistbar. Eine Reihe von grundlegenden Beiträgen erscheinen in theoretischer Hinsicht sehr interessant, sofern man sich für die Psychoanalyse und ihre Theoriegeschichte wie Theorieentwicklung interessiert. Die politischen und gesellschaftskritischen Beiträge habe ich teils mit großem Interesse gelesen, denn die psychoanalytische Perspektive vermag auch heute bedeutsame Tiefenstrukturen und Konfliktebenen zu thematisieren, die in der gesellschaftlichen Debatte oft zu kurz kommen. Dies betrifft Angst als ganz grundsätzliches Phänomen, das nüchtern und illusionslos auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden muss, einzuordnen ist, auch zu politischen Zwecken missbraucht werden kann und wird, das gerade auch die nüchterne Haltung und Kompetenz von professionellen Angstexpertinnen und -experten erfordert und nicht kurzsichtiges und pseudopolitisches Schüren gesellschaftlicher Ängste. Die Psychoanalyse ist das Paradigma, das immer schon die grundlegende Bedeutung der Angst und ihre oft verdeckte, unbewusste Rolle in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in Organisationen, in den gesellschaftlichen und individuellen Pathologien thematisiert hat. In manchen Beiträgen wird aber auch der »improvisierende« Anteil in diesem Band deutlich, der aus Protokollteilen der Diskussionen der Arbeitsgruppen der Lindauer Tagung erwächst. Hier gibt es viel Spekulation und weniger wissenschaftlich gesicherte Basis. Als Beispiel mag der Beitrag über Schumpeter gelten, in dem m.E. der zulässige Rahmen der Auseinandersetzung mit Theorien und auch gesellschaftlichen bzw. ökonomischen Entwicklungen überdehnt wird und als Exempel psychoanalytischer »Deuterei« gelten kann (s. Arbeitsgruppe: Sieg über die Angst durch »schöpferische Zerstörung«). Interessant ist, dass und wie in diesem Buch in verschiedenen Beiträgen auch die eigene Zunft in den Blick genommen wird, sowohl was die Rolle der Angst bei Psychoanalytikern selbst im Rahmen ihrer Behandlung anbelangt (Krutzenbichler zur »Angst des Psychoanalytikers, verdrängte Liebe zu befreien«), als auch in psychoanalytischen Institutionen und Ausbildungszusammenhängen. Die klinischen Beiträge bieten einen spannenden Einblick in das konkrete Behandlungsverständnis, das praktische Vorgehen vor theoretischem Hintergrund, therapeutische Beziehungsgestaltungen. Die methodischen Konzepte und Modelle zum Angstverständnis und zur Einordnung unterschiedlicher Ängste und ihrer Dynamiken sind ebenso lesenswert wie die Einblicke in Forschungsansätze und laufende Untersuchungen, mit denen die Psychoanalyse Anschluss an den Mainstream psychotherapeutischer Wirksamkeitsforschung sucht.

Fazit
Das Fachbuch richtet sich primär an bereits mit der Psychoanalyse stärker vertraute Leser und die Zunft der Psychoanalytiker selbst. Die Intentionen der Buchreihe, in denen die Schrift erschienen ist, werden durchaus erfüllt (s.o. Entstehungshintergrund). Insgesamt ist das Buch eine Fundgrube – wie es Tagungsbände sein können. Sofern man sich damit anfreunden kann, das Buch selektiv zu nutzen, bietet es auch für gesellschafts-, kultur- und politikwissenschaftlich interessierte Leser lesenswerte Beiträge und kann zu Kauf empfohlen werden.

Rezensent
Prof. Dr. Helmut Pauls

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