Rezension zu Versuch über die moderne Seele Chinas
Psychologie Heute. 39. Jahrgang, Heft 4, April 2012
Rezension von Martina Bölck
»Psychoanalyse in China? Da habe ich meine Zweifel!«
Ein Gespräch mit der Psychoanalytikerin Antje Haag über die
Entwicklung der Psychotherapie im Land der Mitte
PSYCHOLOGIE HEUTE: Frau Haag, Sie haben sich 20 Jahre lang in China
engagiert. Was hat sich in dieser Zeit im Bereich der
Psychotherapie verändert?
ANTJE HAAG: Insgesamt waren Psychiatrie und Psychologie in China
junge Wissenschaften, die Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst
durch westliche Missionare und Wissenschaftler aufgebaut wurden. In
den 1950er Jahren gerieten sie ganz unter sowjetischen Einfluss
pawlowscher, also rein materialistischer, neurophysiologischer
Ausprägung. Während der Kulturrevolution wurden dann psychische
Störungen als Ausdruck falscher Ideologie verstanden. Die
Berufsgruppe der Psychiater war während der Maozeit schlecht
angesehen, Patienten mit psychischen Leiden wurden diskriminiert
und ausgegrenzt. Nach Beendigung der Kulturrevolution war aber
klar, dass es viel psychisches Leid gab, und da brauchte man
psychiatrische und psychotherapeutische Kompetenz. Ich glaube, es
gab 1988 im ganzen Land nur etwa 4 000 Psychiater und praktisch
keine Psychotherapeuten. Unser Projekt hatte somit eine historische
Bedeutung. Eine psychosoziale Versorgung der Bevölkerung wurde dann
langsam aufgebaut, auch mit Hilfe der Weltgesundheitsorganisation.
Das Ansehen der Kollegen und das Verständnis für seelische
Störungen hat sich ebenfalls verändert. In den großen Städten ist
es inzwischen sogar ganz fein, einen Psychotherapeuten zu haben. Es
gibt jetzt auch viele Fernsehsendungen und Hotlines, in denen
psychologische Probleme besprochen werden. Davon waren wir damals
weit entfernt.
PH: Waren Sie mit anderen psychischen Problemen konfrontiert als in
Deutschland?
HAAG: Ja, wobei sich die Krankheitsbilder mit der
gesellschaftlichen Entwicklung deutlich ändern. Beim ersten Mal kam
ich mir vor wie in den Uranfängen der Psychoanalyse. Es waren oft
Störungen aufgrund von nicht erfüllter Sexualität oder sexuellen
Fantasien, die nicht zugelassen wurden, wie bei uns in der
viktorianischen Zeit. Das gibt es jetzt auch noch, besonders bei
Menschen vom Land, aber das ist sicher zurückgegangen. Häufiger als
bei uns finden sich Zwangskrankheiten mit zum Teil ganz bizarren
Vorstellungen, die ich sonst gar nicht kenne. Zum Beispiel hatte
eine Frau die Sorge, dass die Deckenlampen auf sie fallen. Häufiger
sind auch soziale Phobien. Ich denke, diese Phobien hängen mit
einer generell größeren Schamanfälligkeit bei Chinesen zusammen. Es
gibt auch viele Menschen mit depressiven Erkrankungen. Auch
Essstörungen nehmen zu.
PH: Wie schätzen Sie die Möglichkeiten und Grenzen der
Psychoanalyse in China ein?
HAAG: Die Psychoanalyse hat den am stärksten individualisierenden
Ansatz aller Therapieschulen. Der Mensch wird als Subjekt in seiner
ganzen, ihm eigenen Lebensgeschichte betrachtet, die von seinen
unbewussten Wünschen und Ängsten bestimmt wird. Ich denke schon,
dass diese Aspekte universal sind, doch diese Wünsche und Ängste –
und ihre Abwehr – sind kulturell eingefärbt, die Konstruktion des
Selbst in Ost und West ist unterschiedlich. Die Psychoanalyse als
breites Behandlungsangebot in China? Da habe ich meine Zweifel. Bei
uns wird dem Patienten sehr viel Freiraum gelassen. In China
erwarten die Patienten von den Therapeuten Lebensrezepte, die die
Psychoanalyse nicht anbietet. Das ist eine ziemliche
Herausforderung. Man braucht auch eine innere Motivation, sich zu
ändern und sich mit sich selbst zu konfrontieren. Das ist in China
nicht so stark ausgebildet wie bei uns. Die Regulation des
Verhaltens kommt meist von außen, der Konformitätsdruck ist stärker
als bei uns. Grob gesagt, wäre das Behandlungsziel im Westen eine
stärkere Eigenständigkeit, insbesondere durch die Überwindung von
neurotischen Ängsten. Im traditionellen China wird dagegen die
Anpassung an die Gesellschaft und eine Unterordnung unter
Autoritäten angestrebt.
Antje Haag arbeitete als Psychoanalytikerin und Oberärztin an der
Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität
Hamburg. Sie war 20 Jahre lang als Lehrtherapeutin in einem
Ausbildungsprojekt der Deutsch-Chinesischen Akademie für
Psychotherapie (DCAP) engagiert und arbeitete an einem großen
Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie in Shanghai. Ihr Buch
»Versuch über die moderne Seele Chinas: Eindrücke einer
Psychoanalytikerin« ist 2011 im Psychosozial-Verlag erschienen.