Rezension zu Perversion
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Rezension von Andreas G. Franke
Wolfgang Berner: Perversion
Wolfgang Berner berichtet im Rahmen der Reihe »Analyse der Psyche
und Psychotherapie« über den Begriff der Perversion, vermittelt
Kenntnisse aus psychoanalytischer Perspektive und ordnet den
Begriff in verschiedene Zusammenhänge aus anderen Perspektiven
(z.B. medizinische Diagnosemanuale) ein. Als Hauptanliegen
formuliert Berner, dass die psychoanalytische Herangehensweise bei
gewissen Fällen Hilfestellung leisten kann, dass in mancherorts
Veränderungen der bislang etablierten Therapien notwendig sind und
dass die Psychoanalyse beim Verständnis bestimmter Fälle sehr
hilfreich ist.
Autor
Prof. Dr. med. Wolfgang Berner wurde 1944 in Wien geboren und ist
Psychiater, Psychoanalytiker und Sexualwissenschaftler. Von 1995
bis 2010 leitete er das Institut für Sexualforschung und
Forensische Psychiatrie der Universitätsklinik Hamburg Eppendorf
(UKE). 1984 bis 1993 war er Vorsitzender der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung und seit 2010 Vorsitzender der
Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Hamburg.
Forschungsschwerpunkt waren Sexualstraftaten/-täter; er
veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel und
Fachbücher.
Entstehungshintergrund
Das Buch »Perversion« ist im Rahmen der Reihe »Analyse der Psyche
und Psychotherapie« im Psychosozial-Verlag erschienen. Die Reihe
beschäftigt sich mit grundlegenden Konzepten und Begrifflichkeiten
in der Psychoanalyse und stellt diese vor ihrem historischen
Hintergrund dar.
Aufbau und Inhalt
Zunächst widmet sich Wolfgang Berner in einer kurzen Einleitung der
Definition der Perversion und stellt diese in den Kontext zum
Begriff der »Paraphilie« nach DSM-IV-TR und der »Störung der
Sexualpräferenz« nach ICD-10. Darüber hinaus referiert er in diesem
Zusammenhang kurz auf Sigmund Freud und Richard von
Kraft-Ebing.
Im ersten Kapitel über die »Klassifikation in der Psychiatrie:
Störung der Sexualpräferenz oder Paraphilie« beschreibt der Autor
das Zustandekommen der Definitionen im DSM-IV und ICD-10, die sich
mit der Definition der Perversion durchaus nicht decken. In diesem
Zusammenhang weist er darauf hin, dass man sich definitorisch im
Spannungsfeld von »Norm«, »Normvariante« und Pathologie bewege und
illustriert dies anhand der Debatte um den Stellenwert der
Homosexualität. Während bei der Definition der Perversion »sexuelle
Erregungsmuster« und die Entbiologisierung von Sexualität mit
Fokussierung auf die Lust im Zentrum stehen, stünde bei den
Begriffen aus den medizinischen Diagnosemanualen die
»Beziehungsfeindlichkeit« und der (Straf-) Tatbestand im Fokus.
Im darauf folgenden Kapitel stellt Berner »Die ›Perversion‹ bei
Sigmund Freud« dar und bezieht sich dabei auf die diesbezüglichen
Hauptwerke von Freud, die drei »Abhandlungen zur Sexualtheorie« von
1905, bei denen die dauerhafte Abweichung vom Sexualziel der
Kohabitation im Zentrum steht. Bereits hier wird deutlich, dass
Freud die Homosexualität von der Perversion abgrenzt. Zur Ätiologie
gibt Berner an, dass gemäß Freud die aus oraler und analer Phase
stammenden Sexualbetätigungen überbetont werden und Ausdruck
gehemmter Tendenzen von infantilen Sexualäußerungen seien. In
späteren Jahren habe Freud die Perversion psychodynamisch definiert
und für ihre aktuelle Bedeutung für das Seelenleben betont. Auch
die Kastrationsangst benennt Berner, gibt aber an, dass Freud nicht
habe (er-) klären können, »warum für manche Männer der Anblick des
weiblichen Genitals etwas so massiv Erschreckendes habe, dass sie
zum Fetisch Zuflucht nehmen müsste, und für andere dieses ›Trauma‹
durchaus bewältigbar bleibe.«
Als nächstes widmet sich Wolfgang Berner weiteren
Erklärungsansätzen der Perversion und erläutert zunächst den Ansatz
Donald W. Winnicotts, der in der Perversion eher die longitudinal
pervertierte Bedeutung von Übergangsobjekten (z.B. Kuscheltier oder
Tuch) sehe, die ursprünglich dem Kind die Ablösung von der Mutter
erleichtere. Modernere Autoren würden eine gestörte
Mutter-Kind-Beziehung als ursächlich annehmen und das Objekt der
perversen Begierde als Pseudo-Übergangsobjekt (»as-if transitional
object«) ansehen. Als gemeinhin akzeptierteste Erklärung des
Zustandekommens einer Perversion gelte nach Robert J. Stoller die
Annahme einer erotischen Form des Hasses und die Umkehr einer
»Niederlage in der Kindheit in einen Triumph im Erwachsenenalter«.
Joyce McDougall sah in der Perversion eine kreative sexuelle Lösung
zur Triebabfuhr und schuf den Terminus der »Neosexualität«.
Schließlich sucht Berner nach im folgenden Kapitel »Eine
integrierte psychoanalytische Perversionsdefinition« und erklärt,
dass Perversionen verschiedene Funktionen erfüllen. Darüber hinaus
widmet sich der Autor biologischen Erklärungsmodellen und stellt
vor allem den suchtartigen Charakter von perversen Handlungen
heraus und nutzt hier den Terminus des »Craving« aus dem
Formenkreis der substanzgebundenen Abhängigkeiten. Berner merkt an,
dass Perversion durchaus zur Abwehr von Intimität und engem
Bindungsbedürfnis diene. Er illustriert die verschiedenen Aspekte
mit Tabellen, Schaubildern und schließlich mit anschaulichen
Fallgeschichten.
Ein Kapitel später illustriert der Autor »Erscheinungsformen der
Perversion« mit Fallgeschichten und referiert hier im einzelnen
Fetischismus, Sadomasochismus, Pädosexualität und Pädophilie,
Exhibitionismus, Pornografiekonsum und nimmt einen Exkurs in die
Perversion bei Frauen vor.
Das Kapitel »Unterschiede in Intensität und Verlauf« macht zunächst
die Rollen von Aggression, Internalisierung von Objektbeziehungen,
aktuellen Lebensereignissen und den suchtartigen, zwanghaften und
impulsiven Charakter von Perversionen deutlich. Zuerst beschreibt
Berner »Die Rolle des ›Analen Universums‹«, um sich dann der
Aggressivität unter Einbeziehung der Kleinianischen Schule zu
widmen. In diesem Kapitel arbeitet Wolfgang Berner die
verschiedenen Aspekte anhand der Lehren zahlreiche etablierter
Persönlichkeiten aus Psychoanalyse und angrenzenden Schulen
auf.
Schließlich zieht Wolfgang Berner »Konsequenzen für die
psychotherapeutische Arbeit« und weist zugleich auf die speziellen
Umstände der hauptsächlichen Klientel hin, der solcherlei
Therapie-»Angebote« gemacht werden (müssen): Straftäter. Zunächst
werden verhaltenstherapeutische Stilelemente genannt, um dann in
die psychoanalytische Therapie tiefer gehend einzusteigen. Hier
wird zuerst die Funktion der Perversion als Plombe für den
Zusammenhalt des Ichs deutlich, bevor sich der Autor den
therapeutischen Stilmitteln zum Entzug und schließlich Ersatz
dieser Plombe zuwendet. Auch hier arbeitet Berner u.a. mit
Fallgeschichten, schöpft aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz
und referiert auf zahlreiche der psychoanalytischen Therapie m.o.w.
nahe stehende Persönlichkeiten (z.B. Reed, Morgenthaler, etc.). Am
Schluss benennt der Autor »Deutung der Sexualisierung«, Erkennung
der Übertragung und Gegenübertragung«, »Erkennung der Spaltung«,
und »Durchbrechung des Suchtmusters« als zentrale »Prinzipien einer
psychoanalytischen Behandlung von Perversionen«, um direkt vor dem
letzten Kapitel, der »Schlussbemerkung«, noch die »Medikamentöse
Behandlung« anzureißen.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich genau wie die anderen Bücher dieser Reihe
sowohl an Studierende aber vor allem an ausgebildete
Psychotherapeuten aller Schulen und solche, die sich in der
Ausbildung befinden. Vorkenntnisse der psychoanalytischen
Nomenklatur und Zusammenhänge sind für die Lektüre von Vorteil.
Diskussion und Fazit
Wolfgang Berner schöpft sowohl aus seinem theoretischen
Kenntnisreichtum als auch aus seinem reichen psychoanalytischen
Erfahrungsschatz, um dem Leser Perversionen verständlich zu machen.
Darüber hinaus leistet er dem Leser eine kurze Hilfestellung, um
das Thema in einen interdisziplinären Kontext einzuordnen.
Sicherlich gäbe es noch viel mehr zu sagen, wobei der Autor sich
dem Format der Buchreihe entsprechend kurz hält, auf anschauliche
Fallgeschichten aber nicht verzichtet.
Rezensent
Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A., Arzt und Sozialwissenschaftler. Beschäftigt an den
Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel
(Switzerland)
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